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# taz.de -- Russlands Blick auf die Geschichte: Aus Putins Lehrbüchern
> Der historische 23. August: Warum wird der Hitler-Stalin-Pakt in Russland
> immer noch oder wieder gefeiert? Ein Blick in die Geschichtsbücher.
Bild: Stop Putler! Protestierender beim WM-Finale
Geschichte sei in die Vergangenheit umgekippte Politik. Das ist wohl der
meistzitierte Satz des führenden sowjetischen Historikers der 1920er Jahre,
[1][Michail Pokrowski]. Der Historiker prangerte dabei die politische
Instrumentalisierung der Geschichtswissenschaft im Zarenreich und in der
„kapitalistischen Welt“ an. Seine zugespitzte Aussage spiegelt den Umgang
mit historischen Fakten in der Sowjetunion und in der heutigen Russischen
Föderation wider.
Beispiele dafür gibt es reichlich: So wurden vor Kurzem die neuen
russischen Schulbücher für die „Allgemeine Geschichte“ und „Geschichte
Russlands“ der Abschlussklassen 10 und 11 vorgestellt. Als Verfasser dieser
Skandalwerke fungiert Putins erzkonservativer und radikal antiwestlich
gesinnter, des Plagiats überführter Berater Wladimir Medinski.
Dem Funktionär stehen zwei Historiker zur Seite, denen ihr Ruf wohl nicht
mehr viel bedeutet – der Co-Vorsitzende der inzwischen ausgesetzten
deutsch-russischen Historikerkommission, das 91-jährige Akademiemitglied
Alexander Tschubarjan, und der 72-jährige Rektor der
Diplomatenkaderschmiede, des [2][Staatlichen Moskauer Instituts für
Internationale Beziehungen], Anatolij Torkunow. Medinski und seine
Mitautoren sind lediglich fleißige Vollstrecker. Der eigentliche Spiritus
Rector des Schulbuchprojekts ist Wladimir Putin.
Der Autokrat ist ausgebildeter Jurist mit KGB-Hintergrund. Seine große
Liebe ist wohl die Geschichte. Gerne greift Putin historische Themen auf,
begründet seine Entscheidungen mit historischen Beispielen und schreckt
nicht vor Verzerrungen, Erfindungen und kruden Verschwörungstheorien
zurück.
## Im Westen wird der Kremlchef belächelt
Längst schreibt Putin „historische Beiträge“ und erteilt ausländischen
Gästen, dem breiten russischen Publikum und Historikern und Historikerinnen
„historische Lektionen“. Im Westen wird der Kremlchef aufgrund seiner
Geschichtsbesessenheit belächelt, in Russland gelten seine Einschätzungen
als „unbestrittene historische Wahrheit“. So sind Medinskis Lehrwerke, in
denen vor allem die russische und europäische Geschichte des 20.
Jahrhunderts behandelt wird, nichts anderes als Putins Lehrbücher.
Zu den Themen, mit denen sich der Staatschef am liebsten befasst, gehören
die Geschichte der Ukraine und die internationalen Beziehungen in den
1930er Jahren, insbesondere das Münchener Abkommen von 1938 und der
Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Diese Ereignisse prägen sein Weltbild und
beeinflussen seine Politik.
## Politische Evolution Putins
Vom Münchener Abkommen hat er sich bei der Vorbereitung des Angriffskriegs
gegen die Ukraine inspirieren lassen, wobei er wahrscheinlich davon
ausgegangen war, dass die USA und ihre Partner ihm die Ukraine ähnlich
kampflos ausliefern würden, wie dies Frankreich und Großbritannien 1938 im
Rahmen ihrer Appeasement-Politik mit der Tschechoslowakei gegenüber Hitler
gemacht haben.
Der Umgang mit dem Hitler-Stalin-Pakt indes verdeutlicht die politische
Evolution Putins – von einem auf Ausgleich mit dem Westen bedachten, eher
gemäßigten Politiker hin zu einem radikalen Revanchisten, der einen
blutigen Krieg in Europa entfesselt hat.
In der UdSSR wurde der am 23. August 1939 geschlossene deutsch-sowjetische
Nichtangriffspakt lange Zeit als kluger Schachzug gewürdigt, der vor allem
Zeitgewinn für Moskau bedeutet und einen Krieg gegen Deutschland
aufgeschoben hatte. Die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls, mit dem
Stalin und Hitler ihre Einflusszonen in Europa aufgeteilt und somit den Weg
in den Zweiten Weltkrieg geebnet hatten, wurde jahrzehntelang schlichtweg
geleugnet, erst in den späten 1980er Jahren anerkannt und offiziell
verurteilt.
## Logisch und gerechtfertigt
Als das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen in den 1990er und
frühen 2000er Jahren trotz einzelner Konflikte und Spannungen noch intakt
blieb, wurde der Pakt in Russland eher negativ eingeschätzt. Putin selbst
sprach noch 2009 von einer „unmoralischen“ Entscheidung Stalins.
Im Zuge der rasanten Verschlechterung der Beziehungen mit dem Westen und
vor allem nach der Krim-Annexion hat der russische Staatschef jedoch seine
Einschätzung des Hitler-Stalin-Pakts grundsätzlich überdacht. Der Pakt
wurde zu einem notwendigen und wichtigen Schritt für die sowjetische
Sicherheit stilisiert, während man die Bedeutung des Zusatzprotokolls
heruntergespielt und jegliche Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten
Weltkriegs entschlossen zurückgewiesen hat.
Medinski und Torkunow gehen in ihrem Geschichtslehrbuch noch weiter. Der
Pakt, der voll und ganz den Interessen der UdSSR entsprochen habe, gilt
nunmehr als logisch und gerechtfertigt. Das von Putin beliebte Narrativ des
immer wieder vom Westen betrogenen Russlands zieht sich wie ein roter Faden
durch die Lehrbuchreihe und lässt sich auch im Fall des Hitler-Stalin-Pakts
wiederfinden: Der „Erzfeind“ Großbritannien habe mit Frankreich absichtlich
einen Konflikt zwischen Moskau und Berlin provoziert.
## Deutlich mehr als ein Versuch der Indoktrination
Und so hätte der Kreml keine andere Wahl gehabt, als sich mit dem „Dritten
Reich“ zu arrangieren. Dadurch habe man den Briten und Franzosen eine
Niederlage beigebracht, Zeit gewonnen und einen Keil zwischen Deutschland
und Japan getrieben. Der Pakt sei also nicht weniger als der erste
sowjetische (diplomatische) Sieg im Zweiten Weltkrieg gewesen.
Und das Zusatzprotokoll, die Aufteilung Polens, die Annexion der baltischen
Staaten und Bessarabiens, der Winterkrieg gegen Finnland?
Sicherheitspolitische Notwendigkeit und Wiederherstellung der historischen
Gerechtigkeit.
Medinskis Lehrbücher werden häufig als Versuch der Indoktrination
bezeichnet. Sie sind deutlich mehr. Sie verraten Putins revisionistisches
Weltbild und seine Zukunftsvisionen. Sein Kalkül auf ein neues „Münchener
Abkommen“ ist nicht aufgegangen. Die Hoffnung auf Aufteilung von
Einflusszonen hat er noch nicht verloren.
23 Aug 2023
## LINKS
[1] https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/pokrowski-michail-nikolajewitsch
[2] https://www.fu-berlin.de/sites/easterneurope/partner/mgimo/index.html
## AUTOREN
Alexander Friedmann
## TAGS
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Stalin
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