# taz.de -- Getreideexporte aus der Ukraine: Nicht vom Acker machen | |
> Vor einem Monat kündigte Russland das Schwarzmeer-Getreideabkommen. Wie | |
> können ukrainische Bauern ihre Erzeugnisse noch sicher loswerden? | |
Bild: Erntearbeiten nach einem Raketeneinschlag auf einem Feld in der Oblast Dn… | |
ODESSA taz | Für die ukrainische Bevölkerung gehören die Bauern zu den | |
„Superhelden“ dieses Krieges. Es kam schon vor, dass Felder nach | |
Granattreffern zur Hälfte in Flammen standen, während daneben Bauern | |
versuchten, ihre Ernte zu retten. Ihre Höfe sind klein und oft in | |
Familienhand. Zumeist ernähren sie mit ihren Erzeugnissen das ganze Dorf. | |
Ein Drittel der ukrainischen Felder wurde inzwischen durch Beschuss | |
zerstört, überflutet, vermint oder besetzt. Im Gespräch mit dem Präsidenten | |
des ukrainischen Bauernverbands, Mykola Strizhkak, wird klar, wie sich der | |
erschwerte Getreideexport für die Landwirte bemerkbar macht: „Seit dem | |
Beginn der russischen Invasion in der Ukraine haben die einfachen | |
Dorfbewohner keinen Zugang mehr zu unabhängigen Getreidemärkten. Alle | |
Verkäufe finden nur über Zwischenhändler statt und dementsprechend | |
verkaufen wir das Getreide praktisch zum Selbstkostenpreis“, beschreibt er. | |
Getreide könne nicht unbegrenzt gelagert werden. Und ein Eigentransport mit | |
Autos wäre zu gefährlich. | |
[1][Vor einem Monat kündigte Russland das sogenannte | |
Schwarzmeer-Getreideabkommen auf.] Am 16. Juli verließ das letzte Schiff | |
mit ukrainischem Getreide den Hafen der südukrainischen Stadt Odessa. Ein | |
Tag danach erklärte der Kreml, er werde zivile Frachtschiffe mit Getreide | |
auf hoher See beschießen, sobald diese sich ukrainischen Häfen nähern oder | |
von ihnen wegfahren. | |
„Inoffiziell funktioniert der Getreidedeal schon seit fast zwei Monaten | |
nicht mehr richtig“, sagt der stellvertretende Leiter der regionalen | |
Militärverwaltung von Odessa, Roman Hryhoryshyn. Durch den ständigen | |
Beschuss der Silos sei das darin gelagerte Getreide verloren gegangen. In | |
der Nacht zum 19. Juli feuerte Russland beispielsweise Raketen auf | |
Getreideterminals in den Häfen von [2][Odessa] und Tschornomorsk. „Es | |
könnte zu einer Hungersnot kommen“, erklärt er. | |
## Auch die Donauhäfen bergen Risiken | |
Von August 2022 bis Mai 2023 wurden 36,2 Millionen Tonnen Nahrungsmittel | |
aus der Ukraine exportiert, so das Gemeinsame Koordinierungszentrum für das | |
Getreideabkommen in Istanbul. Vor dem Angriffskrieg war der Hafen von | |
Odessa einer der schönsten Orte der Stadt. Touristen kamen hierher, große | |
Kreuzfahrtschiffe liefen ein. Es gab Frachtschiffe, riesige Container, | |
Baukräne, eine Eisenbahn, eine Kirche und ein Hotel. Jetzt ist es | |
unmöglich, sich dem Hafen zu nähern. Seit dem 24. Februar 2022 ist der | |
Zugang zu den Häfen und der unmittelbaren Umgebung gesperrt. In der Nacht | |
von Sonntag auf Montag beschossen die russischen Streitkräfte Odessa | |
erneut. Etwa 300 Gebäude wurden beschädigt, darunter 7 Gotteshäuser und | |
eine Entbindungsklinik. Die Menschen der Millionenstadt haben sich daran | |
gewöhnt: Nach den Angriffen räumen sie die Straßen auf und gehen weiter zur | |
Arbeit. Man müsse leben und Witze machen, sagen sie. | |
Der größte Teil der ukrainischen Getreideexporte wird seit Juli über die | |
Donauhäfen abgewickelt, wenngleich unter großen Schwierigkeiten. Am 24. | |
Juli wurden [3][ukrainische Häfen an der Donau, Reni und Ismajil], von | |
russischen Angriffen getroffen. Auch diese Woche, in der Nacht zu Mittwoch, | |
teilte der Gouverneur von Odessa, Oleh Kiper, mit, dass das russische | |
Militär mit Drohnenangriffen Getreidesilos und Lagerhäuser in einem | |
Donauhafen beschädigt hatte – unklar war bis Mittwochfrüh, ob es sich um | |
Reni oder Ismajil handelte. Aufgrund der bestehenden Risiken durch Beschuss | |
und Minen sind die Schiffe gezwungen, entlang der Küste zu fahren, was ihre | |
Bewegung erschwert. Die Donauhäfen sind weiterhin normal in Betrieb. | |
Kritische Schäden, die durch Beschuss entstanden sind, wurden behoben, und | |
die Wiederaufbauarbeiten sind in vollem Gange. | |
Für den Mitbegründer und kaufmännischen Leiter des Logistikunternehmens | |
Soul Marine, Iwan Nijaki, ist das Hauptziel des massiven russischen | |
Angriffs klar: „Russland will den Export ukrainischer Agrarprodukte | |
vollständig blockieren.“ Sein Logistikunternehmen hat im Juli mit dem Bau | |
eines Getreideterminals in Ismajil begonnen, welches in einer ersten Phase | |
20.000 Tonnen lagern können soll. „Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass | |
sich der Beschuss wiederholen wird. Russland will der ganzen Welt zeigen, | |
dass die ‚Korridore‘ und ‚Wege der Solidarität‘ ohne Moskau nicht | |
funktionieren werden. Moskau behauptet, es würde die Ukraine auf dem | |
Weltgetreidemarkt ersetzen. Reine Propaganda!“, sagt Nijaki. Eineinhalb | |
Jahre habe der Export über die Donauhäfen ohne militärische Angriffe | |
funktioniert, erst jetzt sei es gefährlich. | |
Unmittelbar nach dem Beschuss stiegen die Weltmarktpreise sprunghaft an, | |
weil Zweifel an der Beständigkeit ukrainischer Agrarexporte aufkam. Aber | |
jetzt komme die neue Saison in Schwung, die Weltmärkte würden die | |
traditionelle Phase der Preisbildung durchlaufen. „In dieser Hinsicht ist | |
‚der ukrainische Faktor‘ nur einer von mehreren Faktoren, die auf die | |
Preise einwirken“, äußert sich Nijaki. | |
## Folgen der Nichtverlängerung noch gar nicht spürbar? | |
Er ist der Meinung, dass die globalen Folgen der Nichtverlängerung der | |
Schwarzmeer-Getreideinitiative bislang noch gar nicht zu spüren gewesen | |
seien. „Als erste Reaktion haben sich alle auf die Donau-Binnenschifffahrt | |
orientiert, und dort ist alles bereits um 200 Prozent belastet“, fügt er | |
hinzu. Die kritische Phase wird im Herbst kommen, zum Start der Maisernte. | |
Die Getreidespeicher in Odessa und den Nachbarhafenstädten sind voll, und | |
im September wird eine neue Ernte eingebracht. „Zu diesem Zeitpunkt muss | |
die Ukraine in der einen oder anderen Form einen fertigen Aktionsplan für | |
den Fall einer weiteren Blockade der Häfen im Großraum Odessa entwickelt | |
haben. Soweit ich weiß, ist ein solcher Plan bereits in Arbeit“, erzählt | |
Nijaki. Das Unternehmen Soul Marine will in den kommenden zwei Monaten den | |
Bau des Getreideterminals abschließen und ab September die Arbeit | |
aufnehmen. Bis zum Ende des Jahres will das Logistikunternehmen den | |
Frachtumschlag auf 100.000 Tonnen pro Monat erhöhen. | |
Anfang August kündigte die ukrainische Marine dann zusätzlich an, | |
vorübergehend Korridore für zivile Schiffe einzurichten, die ukrainische | |
Schwarzmeerhäfen anlaufen oder verlassen. Die Drohung Russlands, jedes | |
Schiff im Schwarzen Meer als potenziellen Militärtransport für die Ukraine | |
einzustufen, bliebe damit unbeachtet. „Wer sind die mutigen Männer, die | |
sich bereit erklären, die russische Blockade zu durchbrechen?“, fragen sich | |
Experten und Kommentatoren in der Ukraine. Schließlich ist die militärische | |
Bedrohung und [4][Minengefahr durch Russland] groß. | |
Kapitäne und Eigner von Schiffen müssen offiziell bestätigen, dass sie | |
bereit sind, unter unsicheren Bedingungen zu fahren. Zurzeit ist die | |
Registrierung von Handelsschiffen noch offen. Der Seekorridor für zivile | |
Schiffe könnte auch für den Getreidetransport genutzt werden. Ein | |
Versicherungsfonds wurde inzwischen in Kyjiw eingerichtet, um Schiffe zu | |
versichern, deren Eigner und Kapitäne sich bereit erklären, diese Routen | |
unter diesen erschwerten Bedingungen zu befahren. Ein erstes Schiff mit | |
Getreide hat an diesem Mittwoch 16. August den Hafen von Odessa verlassen – | |
das deutsche Frachtschiff Joseph Schulte unter der Flagge Hongkongs, das | |
seit 2022 im Hafen von Odessa fest war. Dies gab der ukrainische | |
Infrastrukturminister Oleksandr Kubrakov bekannt. | |
„Wenn Sie das Risiko eingehen und erfolgreich sind, wird es ein Beispiel | |
für alle sein, dass es möglich ist, einen Korridor ohne Russland zu bauen“, | |
sagt Klimenko. Der Präsident des Bauernverbandes plädiert für eine | |
Nato-Militarisierung des Korridors im Schwarzen Meer. „Das russische | |
Militär sollte wie somalische Piraten behandelt werden, die Angst haben, | |
auf Nato-Schiffe zu schießen“, teilt Strizhak seine Meinung. Für Kaufmann | |
Nijaki aus Ismaji sei die Freigabe der großen Häfen ein Schlüssel zur | |
Lösung der meisten Probleme, jedoch ist er wie die meisten Bauern der | |
Meinung, dass die Sicherheit der Schiffe nur militärisch gewährleistet | |
werden kann. Hoffnung setzt der Logistikunternehmer außerdem in ein | |
geplantes Treffen zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan | |
und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Denn selbst wenn die | |
Kapazität des Donau-Exports leicht zu erhöhen wäre, wäre eine | |
Normalisierung des Außenhandels und der gesamten Wirtschaft ohne | |
Einschränkungen das Beste. „Aber vor allem wünsche ich mir, dass wir den | |
unvermeidlichen Sieg davontragen.“ | |
## Verbündete beraten über Sicherheitsmaßnahmen | |
Ungeachtet von Russland bleibt der Getreidedeal zwischen Kyjiw, Ankara und | |
den UN noch gültig. Die internationale Gemeinschaft und die ukrainischen | |
Landwirte diskutieren jetzt über die Möglichkeit, Getreide über das | |
Schwarze Meer ohne die Zustimmung Russlands zu exportieren. Allerdings | |
wären in diesem Fall verstärkte Sicherheitsgarantien für die ukrainischen | |
Schiffe erforderlich. Die Begleitung durch Kriegsschiffe ist zunächst nicht | |
vorgesehen. „Allein werden wir keine Lösung finden“, kommentiert der | |
stellvertretende Leiter der regionalen Militärverwaltung in Odessa, | |
Hryhoryshyn, die Möglichkeit des Weiterbestehens des Getreideabkommens ohne | |
Moskau. Er fordert eine Unterstützung der Flotte seitens der Partner Türkei | |
und UN. | |
Einige Experten sehen darin die Gefahr einer Eskalation, die verhindern | |
würde, dass Getreide ans Ziel kommt. Auf der Ebene der Staats- und | |
Regierungschefs der Verbündeten der Ukraine wird aktuell über zusätzliche | |
Sicherheitsmaßnahmen für Schiffe im Schwarzmeerkorridor ohne die russischen | |
Sicherheitsgarantien diskutiert. Es gibt jedoch keine einheitliche Meinung | |
dazu. Am vergangenen Sonntagmorgen wurde berichtet, dass die russischen | |
Streitkräfte Warnschüsse auf ein Zivilschiff abgegeben haben, das auf dem | |
Weg in die Stadt Ismajil war. Die ukrainischen Behörden beurteilten den | |
Vorfall als Einschüchterung. | |
Dass der Getreideexport per Bahn und Lkw eine wirksame Alternative in naher | |
Zukunft wäre, sehen die meisten ukrainischen Experten skeptisch. Nach | |
Ansicht des Unternehmers Nijaki an der ukrainischen-rumänischen Grenze gebe | |
es keine vollwertige Alternative zum Meer. „Die Donauhäfen können heute 3 | |
Millionen Tonnen pro Monat erreichen, wenn die Sicherheit in der Region | |
gewährleistet ist. Dazu gehört vor allem ein leistungsfähiges | |
Luftverteidigungssystem. An die westlichen Grenzen können eine weitere | |
Million Tonnen pro Monat auf der Schiene transportiert werden“, sagt | |
Nijaki. In der jüngsten Prognose des ukrainischen Getreideverbands sind im | |
neuen Wirtschaftsjahr Ausfuhren in Höhe von 48 Millionen Tonnen geplant. | |
Der Export über alternative Wege wird auch zu einem erheblichen Anstieg der | |
Logistikkosten und infolgedessen zu einem Rückgang der inländischen | |
Einkaufspreise führen. | |
Diese Last fällt auf die Schultern der ukrainischen Erzeuger. „Während | |
große landwirtschaftliche Betriebe über seriöse Finanzinstrumente | |
verfügen und ihre eigenen Logistikketten aufbauen und das Kostenwachstum | |
irgendwie optimieren, sind die einfachen Landwirte in der Ukraine | |
gezwungen, ihr Getreide vor Ort zu einem Mindestpreis zu verkaufen, um über | |
die Runden zu kommen. Das heißt, ein herkömmliches Getreide, das in | |
Constanța, Rumänien, für 230 Dollar gekauft wird, bringt einem Bauern aus | |
der ukrainischen Region Dnipropetrowsk nur 100 Dollar ein“, erklärte der | |
Unternehmer aus Ismajil Nijaki. | |
Aus dem Russischen: Gemma Terés Arilla | |
Die Autorin war Teilnehmerin eines [5][Osteuropa-Workshops der taz Panter | |
Stiftung]. | |
16 Aug 2023 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Tatjana Milimko | |
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