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# taz.de -- Nonprofit-Journalismus als Chance: Unbequeme Wahrheiten aussprechen
> Der „alte“ Journalismus muss sich neu erfinden. Ein Plädoyer für mehr
> Gemeinwohlorientierung und gegen Reichweite um jeden Preis.
Bild: Ohne Journalismus zerbröselt die Gesellschaft
Was [1][Journalismus] soll, darf oder muss, wird in diesen Zeiten zur
demokratierelevanten Größe. Antworten auf diese Fragen bestimmen, ob unsere
Gesellschaft zusammenhält, immer poröser wird oder letztlich zerbricht. Wir
beobachten, dass Journalismus gerade bei jungen Menschen an Relevanz
verliert.
Und dass Journalist:innen bei Stammtischen zuweilen als Plage gelten.
Wir erfahren, dass in Redaktionen, in beruflichen Netzwerken und in der
Weiterbildung [2][Grenzen neu ausgelotet werden]: Jeder will der Erste sein
in Experimenten mit KI. Jede will die beste Performance bei Facebook und
LinkedIn für sich beanspruchen.
Großverlage üben sich in „guten Nachrichten“ („News to be Good“, Burda
Forward), manche üben sich in aktivistischen Seitenwechseln
(Schulterschluss des Stern mit Fridays for Future). Oder Journalisten
[3][schließen sich in Initiativen für Klimajournalismus und Nachhaltigkeit
zusammen], gründen auf Biodiversität spezialisierte Medien. Ihr Impetus:
Der Journalismus darf nicht das gesellschaftliche Gespräch moderieren,
sondern er muss die Menschen auch aktivieren, ihr Verhalten ändern.
Aber: Ist ein Journalismus, der die Verhaltensänderung zu seiner (einzigen)
Mission erklärt, der seine Arbeit dem normativen Anliegen unterordnet
(manche sprechen von „Haltung“), dass die Zivilisation nicht vor die Hunde
geht, ein besserer Journalismus? Oder schießt der gute Wille übers Ziel
hinaus? In einer Krisengesellschaft erscheint der Zeitgeist zumindest reif
für Medien, die aktiv gegen Missstände angehen und mögliche Perspektiven
aufzeigen.
## Der Schlagabtausch entgleist in sozialen Medien
In sozialen Medien entgleitet der Schlagabtausch über Klimafragen leicht –
und oszilliert zwischen populistischen Positionen, populären Ängsten und
politischer Orientierungslosigkeit. Und so müht sich die professionelle
Publizistik zusehends, im pseudojournalistischen Meinungsnebel sichtbar zu
bleiben, ja, überhaupt noch vorzukommen – um ihrer eigenen Kenntlichkeit
willen.
Aber welchen Journalismus braucht die Gesellschaft, wenn sie sich mit
epochalen Krisen und empfindlichen Einschnitten in ihren Lebensalltag
konfrontiert sieht? Müssen sich die Leitplanken dieses Journalismus von all
jenem, was jahrzehntelang als ethischer Goldstandard galt, unterscheiden?
Jein.
Wir sollten häufiger über radikale Rückbesinnung als über radikale
Neuerfindung sprechen. Und nicht nur über Nachhaltigkeit als
journalistisches Thema nachdenken, sondern über die Nachhaltigkeit des
journalistischen Arbeitens an sich. Also fragen: Welchen demokratischen
Mehrwert hat journalistische Berichterstattung? Wie evidenzbasiert ist sie?
Und erfüllt sie tatsächlich den Anspruch, dem Gemeinwohl zu nutzen?
## Widerstandsfähig in krisenschweren Zeiten
Eine Tiefenbohrung ist überfällig, in der auch professionelle Ideale zur
Sprache kommen, mit denen Medienschaffende einst in den Beruf starteten. In
den zuweilen interessengeleiteten Debatten, etwa über die Sinnfälligkeit
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder über die personellen Kalamitäten
in den arrivierten Verlagen Springer, Spiegel & Co. liest sich das häufig
anders. Denn diese auf Empörung getrimmten Scheingefechte lösen vor allem
beim Publikum mindestens eines aus: Irritation.
Jahrzehntelang haben wir als Wissenschaftler geforscht, wie sich
Mediennutzung und das journalistische Berufsbild verändern. Wir haben
untersucht, welche Folgen digitale Kommunikation für die Gesellschaft hat.
Und wir halten fest: Wir brauchen weniger eine Neujustierung des
professionellen Selbstverständnisses, sondern eine fundierte
gesellschaftliche Debatte darüber, wie Journalismus selbst widerstandsfähig
in krisenschweren Zeiten bleibt.
Es geht darum, ob und wie diese immer mehr zum Subventionsfall geratene
Branche unter dem Eindruck von wachsenden Zukunftsängsten, wirtschaftlicher
Volatilität und [4][einem Glaubwürdigkeitsschwund journalistischer Inhalte]
„gerettet“ werden kann.
## Der neue alte Journalismus
Wir brauchen einen neuen „alten“ Journalismus, der sich an ethischen
Grundtugenden und demokratischen Werten orientiert, der die Menschen
dadurch überzeugen kann, dass er ganzheitlich und transparent agiert, dass
er Kontexte diskutiert. Und dass er sich frei von Abhängigkeiten macht –
von Geldgebern, ökonomischen Launen, politischen Einflüssen und den
digitalen Infrastrukturen des US-amerikanischen Tech-Kapitalismus.
Hass und Hetze, auch Propaganda – Beispiel Ukrainekrieg – erfordern einen
souveränen, selbstbestimmten, wehrhaften Journalismus, der die Bürgerinnen
und Bürger resilienter macht – in schlechten und für schlechte Zeiten. Er
darf keiner anderen Mission folgen als dem Gemeinwohl.
Ein solcher Journalismus kann Zweifel an seiner Integrität leicht
zerstreuen. Einem solchen Journalismus gelingt es eher, wissenschaftliche
Evidenz verständlich zu machen, ohne sich zu verleugnen, indem er
Wissenschaft zum kategorischen Imperativ erklärt. Es braucht Ehrgeiz, Mühe
und Paradoxien anstatt Reizüberflutung. Ansporn für guten Journalismus ist
gesellschaftlicher Dialog. Sein Grundbedürfnis ist es, unbequeme Wahrheiten
auszusprechen, unschöne Ecken der Gesellschaft auszuleuchten, Perspektiven
aufzuzeigen. Nicht: schönreden, Menschen bevormunden, sie umerziehen.
## Die Scheu vor Recherche
Es ist vielerorts leicht zu beobachten: Schlechter Journalismus formuliert
vorrangig Reichweitenziele, er definiert sich über Likes, Hits und
Retweets. Der schlechte Journalismus wird es sich nicht zur Aufgabe
machen, eine breite Öffentlichkeit zu moderieren, in der über
unterschiedliche Deutungen, Perspektiven und Wege derselben Sache
gestritten wird.
Der schlechte Journalismus stimuliert nicht das Selbstgespräch der
Gesellschaft, sondern resigniert vor dem Orkus geschlossener Foren, Gruppen
und Kanäle auf digitalen Plattformen. Er nimmt billigend in Kauf (oder
treibt sogar voran), dass sich soziale Fronten verhärten. Und er betreibt
Effekthascherei und Liebedienerei. Aber er scheut offenkundig die Untiefen
unangenehmer Recherchen, publiziert zum eigenen Vorteil.
Gerade deswegen könnte die Gemeinwohlorientierung und die Gemeinnützigkeit
im Journalismus einen Unterschied machen bei der Frage, wie Journalismus
als relevantes System und als kulturelle Praxis erhalten bleibt und wie er
in der Gesellschaft nachhaltigen Rückhalt erfahren kann.
## Zurück auf die Tugenden besinnen
Es geht nicht allein um Finanzierungsfragen (Wer gibt das Geld? Wer
fördert?), sondern um Qualitäten, die aus dem Querschnitt unserer
Gesellschaft heraus zu entwickeln sind. Denn es gilt zu definieren, was ihr
tatsächlich dient. Das ist alles andere als ein trivialer Prozess, wie an
der zähen Public-Value-Debatte über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
abzulesen ist, der sich um seinen gesellschaftlichen Rückhalt stets sorgen
muss.
Der Gemeinwohlgedanke muss wieder stärker auf den Journalismus
reflektieren: Journalismus sollte nicht nur an sich glauben, sondern sich
ein Nachhaltigkeitsversprechen selbst geben dürfen, um einen soliden Job zu
machen, ja um überleben zu können. Wenn sich Journalismus intellektuell und
professionell weiterentwickeln will, muss er sich auf seine Tugenden
zurückbesinnen, also: Unabhängigkeit, Transparenz, Ehrlichkeit,
Glaubwürdigkeit, Gerechtigkeit, Authentizität und Gemeinwohl.
Nonprofit-Journalismus, der seine Werte und Visionen offen in die
Gesellschaft kommuniziert, passt gut in dieses Versprechen. Nonprofit meint
mit Stiftungsmitteln und Spenden alimentierter Journalismus. Auch wenn er
in Deutschland stark unterentwickelt, seine Förderkulisse unterkomplex ist,
stecken viele Chancen in diesem Ausdruck der Selbstlosigkeit, deutlich mehr
als die derzeitige unzulängliche Förderbasis und Spendenkultur vortäuschen
mag.
Nonprofit-Journalismus ist, wie der Name sagt, nicht gewinnorientiert.
Trotzdem zeigt er in mehrfachem Sinne „Umsatzstärke“ und kann mit
finanziellen, aber auch ideellen Investitionen für den journalistischen
Kernauftrag auftrumpfen. Was also könnte den Journalismus besser machen als
eine neue Nachhaltigkeitsbewegung des Nonprofit-Journalismus?
31 Aug 2023
## LINKS
[1] /Lohnungerechtigkeit-in-Deutschland/!5953267
[2] /Nach-offenem-Brief-an-New-York-Times/!5917139
[3] /Klimakrise-im-Journalismus/!5950141
[4] /Sky-Doku-ueber-Claas-Relotius/!5921348
## AUTOREN
Leif Kramp
Stephan Weichert
## TAGS
Journalismus
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