# taz.de -- Die Grünen in der Bundesregierung: Sie werden geschreddert | |
> Eine Kette von Demütigungen durch die Koalitionspartner lassen die Grünen | |
> über sich ergehen. Manche fühlen sich an rot-grüne Jahre erinnert. | |
Bild: Kanzler Schröder und Außenminister Fischer 2002: die rot-grünen Jahre,… | |
Ein Grüner in Leitungsfunktion, der auch schon ein paar Tage länger dabei | |
ist, bestätigte mir neulich einen dringenden Verdacht: Doch, genau, er habe | |
ständig Déjà-vus! Andauernd fühle er sich in die rot-grünen Jahre | |
zurückversetzt. Er versuche eigentlich, das zu verbergen – „schon allein, | |
um mich nicht so alt zu fühlen“, meinte er –, aber verdrängen könne er es | |
nicht. | |
Für die Jüngeren: Die rot-grünen Jahre, das war die Regierungsperiode 1998 | |
bis 2005 unter Kanzler Gerhard Schröder. Damals hatte ein Bündnis aus SPD | |
und Grünen eine seit Äonen regierende schwarz-gelbe Koalition abgelöst – | |
solch ein Schwung, solch ein Wille, die Dinge sozial und ökologisch zu | |
gestalten, war in der Luft! Also, war spürbar, oder sagen wir: wenigstens | |
unterstellbar. | |
Nur was dann folgte, war für die Grünen eine Kette von Demütigungen durch | |
den großen Koalitionspartner. Schröder drückte die | |
Unter-sieben-Prozent-Grünen schlicht an die Wand, sobald die Themen | |
abgehandelt waren, mit denen auch die SPD gesellschaftlich punkten konnte | |
(Staatsbürgerschaftsrecht, eingetragene Lebenspartnerschaften aka | |
„Homo-Ehe“, solche Dinge). | |
Allzu spät merkten die Grünen, wo und wie sie schon in den | |
Koalitionsverhandlungen über den Tisch gezogen worden waren. Viele Medien | |
spielten das Kanzler-Spiel mit und sortierten in gute Grüne (die sich | |
anpassten, Kategorie „[1][Fischer]“) und blöde Grüne (die irgendwie stur | |
waren, Kategorie „[2][Trittin]“) – und die Grünen taten das dummerweise | |
auch. | |
## Ins Wachkoma gequatscht | |
Langsam ahnen Sie, warum sich derzeit bei manchen Leuten ein | |
Wiedererkennungseffekt einstellt? Nun ist es aber interessant, wie die | |
Kanzleramts-Erzählung darüber lautet, warum die Grünen in der aktuellen | |
Regierungskonstellation so geschreddert werden. Diese Woche war | |
Gelegenheit, Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt dazu zu hören. Schmidt | |
ist Olaf Scholz’ Zweit-Hirn, ein witziger, beredter Mensch, so beredt, dass | |
er schon ganze Hintergrundrunden – das sind die, aus denen JournalistInnen | |
nichts zitieren dürfen – ins Wachkoma gequatscht hat. | |
Nur öffentlich redet Schmidt eigentlich nicht, öffentlich soll ja nur | |
Scholz selbst glänzen. Doch diesen Mittwoch saß Schmidt in einem Kino am | |
Berliner Kurfürstendamm zur Premiere eines Dokumentarfilms über die Ampel, | |
über den er dann auch sprechen sollte. Genau dafür war ein guter Teil des | |
journalistischen Publikums auch gekommen – „ich hab den ja noch nie | |
erlebt“, sagte die Kollegin im Nebensessel. | |
Schmidt erläuterte, wie sich die Lage der Ampel für ihn, also aus | |
Kanzleramtssicht darstellt: Man möge bitte bedenken, es handle sich um die | |
erste Drei-Parteien-Koalition der Bundesrepublik und die SPD sei gar nicht | |
mehr so groß, als dass der Kanzler die anderen beiden einfach mal zur Räson | |
rufen könne. | |
Bestenfalls Moderation sei möglich. Schmidts Botschaft übersetzt: Scholz | |
habe zwar im Prinzip immer alles unter Kontrolle, nur eben den | |
demokratischen Streit nicht, und wer sich ein schrödereskes „Basta“ – th… | |
were the days – herbeiwünsche, leide unter veralteten | |
Regierungsvorstellungen. | |
Es passte wohl nicht zur Gelegenheit, zu erwähnen, dass Scholz, möchte er | |
in zwei Jahren in derselben Konstellation weitermachen, sicherlich mehr für | |
die FDP als für die Grünen tun muss. | |
Die Grünen aber dürfen lernen, dass es egal ist, mit wie viel | |
Stimmenprozenten ein Kanzler oder auch sie ausgestattet sind – gegen sie | |
und ihre Ideen lässt es sich weiterhin am leichtesten mobilisieren, und | |
dann bleiben sie halt im Regen stehen. Und erneut dürfen sie sich zur | |
[3][Halbzeit einer Legislaturperiode] fragen, ob sie sich vielleicht doch | |
zu billig verkauft haben. | |
1 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Winkelmann | |
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