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# taz.de -- Europa und AfD: Verdruckstes Schweigen zu Europa
> Mitte-Links traut sich nicht, mal was Kritisches zur EU zu sagen – und
> überlässt so der AfD das Feld. Dabei gäbe es viel Anlass für
> Grundsatzfragen.
Bild: Zur EU gäbe es mehr zu sagen
Diese Woche sah ich einen [1][VW Käfer] an der Straße parken. Ich ging wie
von einem Magneten angezogen hin, betrachtete die Details: die niedlichen
Lüftungsschlitze des Heckmotors, das Trittbrett an den Türen. Ich guckte
durch die Scheibe: Stimmt, wie klein die Rücksitzbank doch ist!
Und da zog mich die Erinnerung mit Wucht in die späten siebziger Jahre: Wir
fahren in den Urlaub mit unserem knallig-orangen Käfer, jeder Winkel des
Autos ist vollgepackt. Meine Mutter hat einen Kassettenrekorder auf dem
Schoß. Wir hören Otto Waalkes. Meine Eltern lachen und lachen über seine
Witze, sie kriegen sich gar nicht mehr ein. Es gibt Stullen, die in
Papiertüten stecken, und Sunkist aus dem Tetrapak in Pyramidenform. Meine
Schwester macht Kaugummiblasen. Die Sonne scheint in Dänemark.
Glücksgefühle.
Mit der Nostalgie ist es so eine Sache: Sie bereitet ein herrlich wohliges
Gefühl, aber sie trügt auch. Es war nicht alles so schön einfach und bunt
früher. Ein Nachbar zum Beispiel, der Katzen hatte, stopfte neu geborene
Katzenbabys in eine Plastiktüte und erschlug sie an der Wand, wenn er sie
nicht an jemanden abgeben konnte.
Ich weiß nicht, ob es heute noch ältere Männer gibt, die Katzenbabys an
Wänden erschlagen, aber mein Eindruck ist: Damals standen Männer zwar noch
im Bus auf, wenn eine ältere Frau keinen Platz fand, aber hinter den
Kulissen ging es in den 70er und 80er Jahren roher und gewalttätiger zu.
## Wohliges Gefühl der Nostalgie
Die AfD ist es, die heute das wohlige, aber trügerische Gefühl der
Nostalgie bedient: Früher war alles besser. Die Extremisten unter ihnen
wollen zerstören, sähen Hass, aber darunter mischt sich eine Art
Retro-BRD-Modell. Es bedient das Gefühl der vielen, [2][die die ständigen
Veränderungen und Krisen satthaben und es mit Loriot halten]: Ich will doch
einfach hier nur sitzen. Vergangenes Wochenende hat die AfD ihr
Europaprogramm beschlossen, und jetzt sind sie in der linksliberalen Blase
alle ganz irritiert, weil die AfD die EU durch einen losen Nationen-Bund
ersetzen will.
Aber die AfD spiegelt nur etwas, das es ja gibt in der Gesellschaft: EU
steht für nicht wenige für Kontrollverlust und eine ferne Zentrale. Es
stellen sich ja Fragen: Warum die schönsten Spielplätze immer von
irgendwelchen EU-Förderprogrammen bezahlt worden sind, während die Kommunen
kein eigenes Geld mehr für die schönen Dinge haben. Subsidiaritätsprinzip,
war da was? Oder warum sie in Brüssel seltsamerweise glauben, dass es umso
mehr Europa gibt, je mehr Vorschriften und Richtlinien sie schreiben, die
von Cork bis Thessaloniki gelten.
## Linkspartei zerlegt sich selbst
Die linken und bisschen linken Parteien lassen es zu, dass EU-Kritik von
der AfD monopolisiert wird; sie trauen sich nicht, mal grundsätzliche
Fragen zu stellen, denn wer von ihnen will schon die EU kritisieren, dieses
moralisch aufgeladene Staatenbündnis. Die emotionalen Werbespots mit
glücklichen jungen Menschen vor dem Eiffelturm sind von SPD und Grünen für
die nächste Europawahl sicherlich auch schon in Auftrag gegeben. Und die
Linkspartei? [3][Die zerlegt sich gerade selbst] und kann sich leider
derzeit nicht mit Europa beschäftigen.
Die gegnerischen Lager – ich verliere da immer leicht den Überblick, wer da
gerade mit wem taktische Bündnisse eingeht – übergießen sich derzeit mit
Hass und Häme. „Sektenanhänger“, der linke Beschimpfungsklassiker, darf
natürlich nicht fehlen. Irre finde ich, dass der Streit, ob man jetzt für
die Refugee-Aktivistin im Hamburger Schanzenviertel oder die Kassiererin
bei Lidl Politik machen soll, die Partei wohl spalten wird – und nicht der
120 Jahre alte Streit unter Linken, ob man den Kapitalismus reformieren
oder doch lieber überwinden soll. Dieser Streit wird von
Partei-Theoretikern bis heute mit heiligem Ernst ausgetragen.
Irgendwann kam der Besitzer des Käfers an, riss mich aus meinen Gedanken,
noch bevor mir eine Schlusspointe für diese Kolumne einfiel. „Gefällt Ihnen
mein Käfer? Das ist das Modell 1302, fährt wie geschmiert! Möchten Sie eine
Spritztour mit mir machen!“ Das sagte der Mann leider nicht. Er sagte
scharf: „Suchen Sie was?“ Wir leben in nervösen Zeiten.
13 Aug 2023
## LINKS
[1] /68er-Film-im-Historischen-Museum/!5928981
[2] /Forscher-ueber-Zustand-der-Gesellschaft/!5951963
[3] /Rueckzug-der-Links-Fraktionschefin-Ali/!5949208
## AUTOREN
Gunnar Hinck
## TAGS
Europawahl
Schwerpunkt AfD
EU
Die Linke
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Krise der Demokratie
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