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# taz.de -- Biennale in Istanbul: Das fünfte Element
> Das Kunstevent eröffnete in Istanbul unter dem Motto „The Seventh
> Continent“. Vielen Werken fehlt jedoch die Dringlichkeit.
Bild: Still aus Jonathas de Andrade: „The Fish“ (2016)
Ein riesiger runder Schlammberg, in dem seltsame Reste auftauchen: Ein
skelettierter Schädel, die Tonfigur eines schlafenden Menschen, Bruchstücke
von Fundamenten. Claudia Martínez Garays Arbeit „The Creator“ wirkt wie
eine verlassene Ausgrabungsstätte. Zu welcher untergegangenen Kultur
könnten diese Fundstücke gehört haben?
Das Gefühl von Dystopie, des Endes aller Zivilisation war allgegenwärtig
[1][auf der 16. Istanbul Biennale], die am Wochenende am Bosporus
eröffnete. Viele der 220 Kunstwerke von 56 internationalen KünstlerInnen
spielten mit der Frage, wie eine ferne Nachwelt auf eine Zivilisation
blicken würde, die zielstrebig auf den Abgrund zumarschiert.
„The Seventh Continent“ hat der französische Kurator und Philosoph Nicolas
Bourriaud, Mitbegründer des Pariser Palais de Tokyo, als Motto über seine
Biennale gestellt. Das belegt erneut den avantgardistischen Anspruch der
1987 gegründeten Istanbul-Biennale. Die 3,4 Millionen Quadratkilometer
große Fläche aus Plastikmüll im Pazifischen Ozean, die die Formel aufruft,
steht natürlich für das Menetekel des Anthropozän: [2][dem zu Tode
transformierten Planeten, der an seinem Müll erstickt.]
Dass sich die Kunst mit diesem Überlebensthema beschäftigt, ist mehr als
überfällig. Es ist daher ein paradigmatischer Vorgang, dass eine der
interessantesten Figuren der globalen Kunstwelt daran scheiterte, das in
dem Bild einer bleibenden Schau zu bündeln.
## Ein poetisches Monster
Wie auf jeder schlechten Biennale gibt es auch in Istanbul ein paar gute
Werke. In seinem Werk „Prospecting Ocean“ etwa dokumentiert der Fotograf
und Filmemacher Armin Linke die Ergebnisse einer Langzeitrecherche zur
Ausbeutung der Weltmeere und dem Widerstand von Öko-AktivistInnen genau in
dem Teil des Südpazifiks, in dem der „Siebte Kontinent“ treibt.
Das Feral Atlas Collective, eine Gruppe aus KünstlerInnen, Natur- und
GeisteswissenschaftlerInnen für „environmental storytelling“, dokumentiert
die ungeplanten Effekte großer Infrastrukturprojekte: Den zwei Jahre
währenden Ausbruch eines Schlammvulkans auf der indonesischen Insel Java
beispielsweise als Folge einer Gasbohrung – die einzige Arbeit, die konkret
auf den „Siebten Kontinent“ eingeht.
Zu den poetischen Arbeiten zählt das Monster, das die britische Künstlerin
Monster Chetwynd auf die Terrasse eines der verfallenen, von Bäumen
überwucherten Holzhäuser auf Büyükada, dem idyllischen Sommerrefugium der
Istanbuler im Marmarameer, gestellt hat: ein Flugdrache mit ausgebreiteten
Armen, halb Mensch, halb Tier – Sinnbild des heraufdämmernden Posthumanen.
Wie der Falke in dieser Novelle des voranschreitenden Anthropozäns
fungieren die „Kunstformen der Natur“ wie die Zeichnungen des deutschen
Naturforschers Ernst Haeckel aus dem 19. Jahrhundert: als pittoreske Notate
einer längst verlorenen Welt.
## Bisschen langweilig ist es schon
Zu den eindrucksvollsten Werken zählt die Arbeit des brasilianischen
Künstlers Jonathas de Andrade. In seinem Film „Der Fisch“ folgt er
brasilianischen Fischern bei ihren Fangzügen. Diese schlachten ihre Beute
nicht, sondern begleiten sie in den Tod.
Wenn einer der Männer einen riesigen Fisch vor der nackten Brust hält und
so lange streichelt, bis er aufhört zu atmen, ist das nicht nur ein
eindrucksvolles Bild für die Kommunikation zwischen inkommensurablen
Spezies, auf die Bourriaud bei der Biennale auch hinauswill. Es ist
außerdem ein bewegendes Bild für das fundamentale Dilemma unserer
planetaren Existenz: Einerseits auf die Natur zum eigenen Lebensunterhalt
angewiesen zu sein. Andererseits einen respektvollen Umgang, eine andere
Form des Austauschs mit ihr pflegen zu müssen.
Trotz positiver Ausnahmen kommt auf dieser Biennale dennoch nirgends ein
Gefühl der Dringlichkeit und des Noch-nie-Gesehenen auf. Zu oft verliert
Bourriaud den Fokus, streut Arbeiten in die Biennale, die mit seinem
Kernthema nichts zu tun haben. Dass die Schau zwei Wochen vor ihrer
Eröffnung Hals über Kopf die wichtigste Location wechseln musste, lässt
sich dagegen nicht ihm anlasten.
Auf Halic, der grandios verrotteten Schiffswerft des Osmanischen Reichs am
Goldenen Horn, hätte seine Biennale sicher ihren kongenialen Ort gefunden.
Zu den abgeschlossenen Kammern des neuen, noch nicht eröffneten
Kunstmuseums der Mimar-Sinan-Universität, in das er mit den Werken
ausweichen musste, weil auf der Werft Asbest gefunden wurde, schreiten die
Besucher nun freilich wie beim Krankenbesuch.
Es gibt keine Blickachsen, die Werke kommunizieren nicht. Diese
Isolieranstalt nimmt der Biennale jede ästhetische Durchschlagskraft.
Zudem vermisst man auf hier die Auseinandersetzung mit den Problemen vor
Ort. Die Bauwut in der Türkei ist praktiziertes Anthropozän: Von dem
zweiten Bosporus-Kanal, den Erdoğan zum Schwarzen Meer bauen lassen will,
über den gigantischen neuen Flughafen Istanbuls, für den Millionen Bäume
gefällt wurden, bis zu der Goldmine, die die kanadische Firma Alamos im
Ida-Gebirge vorantreiben will.
## Die Kunstblase Istanbul
Doch weder gibt es eine Arbeit, die sich damit befasst, noch hat Bourriaud
Öko-Initiativen in die Biennale einbezogen. Was bei dem Erfinder der
„Relationalen Ästhetik“ erstaunt. In seiner berühmten Schrift aus dem Jahr
1998 plädierte er für eine Kunst, der Aktionen solidarischen Miteinanders
wichtiger sind als die Produktion immer neuer, ästhetischer Hardware.
Trotz dieses Reinfalls gewinnt die Kunst am Bosporus. So offensiv und
geballt war sie seit dem missglückten Putsch 2016 und Erdoğans
nachfolgendem Feldzug gegen KünstlerInnen und Intellektuelle nicht mehr
aufgetreten. Die Biennale und die kommerzielle Kunstmesse Contemporary
Istanbul, sonst auf maximalen Abstand bedachte Gegenspieler, legten diesmal
ihre Termine zusammen. Demonstrativ beehrte Istanbuls neuer Bürgermeister
Ekrem İmamoğlu beide Events. Zeitgleich öffneten zwei neue private
Kunstmuseen.
Im Handwerker-Stadtteil Dolapdere konnte der Industriellenclan Koç mit
Arter endlich das Museum für seine Kunstsammlung eröffnen, das Direktor
Melih Fereli in seiner Eröffnungsrede als „Soft Power“ für Demokratie und
Meinungsfreiheit pries. Und in der anatolischen Provinzmetropole Eskişehir
übergab der Architekt und Bauunternehmer Erol Tabanca das Odunpazarı Museum
für Moderne Kunst (OMM) der Öffentlichkeit.
Wenn Tabanca sich von dem architektonischen Blickfang vollmundig einen
„Odunpazarı-Effekt“ verspricht, will er das Vorbild Bilbao im Baskenland
kopieren. Sein versöhnlerisches Motto: „Art is something, that softens all
harsh relations“ muss man nicht goutieren. Die Menschen in der
kunstentwöhnten Provinz mit ungewohnten Sehweisen herauszufordern, macht
aber womöglich mehr Sinn, als die Kunstblase Istanbul immer weiter
auszudehnen.
Der neuerliche Kunstboom in dem Land zwischen Europa und Asien zeigt
jedenfalls, dass im kulturellen Hegemonialkampf zwischen Islam und Moderne
in der Türkei die liberale Öffentlichkeit immer noch die Nase vorne hat.
## Sinnlicher als die Biennale-Werke
Das Arter-Kunstmuseum, ein gewaltiger Klotz aus Glas, Metall und Stein,
bauten die technoiden Londoner Architekten Grimshaw. Ausgerechnet Tabancas
kleineres Provinz-Museum ist aber ein gelungenes Beispiel dafür, wie die
Kunstwelt ökologische Imperative aufzunehmen imstande ist.
Der japanische Architekt Kengo Kuma hat ein Ensemble riesiger Holzkuben in
den historischen Ortskern gestellt, gebildet aus gestapelten Kantbalken aus
sibirischer Pinie – Tribut an die Tradition der Stadt als Holzmarkt und ein
Signal für Nachhaltigkeit.
Symbol für Tabancas ökologisches Signal ist die Auftragsarbeit des
japanischen Bambus-Künstlers Tanabe Chikuunsai IV. Vier der
ineinandergedrehten Stränge seiner riesigen Skulptur „Das fünfte Element“
symbolisieren die Elemente Wasser, Erde, Luft und Feuer.
Der fünfte Strang steht für den „humanen Faktor“, der alles verbindet. Die
Arbeit zeigt das Dilemma des Anthropozäns kunstvoller und sinnlicher als
viele der Biennale-Werke: Der Mensch kann die Zukunft des Planeten zum
Guten oder zum Schlechten wenden.
16 Sep 2019
## LINKS
[1] https://bienal.iksv.org/en
[2] https://gazete.taz.de/article/?article=!5624452
## AUTOREN
Ingo Arend
## TAGS
Biennale
Istanbul
Kulturpolitik
wochentaz
Bilder
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