# taz.de -- Graphic Novel über Geschichte Finnlands: Kühe, Zeuginnen der Zers… | |
> In ihrem Comic „Kannas“ widmet sich die Zeichnerin Hanneriina Moisseinen | |
> der finnischen Landenge Karelien. Ab 1939 wurden sie zum | |
> Kriegsschauplatz. | |
Bild: Fotoausschnitt aus dem besprochenen Comic: „Kannas“ von Hanneriina Mo… | |
1944 im finnischen Karelien: Lange Menschentrecks ziehen über die | |
Landstraßen. Sie fahren einfache Karren mit dem nötigsten Hab und Gut, | |
treiben ganze Herden von Kühen vor sich her. Es sind vor allem Bäuerinnen | |
und Bauern und deren Familien, die ihre Dörfer verlassen, um vor den | |
sowjetischen Invasoren zu fliehen. | |
Auvo, ein Soldat, wird im Wald unter Leichen seiner Kameraden aufgefunden, | |
er ist traumatisiert vom Stellungskrieg. Er flieht aus dem Lazarett, irrt | |
verloren in den Wäldern umher. Dann ist da noch die junge Kuhhirtin Maria, | |
die in einem See badet, während eine Fliegerstaffel über ihr kreist. Ihre | |
Kühe spricht sie einzeln mit Namen an: „Mystische“, „Schecke“ oder | |
„Solveig“. Alleine harrt sie auf ihrem Hof aus, wartet auf ihren Vater und | |
die Evakuierung. | |
Die 1978 geborene finnische Comiczeichnerin Hanneriina Moisseinen | |
kombiniert in ihrer im Berliner Avant Verlag erschienenen Graphic Novel | |
„Kannas“ historische Fotos mit Comicsequenzen. Bereits vor Jahren | |
veröffentlichte sie Comics, in denen sie Volksmärchen der Region Karelien | |
aufgriff. | |
In ihrer ersten längeren Graphic Novel „Isä“ („Vater“) von 2013 | |
verarbeitete sie in einer dichten Erzählung ihre eigene traurige | |
Familiengeschichte, in der ihr Vater plötzlich verschwindet, als sie zehn | |
Jahre alt ist, und nie gefunden wird. | |
## Finnischer Staatspreis für Comics | |
Mit „Kannas“ erscheint erstmals eines ihrer Werke auf Deutsch. 2016 bereits | |
in Finnland veröffentlicht, wurde die Graphic Novel dort mit dem | |
„Staatspreis für Comic-Kunst“ ausgezeichnet. Inspiriert dazu hatte | |
Moisseinen laut eigenen Angaben eine historische Studie zu traumatischen | |
Erfahrungen finnischer Soldaten während des Zweiten Weltkriegs. | |
Die Zeichnerin recherchierte in Archiven, hörte Tonbänder von Zeitzeugen | |
und sammelte Fotos von der Evakuierung Kareliens, die (neben einzelnen Ton- | |
und Radiodokumenten, die in Off-Texten und Sprechblasen verwendet werden) | |
neben den Zeichnungen auch das Fundament von „Kannas“ bilden. | |
Den Beginn der Erzählung eröffnet eine Reihe alter Fotografien, die einen | |
recht beschaulichen Bauernhof zeigen, einen von einem Pferd gezogenen | |
Karren – und einen Friedhof. Auf der nächsten Seite, die aus gezeichneten | |
Schraffuren besteht, steht in dünner Schrift geschrieben: „Karelien 1944“. | |
Das unscharfe Foto eines geschundenen Waldes folgt. Dann erst setzt die | |
eigentliche Comic-Erzählung ein, die mit Bleistift ausgeführt, fließende | |
Übergänge zu immer wieder eingeflochtenen Schwarz-Weiß-Fotos ergibt. | |
Durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wirkt Moisseinens | |
Erzählung über Krieg und Vertreibung erschreckend aktuell. Im Grunde | |
erzählt sie zeitlos: Es geht um einen vergangenen Krieg in einem | |
abgelegenen Weltwinkel und doch auch um den Krieg im Allgemeinen, um die | |
Folgen für die Landbevölkerung und – ein ungewohnter und oft übersehener | |
Aspekt – für die Natur und die Tiere. Verbrannte Wälder wie auch die | |
traurigen Blicke der Kühe werden so zu Zeugen der menschlichen | |
Zerstörungswut. | |
## Sowjetisch-finnischer Krieg | |
„Kannas“ bezeichnet eine finnische Landenge in Karelien, die während des | |
Zweiten Weltkrieges mehrfach zu einem (Neben-)Kriegsschauplatz wurde: | |
Zunächst während des „Winterkriegs“, des in Zentraleuropa weitgehend | |
unbekannten sowjetisch-finnischen Krieges, der im Schatten von Hitlers | |
Eroberungskriegs stattfand. | |
Nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 besetzte die Sowjetunion einen Teil | |
Polens, drängte die baltischen Länder zum Beistand und zur faktischen | |
Aufgabe ihrer Unabhängigkeit. Auch Teile der Grenzregion Karelien | |
beanspruchte man. Weil Finnland resistierte, wurde von sowjetischer Seite | |
ein angeblich von Finnland ausgehender Überfall fingiert, um endgültig in | |
Karelien einzumarschieren. Erst 1947 kam es zu Friedensverhandlungen. | |
Moisseinens Geschichte fokussiert sich auf den Moment, in dem die | |
entscheidende sowjetische Offensive stattfand und die karelische Landenge | |
von den Sowjets erobert wurde. Das Ergebnis war ein Exodus: Über | |
vierhunderttausend Menschen zogen mit ihrem Nötigsten und ihren Tierherden | |
los, um ihre Heimat für immer gen Finnland zu verlassen. Auch ein Teil der | |
Großeltern Moisseinens stammt aus Karelien. Die geschilderten Vorgänge um | |
die ProtagonistInnen Maria und Auvo sind jedoch fiktiv. | |
Moisseinens künstlerische Ausgestaltung ist teils skizzenhaft roh, dennoch | |
wird man beinah soghaft hineingezogen ob ihrer Eindringlichkeit. Motive | |
oder auch nur Lichtstimmungen der eingefügten Fotografien werden | |
zeichnerisch aufgegriffen und erzählen sie fließend weiter. | |
## Poetische Momente und Grauen | |
In den stärksten Momenten verwandeln sich die zarten Bleistiftschraffuren | |
zu verwirbelten Seelenlandschaften, in denen mit Fantasie Van Goghs | |
Wellenlinien anklingen. Der gerade noch realistisch gezeichnete Wald wird | |
zum Abbild der Innenwelt des verstörten Auvo – sein Kopf ähnelt einem | |
Totenschädel. Auvo sieht die Seelen seiner verstorbenen Kameraden als | |
Schemen durch den Birkenwald streifen. Stille, poetische Momente um Maria | |
und ihre Kühe wechseln sich ab mit Szenen des Grauens, die in Stil und | |
Intensität an Munchs „Schrei“ erinnern. | |
„Kannas“ ist eine starke, [1][authentische Erzählung über Krieg und über | |
die Wunden], die er hinterlässt, außen, wie innen. Einfühlsam werden die | |
Auswirkungen auf die Opfer eines jeden Krieges, ob Soldat, Zivilistin oder | |
unschuldiges Tier (nach)gezeichnet. | |
29 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Graphic-Novel-ueber-Boris-Pahor-Roman/!5968124 | |
## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
## TAGS | |
Comic | |
Graphic Novel | |
Finnland | |
Sowjetunion | |
Kriegsopfer | |
Stalin | |
Vertriebene | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Spielfilm | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Russlands Blick auf die Geschichte: Aus Putins Lehrbüchern | |
Der historische 23. August: Warum wird der Hitler-Stalin-Pakt in Russland | |
immer noch oder wieder gefeiert? Ein Blick in die Geschichtsbücher. | |
Buch über russischen Bürgerkrieg: Wagner am Stillen Don | |
Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es. Antony Beevors Gesamtschau über | |
den Russischen Bürgerkrieg enthält dennoch viele aktuelle Parallelen. | |
Finnischer Kriegsfilm „Sisu“: Ein toter Nazi ist ein guter Nazi | |
Im Film „Sisu“ erzählt der finnische Regisseur Jalmari Helander eine | |
blutige Geschichte aus der Zeit des Lapplandkriegs. Der Italowestern stand | |
Pate. |