| # taz.de -- Die Wahrheit: Abgesänge im stillen Meiler | |
| > Am Samstag werden die letzten drei Atomkraftwerke vom Netz genommen. Die | |
| > Wahrheit war im betonalten AKW Emsland. Ein erschütternder Bericht. | |
| Es ist nur ein kleiner Klick, dann hält Martin Stramm den abgebrochenen | |
| „Aus“-Schalter in der Hand. „Oha!“, ruft er: „Ein Störfall!“ Befre… | |
| Gelächter im Kontrollraum, Sektgläser klirren, es ist nur eine Zeremonie im | |
| kleinen Kreis. „Wurd halt nie gebraucht, der Schalter.“ Stramm bittet einen | |
| Techniker um eine Rohrzange. Ein paar ungeschickte Handgriffe und beherzte | |
| Tritte gegen das Schaltpult später ist das Atomzeitalter in Lingen zu Ende. | |
| Im Kontrollraum riecht es nach diesem typischen Achtziger-Jahre-Odeur: | |
| kalter Krieg und kalter Brüter. Die Konsolen und Wände sind in schickem | |
| Beige gehalten. „Das ist kein Rauch“, versichert Stramm. „Obwohl wir hier | |
| ja damals noch rauchen durften. Gute alte Zeit.“ Einziges modernes | |
| Accessoire ist ein kleiner Hausaltar mit frischen Plastikblumen vor dem | |
| Konterfei Christian Lindners. | |
| Die Unterbezirksleiterin der IG Bergbau, Chemie, Energie und der | |
| Bürgermeister von Lingen liegen sich schluchzend in den Armen. „Heute | |
| versinkt das Emsland wieder in der Bedeutungslosigkeit“, jammert der | |
| Politiker. „Wir haben doch sonst nichts, die Ems ist doch nicht mal ein | |
| anständiger Fluss!“ | |
| Wir bewegen uns durch den stillen Meiler. Auf den Gängen begegnen uns | |
| ehemalige Beschäftigte, die in Pappkartons ihre Habseligkeiten aus dem | |
| Kraftwerk tragen. Nicole Dubberke, eine rustikale Mittfünfzigerin und | |
| stellvertretende Sicherheitschefin, gestattet uns einen Blick: eine | |
| Winkekatze, eine Butterbrotdose, eine angebrochene Flasche Doppelkorn und | |
| mehrere leere. „Gucken Se nich so entgeistert! Keine Sorge, wir trinken | |
| hier nich uff Pegel. Wir nennen’s Grundlast.“ | |
| Wir deuten auf den Geigerzähler in ihrer Kiste. Ist der nicht | |
| Werkseigentum? Dubberke lacht: „Ach wat, mussten wir alles selber | |
| mitbringen. Eigeninitiative und Teamgeist!“ Sie senkt ihre Stimme: „Und den | |
| sollte besser kein TÜV in die Hand kriegen, der zählt vielleicht Geigen, | |
| aber sonst nüscht.“ | |
| Dubberke zwinkert verschwörerisch. „Oh, da fällt mir was ein …“ Sie hus… | |
| noch mal zurück in ihr Büro und zieht einen Ordner „Störfälle 2021-23“ … | |
| einem beigen Panzerschrank. Ein Ordner „Meldepflichtige Ereignisse“ steht | |
| auch dort. „Das sind bloß die offiziellen 171“, sagt Dubberke. Wir zählen | |
| weitere 16 „Störfälle“-Ordner. „Die andern sind schon leer, aber der hi… | |
| musste natürlich offen bleiben bis heute, muss ja alles seine Richtigkeit | |
| haben.“ Dann kritzelt sie „Abgebroch. Schalter i. Kontrollr., 15.4.23, | |
| 12:01“ auf die letzte Berichtsseite und zeichnet ab. Anschließend schiebt | |
| sie sämtliche Blätter aus dem Ordner in den Aktenvernichter. Der Schredder | |
| kämpft, es ist auch für ihn der allerletzte Tag. | |
| ## Erinnerungen aus Beton | |
| Auch andere lassen heute atomare Andenken mitgehen. Im Inneren des | |
| Kühlturms meißelt Mahmud Dogan aus der Frühschicht gerade ein paar | |
| Erinnerungsstücke aus dem Beton. „Wie damals die Mauerspechte! Die verkauf | |
| ich online!“ Als die Mauer fiel, war Dogan elf, da war das AKW schon am | |
| Netz. | |
| Viele der Belegschaft sind seitdem hier. Barbara Dinklake und ihr Mann | |
| Björn lernten sich 1991 beim Abdichten eines Lecks im Kühlkreislauf kennen. | |
| „Es war Liebe auf den ersten Blick“, erinnern sie sich. „Einmal gemeinsam | |
| verstrahlt, das schweißt zusammen. Das Kraftwerk ist unser Leben. Hier | |
| haben wir uns gefunden, hier wurden wir getraut, hier wurden auch unsere | |
| Kinder gezeugt, vielleicht.“ Barbara grinst ihren Mann an. Wie viele Kinder | |
| sie haben? „Ich sag immer zweieinhalb“, sagt Björn. „Eigentlich drei“, | |
| klärt Barbara auf. „Aber unser Lutz wurde ohne Beine, mit nur einer Niere | |
| geboren.“ | |
| Zu einer berührenden Szene kommt es draußen vor dem Reaktorblock. | |
| Friedemann Sinzig, Schichtführer Reaktorsicherheit, steht mit einem | |
| Vogelbauer im Gras. „Das ist Teilchen III“, stellt er uns einen | |
| Kanarienvogel vor. „‚III‘, weil er schon der Dritte ist. Schlaumeier nenn… | |
| ihn deshalb Gammateilchen. Er hat mich hier immer auf meinen Rundgängen | |
| begleitet. Er spürt Radioaktivität vor allen anderen!“ | |
| Schon sein Opa im Bergbau habe immer einen Vogel dabeigehabt. Nun lässt | |
| Sinzig seinen gefiederten Freund frei. „Mach’s gut, Kleiner“, haucht er u… | |
| öffnet die Käfigtür. Teilchen III faltet seine drei Flügel aus und flattert | |
| davon. Zum Glück stehen Friedemann Sinzig die Tränen in den Augen, so kann | |
| er nicht sehen, wie Teilchen gegen die Betonmauer des Reaktorturms trudelt | |
| und abstürzt. | |
| Am Abklingbecken ist es wunderbar still. Blau leuchtet das Wasser, nur | |
| etwas Plätschern ist zu hören. Wir staunen nicht schlecht, als wir einen | |
| Schwimmer mit roter RWE-Badekappe seine Bahnen ziehen sehen. „Das wollte | |
| ich immer schon mal machen“, seufzt der langjährige Kerntechniker Dirk | |
| Hoppenstedt, als er aus dem Becken steigt. „Wann, wenn nicht jetzt? Grad | |
| ist die Temperatur runter auf 38 Grad. Wenn erst die runtergerockten | |
| Brennstäbe hier reinkommen, wär beim Planschen Eierkochen angesagt.“ | |
| Aber ist das nicht verboten?, fragen wir entgeistert. „Klar. Aber was | |
| wollen die machen? Mich feuern?“ Er lacht bitter, hat seine Kündigung schon | |
| lang erhalten. „Mit den letzten Brennstäben drin ist das Abklingbecken dann | |
| voll wie ne nukleare Haubitze. Weiß der Himmel, wo die dann mit dem ganzen | |
| Schrott hinwollen. Aber das is jetzt endlich nich mehr mein Problem.“ | |
| ## Bademeister für Verstrahlte | |
| Nächste Woche fängt er beim Freibad Lingen als Bademeister an. „Ich liebe | |
| Wasser. Und Verstrahlte gibt’s da auch genug.“ Stolz zeigt er uns noch | |
| einen Castorbehälter in der Hallenecke. „Hat nen Riss, der kommt zu mir | |
| nach Hause, da bau ich mir ne Gartensauna rein!“ | |
| Zurück im Kontrollraum: Eine Dame im Businesskostüm stürmt auf uns zu: | |
| „Sylvia von Zitzewitz, Immobilienmaklerin. Ich habe mich mit Herrn Stramm | |
| gerade über die Nachnutzung dieser spannenden Immobilie unterhalten. Das | |
| werden wundervolle Lofts!“ Für den Pool könne man ordentlich Abstand | |
| verlangen. „Sagen Sie: Hat dieses AKW eigentlich einen Energieausweis?“ | |
| Stramm zuckt mit den Schultern, und die Maklerin rauscht geschäftig ab: | |
| „Gleich kommt die erste Gruppe zur Besichtigung.“ | |
| Gibt es Pläne für das Gelände? „Die Gemeinde wollte Windräder aufstellen�… | |
| erzählt Stramm. „Da haben wir natürlich widersprochen. Wegen des | |
| Diskoeffekts. Nicht auszudenken, so ne Mühle geht kaputt und ein Rotor | |
| fällt aufs Zwischenlager, das wär ein GAU! So viel zur angeblichen | |
| Sicherheit von Windkraft!“ | |
| Wehmütig schaut sich Stramm ein letztes Mal im Kontrollraum um. Seine | |
| Finger umspielen noch immer den abgebrochenen Aus-Schalter. „Ich glaub, den | |
| schick ich Robert Habeck zu, als Souvenir.“ Stramm seufzt. Dann verharrt er | |
| kurz vor der Christian-Lindner-Ikone. „Versager“, zischt er leise und bläst | |
| die Kerze aus. Zwei Faustschläge braucht es auf den Lichtschalter, dann ist | |
| auch die letzte Funzel gelöscht. | |
| 15 Apr 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Volker Surmann | |
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