# taz.de -- NS-Widerstand der „Roten Kapelle“: Hingerichtet in Plötzensee | |
> Mit Klebezetteln kämpfte Liane Berkowitz gegen das NS-Regime. Vor 80 | |
> Jahren wurde sie kurz vor ihrem 20. Geburtstag in einer Berliner | |
> Haftanstalt hingerichtet. | |
Bild: Liane Berkowitz klebte kleine Zettel mit: „Das Nazi-Paradies – Krieg … | |
BERLIN taz | „Wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an den | |
Tod glauben. Mir scheint manchmal alles nur wie ein schlechter Traum, aus | |
dem ich jeden Moment erwachen muss. Leider ist es die rauhe Wirklichkeit.“ | |
Diese Zeilen schreibt die 19-jährige Liane Berkowitz am 28. Februar 1943 | |
aus der Haftanstalt Plötzensee an ihre Mutter. Das NS-Reichskriegsgericht | |
hat die hochschwangere junge Frau gerade wegen „Beihilfe zur Vorbereitung | |
des Hochverrats“ zum Tode verurteilt. | |
Am 5. August 1943, zwei Tage vor ihrem 20. Geburtstag, wird Liane Berkowitz | |
in der Haftanstalt Plötzensee mit dem Fallbeil geköpft. Die Prozedur dauert | |
gerade mal wenige Sekunden. Weitere zwölf Frauen und zwei Männer sterben an | |
diesem Abend. Während der NS-Zeit wurden in Plötzensee fast 2.900 Menschen | |
hingerichtet. Nur wenige Tage, bevor die Rote Armee am 25. April 1945 das | |
Gefängnis befreite, wurden noch Todesurteile vollstreckt. Der | |
Hinrichtungsraum ist heute Teil einer kleinen Gedenkstätte – neben der | |
Justizvollzugsanstalt, die noch immer in Betrieb ist. | |
In Charlottenburg-Nord hat die Stadt in den 1960er Jahren die | |
Paul-Hertz-Siedlung errichtet und fast alle Straßen, Plätze und Schulen | |
nach Gegner*innen des [1][NS-Regimes] benannt. Von der Gedenkstätte | |
Plötzensee führt ein markierter Weg zunächst an der hohen, mit Stacheldraht | |
gesicherten Gefängnismauer vorbei durch ein Kleingartengebiet den | |
Heckerdamm entlang. Dieser „Pfad der Erinnerung“ ist mit zehn Stelen | |
gesäumt. Sie weisen auf Widerstandskämpfer*innen, ehemalige Baracken von | |
Zwangsarbeiter*innen und christliche Gedenkstätten hin. | |
An Stele sechs liegt das Evangelische Gemeindezentrum. Dieser schlichte, | |
dunkelgraue Komplex beherbergt auch das Ökumenische Gedenkzentrum für die | |
Opfer von Plötzensee. Hier wartet Pfarrer Michael Maillard, ein | |
weißhaariger, gutmütig wirkender Mann. Er hat in akribischer Kleinarbeit | |
die Ausstellung „Lebensorte von Lanka und Remus“ erstellt, die an Liane | |
„Lanka“ Berkowitz und ihren Verlobten Friedrich „Remus“ Rehmer erinnert. | |
## Das Gedenken verstetigen | |
Neben Infotafeln und Veranstaltungen gibt es einen nachgebauten Lernraum | |
der Abendschule, an der sich Berkowitz und Rehmer auf das Abitur | |
vorbereiteten, sowie eine Sitzecke, die den Freizeitaktivitäten der | |
„bündischen Jugend“ nachempfunden ist. „Mir ist wichtig, das Schicksal d… | |
beiden jungen Leute in den Fokus zu rücken“, sagt der 65-jährige Maillard. | |
Er will das Gedenken verstetigen. | |
Der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Professor Johannes | |
Tuchel, ist Mitte der 1980er Jahre auf das Schicksal von Berkowitz | |
aufmerksam geworden, es hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Über | |
Berkowitz, Rehmer und die Widerstandsaktionen der Berliner Roten Kapelle | |
hat er 2022 das Buch „[2][…wenn man bedenkt, wie jung wir sind…]“ | |
veröffentlicht. | |
Anfang Juli stellte er es als Teil der Veranstaltungsreihe im Gemeindehaus | |
vor. „Wie konnte es dazu kommen, dass das Reichskriegsgericht eine | |
schwangere 19-Jährige wegen ein paar Klebezetteln hinrichten ließ?“, | |
beginnt er seinen Vortrag. Und erzählt ihre Geschichte. | |
Liane Berkowitz wird am 7. August 1923 geboren, ihre Mutter ist die | |
Opernsängerin und Gesangslehrerin Katharina Wassiljewa, die im selben Jahr | |
mit ihrem damaligen Ehemann aus der Sowjetunion nach Berlin geflohen ist. | |
Ab 1941 bereitet sich Berkowitz an der Heilschen Abendschule in Schöneberg | |
auf das Abitur vor. Hier herrscht ein aufgeschlossenes und liberales Klima, | |
ein Freundeskreis von Schüler*innen und Intellektuellen findet sich, die | |
der NS-Herrschaft kritisch gegenüberstehen. | |
## Berkowitz war jung, aktionistisch und freiheitsliebend | |
Spätestens in der Abendschule lernt Berkowitz auch ihren Freund und | |
späteren Verlobten Friedrich Rehmer kennen. Dieser Freundeskreis trifft | |
sich ab Ende 1941 mit anderen, oppositionell eingestellten Gruppen und | |
Gesprächszirkeln, unter anderem auch mit Harro Schulze-Boysen und Arvid | |
Harnack, und beginnt, sich an unterschiedlichen Aktionen des Widerstands zu | |
beteiligen. | |
„Liane Berkowitz war an allen Vorgängen in der UdSSR sehr interessiert, da | |
dies ein Teil ihrer Herkunft war“, schreibt [3][Tuchel in seinem Buch]. | |
„Sie wandte sich mehrfach gegen die in der NS-Propaganda zu findende | |
pauschale Verurteilung, die Russland mit der ‚bolschewistischen | |
Sowjetunion‘ gleichsetzte.“ Zudem war Berkowitz jung, aktionistisch und | |
freiheitsliebend. | |
Als im Mai 1942 in Berlin die antikommunistische Propaganda-Ausstellung | |
„Das Sowjetparadies“ eröffnet wird, nehmen etwa 20 Personen aus diesem | |
Kreis an einer mutigen, aber riskanten Aktion teil: In der Nacht zum 18. | |
Mai 1942 verkleben sie Hunderte kleine Zettel mit der Aufschrift: „Ständige | |
Ausstellung – Das Nazi-Paradies – Krieg Hunger Lüge Gestapo – Wie lange | |
noch?“ | |
Wegen dieser und anderer Aktionen bildet das Reichssicherheitshauptamt die | |
„Sonderkommission Rote Kapelle“. Ab Sommer 1942 gelingt es der Gestapo, die | |
Berliner Widerstandskreise aufzudecken. Bis Ende des Jahres werden über 100 | |
Menschen verhaftet. | |
## Anklage und Verurteilung vor dem Reichskriegsgericht | |
Da Schulze-Boysen der Luftwaffe angehört und sowohl er als auch Harnack | |
bereits vor 1941 versuchen, die Sowjetunion vor dem bevorstehenden | |
Angriffskrieg zu warnen, werden die Inhaftierten vor dem | |
Reichskriegsgericht angeklagt. Im September 1942 wird auch die im dritten | |
Monat schwangere Liane Berkowitz verhaftet und am 18. Januar 1943 zum Tode | |
verurteilt. Im Gefängnis bringt sie eine Tochter zur Welt. Der Vater ist | |
Friedrich Rehmer. | |
Rehmer wird 1921 in Berlin geboren und besucht von 1938 bis 1940 das | |
Heilsche Abendgymnasium in Schöneberg. Er ist ebenfalls freiheitsliebend, | |
steht der verbotenen Bündischen Jugend nahe und teilt mit Freund*innen | |
eine Vorliebe für Musik, Literatur und Reisen. Tuchel hält es für | |
plausibel, dass Rehmer „in einer nihilistisch-individualistischen | |
Perspektive ein Gegenbild zur nationalsozialistischen Vereinnahmung“ sah. | |
1941 wird Rehmer zur Wehrmacht eingezogen, kehrt mit einer schweren | |
Beinverletzung nach Berlin zurück und ist 1942 in einem Lazarett in | |
Berlin-Britz stationiert. „Hitler wird diesen Krieg verlieren, und mit ihm | |
geht das Dritte Reich unter“, soll er gesagt haben. Im November 1942 wird | |
er verhaftet und ebenfalls als Mitglied des Konstrukts Rote Kapelle vom | |
Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt. Am 13. Mai 1943 wird er in | |
Plötzensee hingerichtet. | |
Die [4][„Rote Kapelle“ war weder „rot“] noch eine „Kapelle“, wie ma… | |
Vortrag erfährt. Mit dem Verfolgungskomplex Rote Kapelle fasste die Gestapo | |
unterschiedliche Widerstandsnetzwerke in Deutschland, Belgien und | |
Frankreich zusammen. Mit dem Begriff wollte das Reichssicherheitshauptamt | |
suggerieren, dass es eine große kommunistische Widerstandsgruppe gab, die | |
Nachrichten an den „Feind“ schickte, was aber nur auf einen kleinen Teil | |
zutrifft. | |
## Mehrere Schüler*innen zum Tode verurteilt | |
In den Berliner Widerstandskreisen fanden sich unterschiedliche | |
Weltanschauungen und Milieus. Sie lehnten den Krieg ab und versuchten, mit | |
Flugblättern und Denkschriften eine Gegenöffentlichkeit herzustellen. | |
Obwohl die Klebezettelaktion vom Mai 1942 keine allzu großen Auswirkungen | |
hat, sorgt sie für große Unruhe in der NS-Führung und wird drastisch | |
bestraft. Chefankläger vor dem Reichskriegsgericht ist Manfred Roeder, der | |
aufgrund seines Ehrgeizes als „Bluthund Hitlers“ gilt. Mehr als 50 | |
Mitglieder der „Roten Kapelle“, darunter mehrere Schüler*innen der | |
Abendschule, werden zum Tode verurteilt und in Plötzensee ermordet. | |
Liane Berkowitz ist eine der jüngsten. In der Haft wird ihre Tochter Irina | |
geboren. Wohl auch deswegen befürworten sowohl Ankläger Roeder als auch der | |
Richter Alexander Kraell ihr Gnadengesuch zur Umwandlung in eine | |
Haftstrafe. Doch Adolf Hitler persönlich lehnt das Gnadengesuch ab. | |
## „Keiner der Beteiligten ist zur Verantwortung gezogen worden“ | |
Berkowitz kann nun lediglich Besuch von Geistlichen empfangen und sucht | |
Trost im christlichen Glauben. Aus der Todeszelle übergibt sie ihre Tochter | |
Irina an ihre Mutter Katharina Wassiljewa. Am 5. August 1943, dem Tag ihrer | |
Hinrichtung, schreibt sie an ihre Mutter: „Es ist aus. Heute, wenn es | |
dunkel geworden sein wird, lebt deine Lanka nicht mehr.“ Zwei Monate später | |
stirbt auch die kleine Irina unter ungeklärten Umständen in einem | |
Krankenhaus. | |
„Keiner der Beteiligten ist zur Verantwortung gezogen worden“, beendet | |
Tuchel seinen engagierten Vortrag. Das ehemalige Reichskriegsgericht in der | |
Berliner Witzlebenstraße, wo allein gegen Angehörige der Roten Kapelle 45 | |
Todesurteile verhängt worden sind, wurde Mitte der 2000er Jahre in | |
Luxuswohnungen umgebaut. | |
Während der ehemalige Generalrichter Manfred Roeder nach dem Krieg bis zu | |
seinem Tod 1971 unbehelligt blieb und eine stattliche Pension erhielt, | |
musste Katharina Wassiljewa mit den westdeutschen Behörden um eine geringe | |
Entschädigung kämpfen. Nach dem Tod ihrer Tochter und ihrer Enkelin war sie | |
eine gebrochene Frau. Sie starb 1959 in West-Berlin und wurde auf dem | |
Russisch-Orthodoxen Friedhof in Berlin-Tegel begraben. | |
Ihr Grabstein ist auch ein Gedenkstein für Liane Berkowitz. Zudem erinnern | |
eine Gedenktafel am Viktoria-Luise-Platz 1 und ein kleiner Platz in | |
Friedenau an sie. An Fritz Rehmer erinnert seit 2022 ein Stolperstein in | |
der Harzer Straße 33. | |
1 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Darius Ossami | |
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