| # taz.de -- Künstliche Befruchtung: Der Forschung erste Tochter | |
| > Nach 45 Jahren ist die In-Vitro-Methode mittlerweile Standard. Aber die | |
| > ethischen Fragen bleiben. Wollen wir den Beginn des Lebens beeinflussen? | |
| Bild: Das erste In-Vitro-Kind Louise Brown wurde durch Talkshows gereicht, wie … | |
| Im Dunkeln rollte das medizinische Personal die hochschwangere Lesley Brown | |
| in den Operationssaal des Oldham General Hospital bei Manchester. Draußen | |
| warteten seit Wochen Fotograf*innen und Reporter*innen aus der | |
| halben Welt auf diesen Moment. Sie verkleideten sich als Hausmeister oder | |
| Krankenhausverwalter, um als Erstes ein Bild des Babys zu kriegen. Denn | |
| eins wollten alle wissen: Würde das Neugeborene „normal“ sein oder würde | |
| ein kleines Monster zur Welt kommen, ein „Franken Baby“, wie es damals | |
| genannt wurde? | |
| Kurz vor Mitternacht am 25. Juli 1978, kam vor 45 Jahren Louise Brown zur | |
| Welt, durchweg gesund, 2.600 Gramm schwer. Das erste in der Petrischale | |
| gezeugte Baby. Der Startschuss für die moderne Reproduktionsmedizin. | |
| Mit ihr entstand ein völlig neuer Forschungszweig, die Embryologie. Sie | |
| untersucht die Anfänge einer Schwangerschaft, versucht, die Gründe für | |
| Fehlgeburten zu verstehen, und analysiert die frühen Entwicklungsstufen. | |
| Die Forschenden Robert Edwards, Patrick Steptoe und Jean Purdy, die | |
| jahrelang auf diesen Durchbruch hin arbeiteten, gaben dem Baby den | |
| Zweitnamen Joy – Freude. | |
| Durch Louise Brown und den medizinischen Fortschritt haben nun immer mehr | |
| Menschen die Chance, ein biologisch eigenes Kind zu bekommen. Dabei gibt es | |
| für ungewollte Kinderlosigkeit viele Gründe. Verschlossene Eileiter oder | |
| dysfunktionale Spermien können zu Unfruchtbarkeit führen. | |
| Nichtheterosexuellen Paaren bleibt der Kinderwunsch verwehrt, weil sie die | |
| gleichen Geschlechtsorgane haben. Und andere wollen ganz ohne Partnerschaft | |
| eigene Kinder. | |
| ## Ringen zwischen Fortschritt und Moral | |
| Die aktuelle Forschung findet immer mehr Wege, Kinderwünsche trotzdem zu | |
| erfüllen. Aber mit der Möglichkeit, eine Eizelle und ein Spermium außerhalb | |
| des Körpers zu verschmelzen und so den Beginn des Lebens zu beeinflussen, | |
| begann eine Debatte, die noch heute geführt wird: Haben Menschen ein | |
| Grundrecht darauf, eigene Kinder zu haben? Inwieweit darf die Biologie das | |
| Leben beeinflussen? Und ab wann ist ein Mensch ein Mensch? | |
| Deshalb könnte man sagen, die Geschichte von Louise Browns Entstehung ist | |
| ein Ringen zwischen Fortschritt und Moral. Immer wenn Technologie und | |
| Medizin voranschreiten, müssen gesellschaftliche und rechtliche Bedingungen | |
| dafür geschaffen werden. Die Fragen, die damals gestellt wurden, gelten | |
| noch heute: Wer kontrolliert eigentlich wen? Galoppiert die Forschung stets | |
| voraus und der ethische Diskurs trottet hinterher und versucht sie wieder | |
| einzufangen? Oder steuert doch auch die Gesellschaft die Forschungsinhalte | |
| und kann ihr Fortschreiten beeinflussen, vielleicht sogar kontrollieren? | |
| Damals, 1978, war man sich keineswegs einig im Umgang mit der Geburt des | |
| ersten Retortenbabys, wie man es damals nannte. „Aus der Retorte kommend“ | |
| ist der veraltete Ausdruck dafür, etwas Künstliches zu erschaffen. So | |
| wurden die Babys als Kunstprodukte wahrgenommen, bis man sie später als | |
| Wunschkinder bezeichnete. | |
| Die In-vitro-Fertilisation (IVF) gab vielen Menschen damals Hoffnung. | |
| Innerhalb kürzester Zeit meldeten sich bei den Forschenden hunderte Paare, | |
| die seit Jahren erfolglos versuchten, ein Kind zu bekommen. Auf der anderen | |
| Seite standen die Skeptiker*innen, darunter auch Ärzt*innen. Sie hielten | |
| die Forschung an der künstlichen Befruchtung für unethisch. Sie fragten, | |
| wer künstliche Befruchtung wirklich brauche und ob Missbrauch nicht | |
| vorprogrammiert sei. | |
| „Die Aufgabe des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters scheint zu | |
| sein, unvollkommen vorgefundene Natur durch eine perfekte, fehlerfreie Welt | |
| zu ersetzen“, beschrieb damals das feministische Magazin Courage die | |
| Entwicklung. „Sie fürchten, dass der Mensch, wo er dem Herrgott nachhelfen | |
| will, in Wahrheit selber Herrgott spielen will“, stand kurz nach Louise | |
| Browns Geburt [1][in der Zeit]. Aus der Perspektive der Skeptiker würden | |
| die „Forschungsklempner“ sich dazu bereit machen, die fundamentalsten | |
| Lebensvorgänge des Menschen zu kontrollieren und zu manipulieren. | |
| Den Vorwürfen entgegnete Patrick Steptoe damals: „Ich bin lediglich daran | |
| interessiert, all jenen Frauen zu helfen, die einzig deswegen kein Kind | |
| bekommen können, weil ihre Eileiter eine vergleichsweise unbedeutende | |
| Funktion nicht erfüllen können.“ | |
| ## Die Primitivlinie als ethische Grenze | |
| Die Forscher waren dem Diskurs vorausgeeilt. Erst in den Folgejahren | |
| etablierten sich Gremien, die versuchten, Regeln aufzustellen, in manchen | |
| Ländern früher als in anderen. Die britische Regierung setzte 1982 die | |
| Warnock-Kommission ein, benannt nach ihrer Vorsitzenden Lady Warnock. Wegen | |
| der öffentlichen Besorgnis über IVF und ihre möglichen Folgen sollte die | |
| Kommission Handlungsempfehlungen entwickeln. | |
| „Die meisten Menschen wussten nichts von der jahrelangen Arbeit zu diesem | |
| Kind, so schlug das Kind ein wie eine Bombe“, erinnert sich die Vorsitzende | |
| in einem Interview 2018 mit dem [2][Science Museum in London]. Vor allem | |
| die Frage, wie mit überzähligen Embryonen umgegangen wird, spielte eine | |
| Rolle bei der Regulierung. Ob nun in der Praxis oder der Forschung, | |
| „Embryonen im Labor zu erschaffen und dann die Hälfte wegzuwerfen, | |
| entsetzte die Menschen, sie sahen es als Wegwerfen eines Babys“, so Lady | |
| Warnock. | |
| Als Kompromiss entstand damals die 14-Tage-Regel. Erst danach entwickelt | |
| sich die Primitivlinie, eine Vorläuferstruktur des Rückenmarks und damit | |
| des Nervensystems. Bis zu diesem Zeitpunkt dürfen daher Embryonen in | |
| Ländern, die die Forschung zulassen, in der Petrischale wachsen. Zu diesen | |
| Ländern gehören unter anderem Großbritannien, Japan oder die USA. | |
| ## Kreisliga statt Champions-League | |
| In Deutschland ist diese Forschung nach [3][dem Embryonenschutzgesetz] von | |
| 1990 verboten. Es reguliert sowohl die embryonale Forschung als auch die | |
| Transplantation von Embryonen und die künstliche Befruchtung. Während sich | |
| Forscher*innen in Deutschland lange selbst um die ethischen Fragen | |
| kümmern mussten, sind die Regeln heute strenger als in vielen anderen | |
| Ländern. | |
| Viele Forschende sehen darin ein Hindernis, denn für neue Ergebnisse sind | |
| sie auf Arbeiten aus dem Ausland angewiesen. „Deutschland hätte auch in der | |
| Fortpflanzungsmedizin weiter auf Champions-League-Niveau spielen können, so | |
| sind wir lediglich Kreisklasse“, sagt Gynäkologe Jan-Steffen Krüssel, der | |
| das Kinderwunschzentrum an der Uniklinik Düsseldorf leitet. | |
| Die Akademie der Wissenschaften Leopoldina formulierte 2019 und 2021 | |
| Forderungen, das Gesetz anzupassen. Ende März dieses Jahres setzte das | |
| Bundesgesundheitsministerium eine Arbeitsgruppe ein, die sich mit | |
| reproduktiver Selbstbestimmung befasst. Unter anderem soll ausgelotet | |
| werden, inwiefern die Eizellspende oder eine altruistische, also nicht | |
| bezahlte Leihmutterschaft ermöglicht werden können. Auch, [4][um | |
| Reproduktionstourismus] zu verhindern. | |
| Dass Ethik und Fortschritt Tauziehen spielen, zeigt auch die moderne | |
| Debatte: Darf Gentechnik in der Fortpflanzung genutzt werden, um Menschen | |
| schon als Embryonen vor Krankheiten zu schützen? Über die Frage haben | |
| Forschende dieses Jahr auf dem Dritten [5][Internationalen Gipfel zur | |
| Humangenomeditierung] beraten. Besonders relevant wurde die Frage, | |
| nachdem der [6][chinesische Forscher He Jiankui] 2018 erstmals genetisch | |
| veränderte Kinder schuf. | |
| Im Abschlussbericht der Konferenz sind sich die Forschenden einig – der | |
| Fall He Jiankui darf sich nicht wiederholen, aktuell sollen keine als | |
| Embryo genetisch veränderten Babys auf die Welt kommen. Zu unsicher ist die | |
| Technologie noch, die das Erbmaterial beeinflusst. Lediglich die | |
| Grundlagenforschung zu der Methode dürfe weitergehen. Auch die | |
| Weltgesundheitsorganisation spricht sich gegen eine Anwendung am Menschen | |
| aus. Juristisch ist das Ganze aber Sache der Staaten. | |
| Blicken wir in 30 Jahren auf diese Debatte zurück und lachen? So dachten | |
| Forschende schließlich auch vor Louise Browns Geburt über künstliche | |
| Befruchtung. Erst 2010, 32 Jahre nach dem Durchbruch, [7][erhielt Robert | |
| Edwards den Medizin-Nobelpreis] und wurde damit für seine Forschung | |
| anerkannt. Zu dem Zeitpunkt waren seine Kolleg*innen lange tot. Dennoch, | |
| „die Auszeichnung hat das ganze Feld beflügelt“, erinnert sich Jan-Steffen | |
| Krüssel, und „damit aus der Schmuddelecke gehoben“. | |
| Heute ist diese Form der Reproduktionsmedizin nicht nur in der | |
| Wissenschaft, sondern auch in weiten Teilen der Gesellschaft anerkannt. | |
| Über die Jahre habe eine Enttabuisierung stattgefunden, sagt der Gynäkologe | |
| Krüssel: „Niemand hat früher im Freundeskreis über das Thema gesprochen. | |
| Teilweise haben sich im Wartebereich Paare getroffen, die sich gut kannten. | |
| Ihre Gesichter wurden leichenbleich, als sie sich sahen.“ Bis heute kamen | |
| weltweit über 8 Millionen Menschen durch künstliche Befruchtung zur Welt. | |
| Allein in Deutschland zählte das offizielle Register 363.940 Geburten für | |
| die Zeitspanne von 1997 bis 2020. | |
| 23 Jul 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.zeit.de/1978/32/auf-dem-weg-zum-bio-babel | |
| [2] /Sponsoringvertrag-von-Museum/!5918016 | |
| [3] /Stellungnahme-von-Forscherinnen/!5775242 | |
| [4] /Kuenstliche-Befruchtung-im-Ausland/!5656189 | |
| [5] https://royalsociety.org/science-events-and-lectures/2023/03/2023-human-gen… | |
| [6] /Gen-manipulierte-Babys/!5916566 | |
| [7] /Nobelpreis-fuer-Medizin/!5134608 | |
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