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# taz.de -- Rechte und rassistische Gewalt: Die Lektion nicht gelernt
> Fünf Jahre nach den Ausschreitungen von Chemnitz warten Angegriffene auf
> den Prozessbeginn. Die Hälfte der Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.
Bild: Linke Demonstration in Chemnitz am fünften Jahrestag der schweren Aussch…
Der offene Schulterschluss zwischen Mandats- und Anzugträgern der AfD,
Neonazischlägertrupps und Rassist:innen aller Altersgruppen und Milieus,
der vor genau fünf Jahren auf den Straßen von Chemnitz sichtbar wurde,
hätte ein Weckruf sein müssen. Es hätte ein parlamentarischer
Untersuchungsausschuss eingesetzt werden müssen zur fünfjährigen Amtszeit
des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, [1][Hans-Georg
Maaßen], und den verlorenen Jahren im Kampf gegen neonazistischen Terror.
Es hätte verbesserten Schutz der rechtsstaatlichen Institutionen geben
müssen vor [2][Rassisten und AfD-Funktionären in den eigenen Reihen]. Es
hätte endlich ein humanitäres Bleiberecht für Betroffene rassistischer
Gewalt ohne festen Aufenthaltsstatus verankert werden müssen, auch um ein
Zeichen gegen die Täter:innen zu setzen. Und es hätte eine konsequente
Strafverfolgung geben müssen.
Zur Erinnerung: [3][Ende August, Anfang September 2018] verwandelten
Hunderte Neonazis, darunter auch der spätere Mörder von Walter Lübcke sowie
Mitglieder der Terrorgruppe „Revolution Chemnitz“, die Stadt in eine
Gefahrenzone für alle, die den Feindbildern der extremen Rechten
entsprechen. Zu den ersten bekannten Opfern gehörten mehrere Jugendliche of
Colour: ein 18-jähriger Syrer, ein gleichaltriger Afghane und dessen
15-jährige Freundin.
Handyaufnahmen zeigen, wie eine Gruppe von neonazistischen Hooligans die
beiden Männer und die Frau umstürmen, sie als „Kanaken“ und „Fotzen“
beschimpfen und auf sie einschlagen. Die Aufnahmen führten zu einem
bundespolitischen Beben und schließlich zum erzwungenen Rücktritt von
Maaßen. Am 7. September 2018 behauptete Maaßen gegenüber der Bild-Zeitung,
es lägen „keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche
Hetzjagden stattgefunden“ hätten.
## Kretschmer und Maaßen dementierten
Bei den Videoaufnahmen des Angriffs auf die beiden Afghanen handele es sich
um „eine gezielte Falschinformation“. Und Sachsens Ministerpräsident
Michael Kretschmer (CDU) sekundierte in einer Regierungserklärung: „Es gab
keinen Mob, es gab keine Hetzjagd, es gab keinen Pogrom in dieser Stadt.“
Diese offensichtlich politisch motivierten Beschönigungen blieben nicht
folgenlos. Knapp zwölf Monate später ermordet der Neonazi Stephan Ernst den
Kasseler Regierungspräsidenten [4][Walter Lübcke].
Der Entschluss zur Tat fiel erklärtermaßen auf der Rückfahrt von der
Demonstration in Chemnitz nach Hessen. Zwar hätte er mit Gesinnungsgenossen
schon vor dem September 2018 darüber gesprochen, dass man bei Lübcke mal
„vorbeifahren“ müsse. Nach dem Aufmarsch in Chemnitz „stand fest, dass w…
das machen“. Lübcke sollte „irgendwie bestraft“ werden für „die
Überfremdung“.
Auch auf die Strafverfolgung hatte die Verharmlosung erheblichen Einfluss.
Für den Zeitraum vom 26. August bis zum 14. September 2018 sind im Kontext
der Ereignisse in Chemnitz insgesamt 192 Ermittlungsverfahren eingeleitet
worden. Über die Hälfte der Verfahren wurde eingestellt. Dazu gehören auch
die Ermittlungsverfahren im Fall des Angriffs auf den 18-jährigen Afghanen
und den gleichaltrigen Syrer – obwohl Polizeibeamte die Identität der
Tatverdächtigen ermittelt hatten.
Bis heute nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden die
Neonazis, die am 1. September 2018 Jagd auf antifaschistische
Gegendemonstrant:innen machten. Sie verletzten mehrere Frauen und
Männer. Drei Jahre dauerte es allein bis zur Anklageerhebung gegen 19
polizeibekannte, überwiegend einschlägig vorbestrafte Neonazis. Zunächst
ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft.
## Verschleppte Verfahren
Erst nach fast drei Jahren wurde dann [5][Anklage] erhoben: gegen 19
Neonazis wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung. Zum 5.
Jahrestag des Angriffs warten die Verletzten noch immer auf einen
erstinstanzlichen Prozessbeginn. Die Angegriffenen fühlen sich vom
Rechtsstaat im Stich gelassen und zeigen sich überzeugt davon, dass eine
konsequente Verfolgung der Neonazis von Chemnitz den Mord an Walter Lübcke
möglicherweise hätte verhindern können.
Nur die angeklagten Neonazis profitieren von der langen Verfahrensdauer. So
wie auch im Fall des antisemitisch motivierten Angriffs eines Dutzends
Neonazis auf [6][das koschere Restaurant „Schalom“] am 27. August 2018 in
Chemnitz. Die vermummten Angreifer hatten unter anderem „Hau ab aus
Deutschland, du Judensau“ gerufen, den Besitzer des Restaurants verletzt
und eine Fensterscheibe zertrümmert.
Ein einziger von ihnen ist inzwischen rechtskräftig verurteilt worden: zu
einer zehnmonatigen Bewährungsstrafe. Vier weitere Ermittlungsverfahren
gegen organisierte Neonazis schleppen sich seit fünf Jahren hin. Zur
bedrückenden Bilanz fünf Jahre nach den Ausschreitungen von Chemnitz gehört
die Normalisierung von Rassismus und Antisemitismus im politischen Diskurs
bei steigenden Zustimmungswerten für die AfD.
Welchen Einfluss politische Diskurse auf die Zunahme rassistischer Gewalt
haben, hat [7][Rafaela M. Dancygier, Politologin von der Princeton
University], untersucht. Das Ergebnis ihrer Befragung unter 3.000
Deutschen: Ein Fünftel hält rassistische Hasskriminalität für legitim. 15
Prozent fanden rassistische Gewalt gegen Geflüchtete vertretbar, wenn
dadurch weniger Flüchtlinge im Ort angesiedelt würden und um „Politikern
klarzumachen, dass wir ein Flüchtlingsproblem haben“.
Im Unterschied zu den 1990er Jahren nehmen die Befürworter von
rassistischer Hasskriminalität jetzt mit der Wahl von besonders radikalen
AfD-Abgeordneten direkt Einfluss auf die Politik. Die Stigmatisierung, die
mit dem Flüchtlingsabwehrdiskurs einhergeht, so viel ist leider absehbar,
wird weiteren rassistischen Gewalttätern als Legitimation für Mord und
Totschlag dienen.
4 Sep 2023
## LINKS
[1] /Verfassungsschutz-will-Daten-zu-Ex-Chef/!5954280
[2] /Rechtsextreme-Symbole/!5952202
[3] /Ausschreitungen-in-Chemnitz/!5532054
[4] /Schwerpunkt-Mordfall-Walter-Luebcke/!t5600830
[5] /Nazi-Terrorgruppe-Revolution-Chemnitz/!5671458
[6] /Ausschreitungen-in-Chemnitz/!5534072
[7] https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2212757120
## AUTOREN
Heike Kleffner
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Opfer rechter Gewalt
Hans-Georg Maaßen
Sachsen
Rechtsradikalismus
GNS
Rechtsextremismus
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Hans-Georg Maaßen
Chemnitz
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