# taz.de -- Nach dem Erdbeben in Marokko: Auf Zerstörung folgt Solidarität | |
> Die Dörfer im Atlasgebirge wurden besonders hart vom Erdbeben getroffen. | |
> Helfer bringen Medikamente, Decken, Lebensmittel und Räumgeräte. | |
Bild: Nur der Türrahmen ist von diesem Haus in Imi N'tala geblieben | |
ATLASGEBIRGE taz | Der erste Eindruck überrascht: Nur wenige Tage, nachdem | |
ein Jahrhunderterdbeben die Menschen in Todesangst aus den Häusern auf die | |
Straßen getrieben hatte, ist in die Touristenmetropole Marrakesch im | |
Südwesten Marokkos scheinbar das normale Leben zurückgekehrt. In der | |
Innenstadt sowie auf dem Djemaa el-Fna, dem berühmten Platz der | |
Geschichtenerzähler, sind nur vereinzelt Beschädigungen zu sehen. In der | |
ockerfarbenen Stadtmauer klaffen Risse. | |
Wer sich nicht in den armen, südlichen Teil der Medina verirrt, sieht im | |
Stadtbild kaum, dass sich hier, am Rand des Atlasgebirges, ein Unglück nie | |
gesehenen Ausmaßes abgespielt hat: [1][Ein Erdbeben der Stärke 7] hatte | |
Marokko in der vergangenen Woche am späten Freitagabend erschüttert. Das | |
Epizen-trum lag rund 70 Kilometer südwestlich von Marrakesch in der Provinz | |
Al-Haouz. Viele Dörfer in den umliegenden Bergen wurden dem Erdboden | |
gleichgemacht. Rund 3.000 Menschen sollen dabei gestorben sein. | |
Um den Weg in das Epizentrum des Bebens zu finden, folgt man einfach den | |
Fahrzeugen mit marokkanischen Flaggen auf der Motorhaube. Die Konvois | |
privater Wagen mit Medikamenten, Decken und Lebensmitteln kommen aus dem | |
ganzen Land. „Wir haben Anfang der Woche in Casablanca und Benslimane in | |
Supermärkten einen Spendenappell für die Erdbebenopfer gestartet“, sagt | |
Ahmed Dehy, ein Bauingenieur. Zusammen mit Freunden hat der 55-Jährige | |
mehrere Kleintransporter beladen und will sie im Dorf Ouirgane verteilen. | |
Der Weg in den etwa 50 Kilometer von Marrakesch entfernten | |
1.700-Einwohner-Ort führt an sauber geschnittenen Rasenflächen und Parks | |
vorbei. Reinigungsfirmen bereiten das für Oktober geplante Treffen der | |
Weltbank vor, das dieses Jahr in der Kongresshalle von Marrakesch | |
stattfinden soll. | |
## In Ouirgane zeigt sich eine ganz andere Welt | |
Bereits wenige Kilometer hinter dem Ortsausgang stehen auf den ersten | |
Anhöhen des Atlasgebirges Gruppen von Helfern vor eingestürzten Häusern. | |
Daneben spielen Kinder. | |
In Ouirgane zeigt sich dann eine ganz andere Welt als in Marrakesch. | |
Armeesoldaten und Helfer des Roten Halbmondes dirigieren ankommendes | |
schweres Räumgerät in Richtung eines Parkplatzes. Bewohner des Bergdorfes | |
stehen auf den Straßen und schauen auf die scheinbar endlose Schlange an | |
Bussen, Sattelschleppern und Privatwagen, die hohe Stapel an Matratzen auf | |
dem Dach transportieren. | |
Unter ihnen ist Ahmed Dehy. Er selbst stammt aus dem Dorf Benslimane. Auf | |
seinem Weg zu Fuß durch die verstaubten Straßen des oberhalb eines | |
idyllischen Stausees gelegenen Ortes sieht er links und rechts des Weges | |
nur Schutt. Mehrstöckige Gebäude sind wie Kartenhäuser zusammengefallen. | |
Retter haben bisher etwa 150 Menschen aus den Trümmern geborgen. | |
Am Ortsrand hat die marokkanische Armee ein Feldlager errichtet und | |
verteilt warmes Essen an die Bewohner. | |
## Das Beben macht ein Weiterleben dort unmöglich | |
Das Haus von Hussein Tdbella steht nur noch zum Teil. Vier Jahrzehnte lang | |
war es von seiner Familie aufgebaut worden. Wie es nun weitergehe, wisse er | |
nicht, sagt Tdbella beim gemeinsamen Gang mit dem Ingenieur Dehy durch das | |
Haus. Am Freitagabend vor einer Woche lag der 80-Jährige zusammen mit | |
seiner Frau Aisha im Bett. „Um 23 Uhr fiel plötzlich der Fernseher auf | |
unser Bett“, sagt er. Ein nicht identifizierbares Geräusch begleitete das | |
Beben, erzählt er. Allein die Erinnerung daran jage ihm immer noch Angst | |
ein. | |
Dehy rät der Familie, sich von allen Gebäuden im Dorf fernzuhalten. „Das | |
kleinste Nachbeben kann alles endgültig zum Einsturz bringen“, sagt er. | |
Später, als er seine Freunde wiedertrifft, die währenddessen Spenden im | |
Dorf verteilt haben, sagt er: „Mir war sofort klar, dass dieses Beben ein | |
Weiterleben hier unmöglich macht. Selbst die nicht zusammengestürzten | |
Häuser müssen abgerissen werden.“ | |
[2][Mindestens 100 Dörfer] sind wie Ouirgane vom Erdbeben größtenteils | |
zerstört worden. Im Halbstundentakt fliegen Militärhelikopter über die | |
Köpfe der Retter und immer noch geschockten Bewohner hinweg und bringen | |
Wasser in jene Orte, die nur mit Eseln und zu Fuß erreichbar sind. | |
## Es geht nicht mehr darum Verschüttete zu retten | |
Eine Gruppe Soldaten und Sanitäter kommt von einer Erkundungsmission aus | |
den Dörfern zurück. „Wir haben wegen der zerstörten Straßen noch immer | |
nicht alle Dörfer erreicht“, sagt ein Offizier. „Mittlerweile geht es nicht | |
mehr darum, Verschüttete zu retten, sondern den Überlenden alles zu | |
liefern, damit sie den bald kommenden Herbst und Winter überstehen.“ | |
Buschra Tbdalla, die Tochter von Aisha und Hussein Tbdalla, ist nach dem | |
Unglück aus Casa-blanca nach Ourigane zurückgekommen. Sie lebt wie viele | |
junge Marokkaner, die in der weitläufigen Landschaft des Atlas groß | |
geworden sind, mittlerweile in der Großstadt und arbeitet bei einer Bank. | |
„Das naturnahe Leben in den Dörfern des Atlas ist unsere Identität“, sagt | |
die 48-Jährige. Auch sie zweifelt an, ob ein Leben hier künftig überhaupt | |
noch möglich ist – „trotz der unglaublichen Hilfe, die meine Eltern und die | |
anderen Opfern erfahren“. | |
Auf der schmalen Straße durch Ouirgane schiebt sich eine Schlange aus | |
unterschiedlichsten Fahrzeugen, sie sind auf dem Weg in die rund 100 | |
weiteren von dem Beben betroffenen Dörfer. In einem der bis unter die Decke | |
beladenen Jeeps sitzen Noara Muhannid und ihre Freundinnen. | |
Muhannid ist Influencerin, ihren täglichen Instragram-Videos über Mode | |
folgen 800.000 junge Marokkaner. Nun hat sie eine der größten privaten | |
Hilfslieferungen auf die Beine gestellt. Auf einer großen Wiese bei | |
Ouirgane werden die Lebensmittel aus drei großen Lastwagen in Geländewagen | |
geladen. Die Fahrzeugkarawane zieht sich bis nach Tagardite el Bor und noch | |
weiter, dem nächsten Ort auf der Gebirgsstraße. | |
## „Das Beben hat die getroffen, die davor schon nichts hatten“ | |
Kaum ein Haus scheint hier beschädigt zu sein, wundert sich der Ingenieur | |
Ahmed Dehy. „Das Beben hat offenbar wie zufällig zugeschlagen. Aber vor | |
allem hat es diejenigen getroffen, die schon vorher nichts hatten.“ Das | |
sind vor allem diejenigen, die in den hoch gelegenen Bergdörfern leben. | |
So wie Abdel Abed, der in Tnirte zusieht, wie andere Dorfbewohner in den | |
Trümmern und Erdmassen nach Toten suchen. Als einer von ihnen müde wird, | |
löst er ihn ab. Abed arbeitet mit fast roboterhafter Energie. Seine Frau | |
ist am Tag zuvor tot aus den Felsen gezogen worden. Abed selbst wurde am | |
Samstag gerettet, wie ein Verwandter berichtet. | |
In der Nähe erhebt sich ein kleines Team spanischer Feuerwehrleute von | |
ihrem Mittagessen, um [3][bei der Suche zu helfen]. Sie haben die Spürhunde | |
nach Hause geschickt. Hunde können nur die Lebenden riechen, erklärt einer. | |
## Das Stadtbild in den Bergen wird sich ändern | |
Tnirte hat zwei Stadtzentren, die beide mit Trümmern übersät sind. Fast | |
jeder Bewohner des Ortes hat jemanden verloren. Entlang des Weges, der | |
beide Zentren Tnirtes miteinander verbindet, bringen junge Männer mit Eseln | |
Hilfsgüter von der Abgabestelle am Fuße des Hangs zu dem Ort, an dem Abed | |
oben arbeitet. | |
Abdel Ali, 22, führt seinen Esel den mit Trümmern übersäten Weg entlang, | |
der Geruch von Verwesung liegt in der Luft. Er reißt einen Zweig am | |
Wegesrand ab und klopft seinem Esel damit auf das Hinterteil, um ihn | |
voranzutreiben. „Mein Haus wurde zerstört“, erzählt er mit Hilfe eins | |
Übersetzers. „Mein Großvater und meine Tante wurden getötet.“ | |
Auch in Tnirte kommen allmählich die ersten Retter aus Casablanca und | |
Marrakesch an. Das Beben habe nicht nur Häuser zerstört, sagt ein Mann am | |
Steuer eines Allradfahrzeugs, es werde absehbar auch das Stadtbild in den | |
Bergen verändern: „Die jungen Leute werden nicht mehr in den Dörfern leben | |
wollen. Sie werden nach Marrakesch gehen und eine Ausbildung machen. Die | |
Berge werden nur noch eine Erinnerung an unser aller Heimat sein.“ | |
14 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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