# taz.de -- Nazi-Pamphlet: Diese Recherche war nötig | |
> Im Zuge der Affäre um Hubert Aiwanger gibt es Kritik an der „Süddeutschen | |
> Zeitung“. Darf man in dieser Form über einen Skandal berichten? | |
Bild: Redet immer frei von der Leber weg: Hubert Aiwanger von den Freien Wähle… | |
Mit einer Recherche zu einem [1][antisemitischen Flugblatt], das beim | |
jungen Hubert Aiwanger gefunden wurde, hat die Süddeutsche Zeitung nicht | |
nur den bayerischen Landtagswahlkampf durcheinandergewirbelt. [2][Viele | |
Journalist*innen diskutieren] seit der Veröffentlichung der | |
entsprechenden Seite 3 in der SZ: Darf man in dieser Form über diesen | |
Skandal berichten? | |
Die kurze Antwort lautet: Ja, dafür gibt es Regeln. Die ausführliche | |
Antwort folgt in diesem Text. | |
Zunächst ist es wichtig zu klären, um was es geht: Sechs Wochen vor der | |
Landtagswahl in Bayern hat die SZ über einen Verdacht gegen den | |
stellvertretenden Ministerpräsidenten von den Freien Wählern berichtet. | |
Hubert Aiwanger wird zur Last gelegt, als 16-jähriger Gymnasiast mutmaßlich | |
ein antisemitisches Flugblatt geschrieben und an seiner Schule ausgelegt | |
zu haben. Aiwanger hat diesen Verdacht schriftlich zurückgewiesen. Nach der | |
Veröffentlichung in der SZ verfasste [3][sein Bruder Helmut ein | |
Bekennerschreiben]: Er habe das Flugblatt erstellt. | |
Es ist wichtig festzustellen, dass [4][Hubert Aiwanger auf Landes- und auf | |
Bundesebene ein einflussreicher Politiker ist]. Grundsätzlich haben | |
Wähler*innen ein Anrecht, den Werdegang ihres politischen Personals zu | |
kennen. Man kann sich nur eine fundierte Meinung über jemanden machen, wenn | |
man weiß, dass er*sie in jungen Jahren (keine) menschenfeindliche | |
Pamphlete mutmaßlich verfasst, verteilt, aufbewahrt oder schweigend | |
geduldet hat. Diese Recherche ist also journalistisch betrachtet nötig. | |
## Wie viel Storytelling braucht eine Recherche? | |
Der Medienjournalist Stefan Niggemeier hat auf dem Portal Übermedien einen | |
Text zur SZ-Berichterstattung in dieser Sache veröffentlicht. Seine Kritik | |
richtet sich an die SZ als Ganzes: „Vor allem die Seite-3-Geschichte (…) | |
ist problematisch, weil sie nicht nüchtern über die Vorwürfe berichtet, | |
sondern all jenen Munition gibt, die ihr unterstellen, eine Agenda zu | |
haben: Aiwanger kurz vor der Wahl wegzuschreiben. Es ist ein Text, dem jede | |
Distanz zu sich selbst fehlt.“ | |
Niggemeier seziert mehrere Stellen des SZ-Berichts, kritisiert dabei den | |
Ton des Texts. Man kann Niggemeiers Perspektive als Stilkritik verstehen. | |
Tatsächlich gibt es Textstellen, an denen die nötige Präzision fehlt. | |
So endet die Seite 3 in der SZ mit einer Rede der CSU-Landtagspräsidentin | |
Ilse Aigner. Sie sagte vor wenigen Wochen im Plenum: „Unsere Demokratie ist | |
echt, sie ist lebendig und keinesfalls formal. Wir müssen uns die | |
Demokratie auch nicht zurückholen.“ Im Plenum saß auch Hubert Aiwanger. Die | |
SZ schreibt direkt nach dem staatstragenden Zitat von Aigner folgenden | |
Satz: „Jeder wusste, wen sie meinte.“ Wer wiederum mit „jeder“ gemeint … | |
bleibt offen. Auf solche vage Sprachkonstruktionen hätte man verzichten | |
können, dem Text hätte dies gutgetan. | |
Wie viel [5][Storytelling] braucht es, um eine Recherche für Leser*innen | |
attraktiv zu machen? Niggemeier und andere argumentieren in Richtung: mehr | |
Nüchternheit. Man kann, solange alle Informationen stimmen und präzise | |
formuliert sind, journalistisch aber auch anderer Meinung sein. Es ist | |
durchaus angebracht, transparent zu machen, wo man als Autor*innenteam | |
steht. | |
## Guter Journalismus braucht Handwerk und Haltung | |
Beim Thema Antisemitismus, wie auch bei anderen Formen der | |
Menschenfeindlichkeit, kann man auch argumentieren, dass eine Ablehnung | |
dieser Menschenfeindlichkeit die Basis für guten Journalismus sein kann. | |
Jede Redaktion muss da für sich den Weg finden, eine vielfältige | |
Medienlandschaft erledigt den Rest. | |
Im Seite-3-Text der SZ wird vor allem der Recherche-Weg der Autor*innen | |
transparent nacherzählt: wie die SZ an das besagte Pamphlet kam, wie eine | |
Archivsuche in der alten Schule Aiwangers scheiterte, wie die | |
Rechercheur*innen nach einer alten Facharbeit Aiwangers suchten. | |
Am wichtigsten ist die transparente Methodik, mit der die | |
Journalist*innen ihre Berichterstattung untermauern: Ein von der SZ | |
engagierter Schriftexperte hat unabhängig das antisemitische Pamphlet und | |
die Facharbeit verglichen und ist zum Schluss gekommen, dass beide | |
Dokumente „sehr wahrscheinlich“ auf derselben Schreibmaschine verfasst | |
wurden. Das ist eine journalistische Leistung, die es anzuerkennen gilt. | |
Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis rechtskonservative, rechtsnationale | |
und rechtsextreme Medienhäuser Aiwanger in Schutz nahmen. Im Hause Springer | |
sieht man gar in der SZ-Recherche eine „Hexenjagd“, die NZZ macht aus der | |
Causa Aiwanger gar eine „Affäre der Süddeutschen Zeitung“. Doch eins liegt | |
nahe: Die Freunde von Hubert Aiwanger hätten aus diesem Skandal eine | |
„Hexenjagd“ gemacht, selbst wenn die SZ trockenst-nüchtern berichtet hätt… | |
28 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Antisemitismusvorwuerfe-gegen-Hubert-Aiwanger/!5956099 | |
[2] /Hubert-Aiwanger-und-das-Nazi-Pamphlet/!5952941 | |
[3] /Antisemitismus-und-Hubert-Aiwanger/!5956117 | |
[4] /Aiwanger-und-der-Populismus/!5941100 | |
[5] /Buch-ueber-Narrative/!5950448 | |
## AUTOREN | |
Mohamed Amjahid | |
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