| # taz.de -- Debütroman von Özge İnan: Revolutionsträume in der Türkei | |
| > In „Natürlich kann man hier nicht leben“ erzählt İnan von der Zeit um … | |
| > dritten türkischen Militärputsch. Besonders stark: die aufgeworfenen | |
| > Fragen. | |
| Bild: Die Autorin Özge İnan | |
| „Ob du’s glaubst oder nicht, es gibt schlimmere Schicksale, als | |
| Migrantenkind zu sein.“ Diesen Satz muss sich die 16-jährige Nilay von | |
| ihrem großen Bruder Emre anhören, nachdem sie ihm erzählt hat, dass sie von | |
| Berlin nach Istanbul will, um dort an den Gezi-Protesten teilzunehmen. Emre | |
| wird schnell klar, dass seine Schwester sich nicht nur nach einer neuen | |
| Türkei sehnt, sondern ebenso weg aus Deutschland: „Aber frag zehn Leute auf | |
| den Straßen von Istanbul, neun von ihnen würden sofort mit dir tauschen.“ | |
| Zwei von ihnen waren einst auch Nilays Eltern Hülya und Selim, die | |
| eigentlichen Hauptfiguren in Özge İnans Romandebüt „Natürlich kann man hi… | |
| nicht leben“. Sie haben guten Grund, an den Revolutionsträumen ihrer | |
| Tochter zu zweifeln. [1][Wir springen nun ins Jahr 1980, kurz vor dem | |
| dritten türkischen Militärputsch.] Auch Selim ist damals 16 und in einer | |
| Schülergruppe der Kommunistischen Partei in Izmir aktiv. | |
| Seit Monaten gibt es blutige Zusammenstöße – Gerüchte über ein Einschreit… | |
| der Armee spitzen sich zu. Am Abend des Putsches wird Selim beim | |
| Plakatekleben verhaftet, kommt aber rechtzeitig wieder frei, um in der | |
| Stadt die Panzer einrollen zu sehen. Sein Leben wird auf absehbare Zeit | |
| nicht einfacher werden. | |
| Ein Jahr später ist Hülya in der vierten Klasse, als ihr Vater verhaftet | |
| wird und für fünf Jahre ins Gefängnis kommt. Als er gerade wieder draußen | |
| ist, muss kurzzeitig auch Hülyas kurdischer Schwager hinter Gitter. | |
| Die Statistiken zum Ausnahmezustand infolge des Putsches sprechen für sich: | |
| [2][mehr als eine halbe Million Festnahmen, tausende Anklagen zur | |
| Todesstrafe, Hunderte gestorben unter Folter.] Verboten wurden Parteien, | |
| Vereine, Zeitungen et cetera. Immerhin 30.000 Menschen gelang die Flucht | |
| ins Ausland. | |
| Als Hülya und Selim sich 1990 in einer linken Hochschulgruppe kennenlernen, | |
| ist das Kriegsrecht zwar aufgehoben, aber die (kritische) politische Arbeit | |
| weiterhin fast unmöglich. Immer mehr ihrer Freunde denken ans Auswandern, | |
| so auch Selim. Die selbstbewusste Hülya sieht es etwas widersprüchlicher: | |
| „Natürlich kann man hier nicht leben. Aber deshalb haut man doch nicht | |
| einfach ab.“ Zumal auch das Leben in der Fremde keineswegs ein Kinderspiel | |
| ist. Wir ahnen schon, dass Hülya es am Ende nicht ganz freiwillig gewählt | |
| haben wird. | |
| Es gehört zu den erstaunlichen Seiten von İnans Roman, dass sie das Leben | |
| ihrer jungen Protagonisten trotz allem in scheinbarer Normalität schildert. | |
| Sie leben, lieben, arbeiten, studieren, gehen ins Café oder Kino und | |
| brennen für ihre Sache wie andere junge Menschen – nur dass sie eben | |
| regelmäßig ihre Zeit auch mit Polizeikontrollen, Schlägereien und | |
| Verhaftungen verbringen und froh sind, wenn sie dabei nur eine ordentliche | |
| Tracht Prügel kassieren. | |
| Gerade diesen Lebensmut, das entschlossene, auch ausgelassene Nutzen der | |
| engen Freiräume, die man hat, wollte İnan vermitteln, so verrät sie im | |
| Verlagsinterview. | |
| ## Humorvoller auktorialer Ton | |
| Die genau wie ihre Heldin Nilay 1997 in Berlin geborene Autorin, die auch | |
| als Journalistin arbeitet, erzählt zwar nicht die Geschichte ihrer Familie | |
| (İnans Vater floh bereits 1980 aus der Türkei), aber setzt die Geschichten, | |
| mit denen sie im Umfeld ihrer Eltern aufgewachsen ist, nun zu fiktiven | |
| Charakteren zusammen. Das gelingt ihr auf überzeugende, durchaus auch | |
| ergreifende Weise. Sie erzählt in einem meist ruhig-gelassenen, oft | |
| humorvollen auktorialen Ton, der frei ist von Stilexperimenten (wenn auch | |
| nicht ganz von Stilblüten). | |
| Die zunehmend großen Zeitsprünge Richtung Gegenwart bringen es mit sich, | |
| dass vieles nicht auserzählt wird, nur einige szenische Schlaglichter den | |
| Fortgang der Handlung beleuchten. Das lässt Raum für eigene Gedanken: Wie | |
| würde man selbst an Nilays Stelle handeln und empfinden? Was hätten ihre | |
| Eltern anders machen sollen oder können? Wo und wie genau kann man denn nun | |
| wirklich (nicht) leben? | |
| Es ist eine der großen Stärken des Romans, all diese Fragen aufzuwerfen, | |
| ohne dabei so zu tun, als könnte es für sie – umso mehr unter Bedingungen | |
| von politischer Unfreiheit – je eine eindeutige Antwort geben. | |
| 2 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tom Wohlfarth | |
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