# taz.de -- Öl- und Chemieindustrie in Texas: Vergiftete Nachbarschaft | |
> Im US-Bundesstaat Texas boomt die petrochemische Industrie. Die armen | |
> Anwohner haben davon nichts, im Gegenteil: Oft erleiden sie | |
> Gesundheitsschäden. | |
PORT ARTHUR/GROVES/HOUSTON taz | An einem schwülen Sommermorgen geht die | |
Sonne über Port Arthur noch zaghaft auf, vom nahen Atlantik weht etwas | |
Meeresluft über die Stadt. Port Arthur liegt im Osten von Texas, dort, wo | |
der feste Boden des großen Bundesstaates langsam in die Sumpfgebiete des | |
anliegenden Louisianas übergeht. Die Gegend um die Kleinstadt ist heiß, | |
schwül und einzigartig: Hohe Tannen wachsen entlang sattgrüner | |
Sumpflandschaften, in denen Alligatoren und Pelikane leben. Auf den üppigen | |
Feldern der Gegend werden Reis und andere durstige Agrarerzeugnisse wie | |
Soja angebaut. In den Jahren vor dem US-amerikanischen Bürgerkrieg | |
(1861–1865) waren hier große Sklavenplantagen, noch heute leben in der | |
Region viele Menschen afroamerikanischer Abstammung. | |
Port Arthur gehört zu einer zerstückelten Metropolregion an der Küste, in | |
der sich heute die Wirtschaft ganz um Öl und Erdgas dreht. Seit der | |
Entdeckung eines großen Erdölvorkommens am Anfang des letzten Jahrhunderts | |
ist die Gegend ein Zentrum der Industrie. ExxonMobil, Total, Chevron | |
Phillips – sie alle unterhalten hier im Südosten des Bundesstaates | |
Raffinerien, in denen die Bodenschätze weiterverarbeitet werden. | |
Trotz der Klimakrise boomt die Industrie. Liquefied Natural Gas (LNG), | |
Kraftstoffe, Chemikalien und Produkte für die Plastikindustrie werden hier | |
produziert und über die nahen Großhäfen in die ganze Welt transportiert. | |
Die Emissionsstandards sind niedrig, die Bußgelder für Verstöße gegen | |
Auflagen der Umweltbehörden gering. Das hat fatale gesundheitliche Folgen | |
für die lokale Bevölkerung und das Klima. Auch Unternehmen aus Deutschland | |
profitieren von diesen Umständen. | |
John Beard ist in Port Arthur geboren und aufgewachsen und lebt bis heute | |
in der Stadt. Beard beschreibt sich als „Petrochemie-Arbeiter der zweiten | |
Generation“ und hat selber lange in verschiedenen Werken der Region für | |
ExxonMobil gearbeitet. Später saß er fast ein Jahrzehnt im Stadtrat seiner | |
Heimatstadt und ist bis heute in Port Arthur engagiert, unter anderem über | |
eine von ihm gegründete Organisation, die sich mit Klima, Gesundheit und | |
Gerechtigkeit befasst. „Das Leben in Port Arthur wird dadurch kompliziert, | |
dass es hier so unglaublich viele Quellen für Luftverschmutzung gibt“, sagt | |
Beard. „Es gibt die Valero-Raffinerie, die über die letzten sechs Jahre 500 | |
verschiedene Verstöße gegen die Emissionsgesetze hatte.“ | |
Die Raffinerie des gleichnamigen Konzerns kann fast 400.000 Barrel Öl pro | |
Tag verarbeiten. Dazu kommt das Werk der Firma Oxbow, in der Basisprodukte | |
für Aluminium produziert werden und welches Emissionen von rund 11.000 | |
Tonnen pro Jahr ausstößt. Dazu gehört auch das Giftgas Schwefeldioxid, das | |
für das Phänomen des sauren Regens verantwortlich ist. Gleich zwei | |
nennenswerte Quellen des Karzinogens Formaldehyd befinden sich in Port | |
Arthur: eine LNG-Anlage auf der anderen Seite des Sabine Lake sowie die | |
Firma German Pellets, die Brennstoffe aus den örtlichen Hölzern | |
produzieren. | |
„Sie holzen unsere wunderschönen texanischen Wälder ab, verarbeiten sie zu | |
Holzzellstoff und machen daraus diese Pellets in der Größe eines kleinen | |
Fingers“, sagt John Beard der taz. Dabei wird Formaldehyd zur Desinfektion | |
benutzt, das erwiesenermaßen hochgiftig ist. [1][Die einst in Deutschland | |
gegründete Firma wurde 2016 als Teil eines Insolvenzverfahrens zerschlagen] | |
und gehört heute einem Investmentfonds aus Litauen. | |
Besonders komplex ist die Lage in Port Arthur laut John Beard wegen der | |
vielen verschiedenen Werke und der Emissionen, die mit ihren jeweiligen | |
Produktionsprozessen zusammenhängen. „Die Total-Raffinerie alleine zählt zu | |
den größten Produzenten von Benzol in den USA, zusätzliche gibt es die | |
verschiedenen Quellen von Ethylenoxid, beides Stoffe, die nachweislich zu | |
Krebs führen können.“ Hinzu kommen laut Beard die unzähligen Bauprojekte, | |
die der Öl- und Gas-Boom in der Industriestadt losgetreten hat. Denn je | |
mehr Geld es zu verdienen gibt, desto mehr Werke werden in der Region | |
gebaut. „Es ist eine toxische Suppe, die wir hier einatmen müssen.“ | |
Diese toxische Suppe gefährdet die Gesundheit der lokalen Bevölkerung. Die | |
Krebsraten in und um Port Arthur liegen 11 Prozent über dem | |
US-amerikanischen Durchschnitt, hinzu kommen hohe Inzidenzraten von Herz-, | |
Lungen- und Nierenleiden. „Wenn sich jemand einen Fallschirm anzieht und | |
damit irgendwo in Port Arthur landet, kann er den nächstbesten Menschen | |
ansprechen, ob er jemanden kennt, der Krebs hat, und die Antwort wird | |
garantiert ein Ja sein“, sagt Beard erhitzt. | |
Der Aktivist erzählt anhand der Geschichte einer Bekannten, wie verbreitet | |
das Krankheitsbild ist. „Nehmen wir zum Beispiel Etta Ebert. Sie hat schon | |
mal Krebs überlebt und wurde jetzt wieder mit einer neuen Form | |
diagnostiziert. Ihr Ehemann war wegen Krebs lange im Hospiz und wiegt immer | |
noch weniger als 45 Kilogramm.“ Nicht nur Ebert und ihr Mann waren | |
betroffen. „Ihre Tochter hat Krebs überlebt, und ihr Bruder Eddie ist an | |
ihm gestorben.“ | |
Rund ein Viertel der Bevölkerung lebt in Port Arthur unter der | |
Armutsgrenze. Wer die schnurgeraden Straßen von Port Arthur entlang läuft, | |
der sieht aber nicht nur Armut, in Form von vielen baufälligen und | |
provisorisch reparierten Wohnhäusern, sondern eben auch die Türme und Tanks | |
der Öl- und Gasproduzenten, die sich hier niedergelassen haben. Ein großer | |
Teil der Innenstadt von Port Arthur ist durch den gigantischen Komplex der | |
Motiva-Raffinerie zerrissen, die größte in ganz Nordamerika. 630.000 Barrel | |
Erdöl kann die Anlage jeden Tag zu verschiedenen Kraftstoffen und | |
Basisprodukten für die Chemieindustrie verarbeiten. Schätzungsweise 20 | |
Millionen Barrel werden pro Tag in den USA verbraucht. | |
Laut der amerikanischen Umweltbehörde EPA liegt das durchschnittliche | |
Risiko für eine Krebserkrankung durch eine industrielle Ursache in den USA | |
bei 1 zu 30.000. Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie der | |
investigativen Organisation Pro Publica ist die [2][Quote für direkte | |
Anwohner der großen Werke in Port Arthur 1 zu 53] – und damit 190 Mal höher | |
als der Durchschnitt. John Beard und seine Organisation setzen sich für | |
umfangreiche Studien ein, um festlegen zu können, welche Werke in der Stadt | |
für konkrete Krankheitsbilder verantwortlich sind. Bisher ist nur klar, | |
dass diese in Port Arthur weit über dem landesweiten Durchschnitt liegen. | |
Die Kleinstadt Groves liegt nur wenige Autominuten von Port Arthur entfernt | |
und gehört ebenso zu der Industrieregion an der Küste. Im frühen | |
Morgenlicht funkelt das Metall der BASF Total Petrochemicals LLC, ein | |
gigantischer Industriekomplex, der zwischen Wohngebieten und dem Wasser | |
liegt. Der deutsche Konzern mit Sitz in Ludwigshafen produzierte während | |
des Ersten Weltkriegs Kriegswaffen, während des Nationalsozialismus war er | |
als Teil der IG Farben unter anderem für die Herstellung von Zyklon B | |
verantwortlich, dem in den Konzentrationslagern eingesetzten Giftgas. | |
Gruppen von Arbeitern passieren die hoch umzäunten Tore, dahinter stehen | |
Stahltanks und ragen hohe Schornsteine in den Himmel. Auf dem Gelände steht | |
auch ein sogenannter Ethane Cracker, der aus rohem Erdgas den Basisstoff | |
Ethen gewinnt, mit dem Tausende von Plastikprodukten produziert werden. | |
Verpackungen, Kleidungen, medizinische Produkte – sie alle entstehen auf | |
der Grundlage von petrochemischen Produkten, die hier an der Küste von | |
Texas hergestellt werden. | |
Courtney Bernhardt ist die wissenschaftliche Leiterin des Environmental | |
Impact Project, einer Nichtregierungsorganisation, die sich eng mit der | |
Arbeit der Öl- und Gasindustrie auseinandersetzt und deren Folgen für | |
Gesundheit und Umwelt erfasst. 1 bis 1.5 Tonnen CO2 produziert ein Ethane | |
Cracker wie der in Groves für jede Tonne Material, die sie herstellen, | |
schätzen Organisationen wie ihre. „Dazu kommen noch etliche andere | |
Schadstoffe. Es ist ein richtiger Giftcocktail“, sagt Bernhardt. | |
Das Werk in Groves ist nur eines von Dutzenden, das im Osten von Texas | |
kürzlich fertiggestellt wurde oder derzeit in Planung ist. Dass die | |
petrochemische Industrie heute so starken Wachstum verzeichnet, liegt | |
Courtney Bernhardt zufolge vor allem an der Verfügbarkeit des Rohstoffs: | |
„Der derzeitige Boom hängt auf jeden Fall an den großen Mengen an Erdgas, | |
die aus den Schieferformationen kommen.“ In Texas meint das vor allem das | |
Permbecken, ein großes Vorkommen im Nordwesten des Staates, das fast ein | |
Jahrhundert lang die USA und den Rest der Welt mit Treibstoff versorgte. | |
Mitte der nuller Jahre galt das Becken als versiegt, zu dicht war der | |
Schieferstein über dem verbleibenden Gas und Öl, um durch herkömmliche | |
Methoden erreicht zu werden. Dies änderte sich schlagartig mit der | |
Einführung von Fracking, das die Öl- und Gasförderung auf den Kopf stellte. | |
Selbst der dichte Schiefer kann der neuen Methode nicht widerstehen, heute | |
liefern die USA dank der kontroversen Technologie mehr Öl und Gas als je | |
zuvor. | |
Auch Deutschland befindet sich vermehrt unter den Abnehmern. In den meisten | |
EU-Staaten ist Fracking hingegen verboten, denn der Prozess kann das | |
Grundwasser verschmutzen und in extremen Fällen sogar zu Erdbeben führen. | |
Die petrochemische Industrie hat sich laut Courtney Bernhardt nicht aus | |
Zufall an der texanischen Küste angesiedelt: „Die meisten Firmen sind schon | |
hier, sie betreiben hier Raffinerien oder sind in der Nähe der | |
Exporthäfen“, sagt sie. Pipelines aus dem Permbecken reichen bis ans Meer, | |
wo das Öl und Gas weiterverarbeitet und verschifft werden. Außerdem sei das | |
politische Klima in Texas maßgeblich, so Bernhardt, denn der | |
[3][republikanisch] regierte Bundesstaat rühmt sich damit, besonders wenige | |
Auflagen für die Industrie durchzusetzen. Amerikanische Bundesstaaten haben | |
breite Befugnisse, ihre eigenen Emissionsstandards zu setzen, im Gegensatz | |
zu demokratisch regierten Staaten wie Kalifornien sind diese in Texas enorm | |
niedrig. | |
In Texas stoßen Öl- und Gasindustrie nämlich selten auf Widerstand gegen | |
die Umsetzung ihrer Vorhaben. Rund 24 Milliarden US-Dollar haben die | |
Konzerne alleine im letzten Jahr in Form von Steuern und anderen Geldern in | |
die Kasse des Staats gespült. 1,8 Milliarden Barrel wurden 2022 hier | |
gefördert. Die erhöhte Produktion hängt auch maßgeblich mit dem | |
europäischen Markt zusammen, der seit dem russischen Angriff auf die | |
Ukraine energisch nach neuen Lieferanten sucht. | |
An der Ausbeutung der Öl- und Gasvorkommen hängen in Texas Tausende von | |
Arbeitsplätze, ganze Landstriche sind von den Einkommen abhängig, die auf | |
den Ölfeldern oder in den Raffinerien und Chemiewerken gezahlt werden. Für | |
eine von [4][Rechten dominierte Staatsregierung], in der viele die | |
Realitäten des Klimawandels bezweifeln, gibt es nur wenige Anreize, den | |
Konzernen das Geschäft zu vermiesen. | |
Diese Kulanz gegenüber der Industrie drückt sich in Texas auch durch die | |
laschen Auflagen der staatlichen Umweltbehörde aus. So dürfen zum Beispiel | |
die Betreiber von Bohrstellen im Bundesstaat ungenutztes Erdgas einfach | |
„ablüften“ und damit in die Atmosphäre entlassen: Da das billigere Erdgas | |
für manche Ölfirmen eher ein Nebenprodukt der Förderung ist, wird es so | |
schlichtweg entsorgt, ohne verbrannt oder genutzt zu werden. | |
Einer [5][Studie der Umweltorganisation Environmental Defense Fund zufolge] | |
könnte das Permbecken die größte Quelle für die Verschmutzung durch | |
[6][Methangas] weltweit sein, nur ein paar Gasfelder in Russland könnten | |
womöglich an die texanischen Werte herankommen. | |
Ähnlich locker geht der Bundesstaat mit den immensen Emissionen der | |
petrochemischen Industrie um. In Port Arthur allein gelten drei der | |
örtlichen Werke als „High Priority Violator“ für die Bundesbehörde EPA, … | |
verstoßen systematisch gegen die Emissionsgrenzen für Benzol und andere | |
krebserregende Stoffe. Da die dafür erhobenen Bußgelder relativ niedrig | |
sind, lohnt es sich für die Konzerne nicht, ihre Emissionen zu drosseln. | |
Die Firma German Pellets zum Beispiel wird nach einem aktuellen | |
Gerichtsurteil wohl nur knapp 12.000 US-Dollar Bußgeld für ein Feuer | |
bezahlen müssen, das 53 Tage lang nicht gelöscht werden konnte und Port | |
Arthur wochenlang in giftigen Rauch hüllte. | |
Während der jährlichen Hurrikan-Saison stoßen die Petrochemie-Werke entlang | |
der Küste ihr ungewolltes Material einfach ab. Eine Raffinerie in Old | |
Ocean, einem weiteren Küstenort, ließ im Jahr 2020 mehrere Hundert Kilo | |
Schwefeldioxid innerhalb von wenigen Stunden ab, um sich auf den nahenden | |
Sturm „Laura“ vorzubereiten. | |
Nicht nur die gesundheitlichen Folgen der Industrie beschäftigen John Beard | |
aus Port Arthur. Trotz der Profite in Milliardenhöhe, die von Firmen wie | |
Exxon Mobil, Total und BASF jährlich erwirtschaftet werden, lebt der | |
Großteil der Bewohner von Port Arthur weiterhin in Armut. Beard beschreibt | |
den desolaten Zustand der Stadt: „Wir haben Probleme in der Höhe von | |
Millionen von Dollar“, sagt er. „Es ist eine alte Stadt mit immer | |
schlechterer Infrastruktur, von den Straßen bis hin zum Abwasser.“ | |
Als er selbst in den Werken arbeitete, wurde Beard über die potenziellen | |
Gefahren aufgeklärt, bekam ein gutes Gehalt und die notwendige | |
Schutzausrüstung für den Umgang mit Giftstoffen. „Aber für die Menschen, | |
die auf der anderen Seite des Zaunes leben, gibt es nichts davon“, sagt | |
Beard, und spricht damit über die Gemeinden, die knapp außerhalb der | |
Werksgelände liegen. „Warum müssen sie das ganze Risiko auf sich nehmen, | |
ohne davon zu profitieren?“ | |
Beard deutet auf den Rassismus, der den Industriestandorten zugrunde liegt. | |
„Die Menschen, die von diesen Industrien profitieren, sind in den meisten | |
Fällen keine People of Color“, sagt er der taz. „Doch sie bauen ihre | |
Industrien in unseren Gemeinden auf, weil sie hier nach eigener Aussage den | |
geringsten Widerstand erleben. Sie bauen diese Dinger nicht in Beverly | |
Hills oder auf der Madison Avenue, sondern sie bauen sie dort, wo die armen | |
Menschen sind.“ | |
In Groves steht die Sonne mittlerweile hoch im Himmel und hat den | |
morgendlichen Nebel fast gänzlich vertrieben. Das Werk der BASF Total | |
Petrochemicals, in dem Tonnenweise Ethen und andere Plastikprodukte | |
hergestellt werden, läuft auf Hochtouren. Über eine flackernde Stichflamme | |
werden Gas und andere Abfallprodukte abgebrannt, große Lkws passieren die | |
hohen Tore. „Ein paar Fotos vom Tor sind in Ordnung“, sagt die Person an | |
der Sicherheitskontrolle. Für Besucher ist das Werk allerdings nicht | |
geöffnet. | |
Zwischen dem Werk und dem nächsten Wohngebiet liegen nur wenige hundert | |
Meter. Ein hoher Maschendrahtzaun, ein leerer Parkplatz, dann beginnt schon | |
die Siedlung. Auf die Verschmutzung durch das Werk angesprochen, führt eine | |
Anwohnerin in ihren Garten und zeigt auf ein Vogelbad. „Jeden Morgen komme | |
ich hier raus und fülle frisches Wasser ein, und am Ende des Tages hat sich | |
hier ein dichter, schwarzer Film auf der Oberfläche gebildet“, erzählt sie | |
der taz. Die sportliche Frau um die 60 ist vor ein paar Jahren nach Groves | |
gezogen. „Ich hatte früher nie gesundheitliche Probleme, aber seit ich hier | |
wohne, brennen mir morgens oft die Augen und der Hals.“ | |
Die Frau beschreibt, wie sie nachts die hohen Stichflammen über dem | |
BASF-Total-Werk sehen kann und wie die Luftverschmutzung den Abendhimmel | |
einfärbt. „Sie töten uns hier auf Raten“, sagt sie mit einem resignierten | |
Lachen. Sie hat kein Problem damit, über die Probleme in Groves zu | |
sprechen, sagt sie, möchte aber trotzdem anonym bleiben. „Hier leben so | |
viele von der Industrie, da möchte ich nicht, dass jemand hört, dass ich | |
schlecht über die Werke geredet habe“, sagt sie. „Die brennen dir hier | |
sonst das Haus ab.“ | |
Dr. Anthony Rodriguez lehrt an der Texas Southern University in Houston, | |
der unangefochtenen Hauptstadt der texanischen Industrie. Rodriguez | |
beschäftigt sich unter anderem mit Stadtpolitik und dem sogenannten | |
„Zoning,“ dem Verfahren, nach dem in US-amerikanischen Städten bestimmt | |
wird, welche Art von Gewerbe und Häusern in welchen Gebieten stehen dürfen. | |
Houston ist dabei ein ganz besonderes Beispiel, erklärt Rodriguez, denn: | |
„In Houston haben wir überhaupt kein Zoning.“ | |
Eine Fahrt durch die Millionenstadt macht eindrücklich klar, was das | |
bedeutet. In Houston stehen Raffinerien und allerlei Industriewerke mitten | |
in Wohngegenden, mancherorts liegen zwischen den schillernden Hochhäusern | |
der Ölkonzerne und den Stichflammen der Werke nur wenige Kilometer. „In | |
Texas und besonders in Houston erlauben sie praktisch alles“, erklärt | |
Rodriguez im Interview mit der taz. „Das Problem ist, dass keine | |
Pufferzonen errichtet werden.“ | |
Selbst ein paar hundert Meter begrünte Flächen könnten helfen, die Gefahren | |
durch giftige Emissionen für Anwohnende zu reduzieren, sagt Rodriguez. | |
Derzeit gelten mehr als die Hälfte der Distrikte, die zur Region zwischen | |
Houston und Port Arthur zählen, als „non-attainment areas“ für die | |
nationale Umweltbehörde. Mit diesem Etikett versieht diese Gegenden, in | |
denen die Luftqualität unter dem Minimalstandard ist. | |
Dr. Rodriguez erzählt, dass der Kampf um höhere Emissionsstandards für ihn | |
auch persönlich ist. „Meine Ehefrau liegt wegen Krebs im Sterben“, erzählt | |
er. Rodriguez’ Ehefrau ist in Texas City aufgewachsen, einem Vorort von | |
Houston mit vielen Werken, in denen ihre Familie Arbeit gefunden hatte. | |
Rodriguez’ Ehefrau ist früher zur Arbeit zu Fuß gelaufen, erzählt er. „So | |
nahe haben wir daran gelebt.“ Dass seine Tochter mit einem Geburtsfehler | |
zur Welt gekommen ist und sein Sohn frühzeitig verstarb, ist für Rodriguez | |
zweifelsfrei eine Konsequenz der Luftverschmutzung durch Krebserreger und | |
andere Gifte. | |
Solange der Gasboom anhält und die Staatsregierung von Texas in den Händen | |
von Industrie-nahen Politikerinnen bleibt, wird sich strukturell wohl erst | |
mal nicht so viel an der texanischen Küste ändern. John Beard aus Port | |
Arthur glaubt, dass die Realitäten des Klimawandels und der ökologischen | |
Zerstörung früher oder später auch einen Wandel in der Staatspolitik | |
herbeiführen werden. „Sie müssen sich ändern“, sagt er. „Ob sie wollen… | |
nicht.“ | |
1 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Insolvenz-von-German-Pellets/!5297560 | |
[2] https://projects.propublica.org/toxmap/#hotspot/26 | |
[3] /US-Republikaner-im-Vorwahlkampf/!5951199 | |
[4] /Anti-Migrationspolitik-in-Texas/!5955714 | |
[5] https://www.edf.org/climate/methane-research-series-16-studies | |
[6] /Forschung-zu-Methan/!5901590 | |
## AUTOREN | |
Johannes Streeck | |
## TAGS | |
Ungerechtigkeit | |
BPoC | |
Texas | |
GNS | |
Erdöl | |
Umweltvergiftung | |
krebserregende Substanzen | |
Bodenschätze | |
Klimaklage | |
Annalena Baerbock | |
Los Angeles | |
vereinigte staaten von amerika | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kupfermine auf indigenem Land: Bodenschätze in heiliger Erde | |
Indigene kämpfen in Arizona gegen eine Kupfermine auf einer religiösen | |
Stätte. Das Metall wird vor allem für die Energiewende benötigt. | |
Klimaklage in den USA: Kalifornien verklagt Ölmultis | |
Der US-Bundesstaat wirft ihnen vor, bewusst Desinformation über fossile | |
Energien verbreitet zu haben. Aktivisten sprechen von Wendepunkt. | |
US-Reise von Annalena Baerbock: Kein Wertekompass in Texas | |
Die Bundesaußenministerin hätte sich nicht mit Gouverneur Abbott treffen | |
dürfen, meint Stefan Liebich, ehemaliges Mitglied der Linksfraktion. | |
50.000 Obdachlose in Los Angeles: Armselige Skyline | |
In der US-Metropole Los Angeles leben etwa 50.000 Menschen auf der Straße. | |
Bürgermeisterin Karen Bass will das ändern. Wie kann das gelingen? | |
US-Urteil zu Schwangerschaftsabbruch: Zuflucht in New Mexico | |
Ein Jahr nach dem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs sind die | |
Gesetze von Bundesstaat zu Bundesstaat sehr verschieden. | |
LGBTQI-Proteste in den USA: Versammelt im Kapitol | |
In Texas stellen sich nicht nur Aktivist:innen gegen die | |
queerfeindliche Politik der Republikaner. Diese fürchten, ihre Macht zu | |
verlieren. |