| # taz.de -- Umstrittene Waffenlieferung: Dilemma mit Streuwirkung | |
| > Die Lieferung der verpönten, aber legalen Streumunition wurde notwendig, | |
| > weil die Ukraine nicht ausreichend mit anderen Waffen versorgt wurde. | |
| Die Streumunition aus den USA ist nun in der Ukraine angekommen. Zuvor | |
| hatte die Ankündigung dieser Lieferung nicht nur in Deutschland für | |
| Kontroversen gesorgt. Das Völkerrecht bemühten dabei sowohl diejenigen, die | |
| die Lieferung kritisierten, als auch diejenigen, die sie begrüßten. Doch | |
| der Verweis aufs Völkerrecht allein greift zu kurz. | |
| Bei Streumunition handelt es sich um Behälter, die mit Dutzenden, teils | |
| Hunderten explosiven Submunitionen gefüllt sind, die sich nach dem Abwurf | |
| in der Fläche verteilen. Während eine einzelne konventionelle | |
| Artilleriegranate in unmittelbarer Nähe feindlicher Truppen landen muss, um | |
| sie zu verletzen oder zu töten, hat die entsprechende Streumunition durch | |
| die Vielzahl der freigesetzten „[1][Bomblets]“ eine viel höhere | |
| Wahrscheinlichkeit, dem Gegner zu schaden. Die großflächige | |
| Zerstörungskapazität macht Streumunition militärisch so wirksam – und für | |
| die Ukraine nützlich. | |
| Diese Flächenwirkung hat allerdings zum Verbot von Streumunition durch | |
| einen internationalen Vertrag geführt, der 2010 in Kraft trat. Humanitäre | |
| Organisationen und die damals 107 Unterzeichnerstaaten waren der | |
| Auffassung, dass die Waffen gegen das humanitärvölkerrechtliche Gebot | |
| verstoßen, zwischen Zivilisten und Kombattanten zu unterscheiden. Denn | |
| erstens sind Streubomben schon während ihres Einsatzes potenziell | |
| gefährlich für die Zivilbevölkerung, weil sie nicht punktgenau nur gegen | |
| militärische Ziele gerichtet werden können. Zweitens explodiert nicht jede | |
| Submunition, so dass Blindgänger verbleiben, die noch Monate, Jahre oder | |
| sogar Jahrzehnte später Menschen verstümmeln und töten. | |
| Doch der Vertrag bindet, wie andere internationale Verträge auch, nur | |
| diejenigen Staaten, die ihm beigetreten sind. Eine Ausnahme bildet das | |
| Völkergewohnheitsrecht, zu dem die Streubombenkonvention aber nicht zählt. | |
| Weder die USA noch die Ukraine haben den Streumunitionsverbotsvertrag | |
| unterschrieben; die USA können deshalb legal Streumunition liefern, die | |
| Ukraine sie legal empfangen und auch einsetzen, sofern sie es gemäß den | |
| Regeln des humanitären Völkerrechts tut und alles unternimmt, um Zivilisten | |
| möglichst zu schützen. Die Rechtslage ist klar. | |
| ## Kollektive Verhaltenserwartung | |
| Allerdings sind Verbotsnormen, sozialwissenschaftlich verstanden als | |
| kollektive Verhaltenserwartungen, nicht notwendigerweise kongruent mit dem | |
| kodifizierten Recht. Normen entfalten eine soziale Verbindlichkeit, die die | |
| rechtliche in manchen Fällen übertrifft. | |
| Genau daher rührt die Empörung im vorliegenden Fall: Die völkerrechtliche | |
| Norm gilt nur begrenzt, doch das Stigma, das Streubomben inzwischen umgibt, | |
| ist stärker. Der Verbotsvertrag verstärkt dieses natürlich, indem er es in | |
| positives Recht gießt, doch entstanden ist das Stigma bereits Jahrzehnte | |
| zuvor, als Einsätze von Streumunition immer wieder für öffentliche Kritik | |
| sorgten, was humanitäre Organisationen zusammen mit gleichgesinnten Staaten | |
| zu einer globalen Ächtungskampagne veranlasste. | |
| Insbesondere in demokratischen Ländern wie Frankreich, Deutschland oder | |
| Japan, die die Streumunitionskonvention ratifiziert und in nationales Recht | |
| umgesetzt haben, überrascht nicht, dass das Verbot in der Öffentlichkeit | |
| weitgehend akzeptiert ist. Wenn politische Führungsfiguren der | |
| Vertragsstaaten wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock oder | |
| [2][die spanische Verteidigungsministerin Margarita Robles die Lieferung | |
| und die geplante Nutzung von Streumunition kritisieren], dann folgen sie | |
| damit nicht nur ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung, sich zu bemühen, den | |
| Einsatz abzuwenden – sie bedienen vor allem auch die öffentliche Erwartung, | |
| dass gerade die Vertragsstaaten die Norm auch unter widrigen Umständen | |
| hochhalten. | |
| Aber auch, dass US-Präsident Joe Biden die Entscheidung lange aufgeschoben | |
| hatte und sie nun als „sehr schwierig“ bezeichnete, belegt die | |
| Wirkmächtigkeit der sozialen Norm: Ohne sich rechtlich gebunden zu haben, | |
| erkennen die USA dennoch die internationale Erwartung und das humanitäre | |
| Problem demonstrativ an. Dass also im Weißen Haus die absehbare öffentliche | |
| Kritik an der „amerikanischen Doppelmoral“ und Bedenken der Allianzpartner | |
| in die Entscheidung einbezogen wurden, zeigt, dass die Biden-Administration | |
| willens und in der Lage ist, über simplen Rechtspositivismus | |
| hinauszudenken. Kurzum: Das Weiße Haus hätte die ganze Zeit schon liefern | |
| dürfen, wollte es aber nicht, weil den Verantwortlichen das dadurch | |
| heraufbeschworene politische Dilemma klar vor Augen stand. | |
| ## Notwendig | |
| Ein Dilemma stellt sich aber zuallererst für die Ukraine. Die Lieferung | |
| wurde nur notwendig, weil die internationale Koalition, die die Ukraine bei | |
| der Verteidigung unterstützt, sie nicht ausreichend mit anderen Waffen | |
| versorgt hat. Diese hätte die Ukraine gebraucht, um die zahlenmäßigen | |
| Nachteile bei Artilleriesystemen und -munition auszugleichen und die | |
| humanitären sowie reputativen Risiken durch den Einsatz von Streubomben gar | |
| nicht erst eingehen zu müssen. Sie hat Streumunition, geliefert von der | |
| Türkei, im Übrigen bereits eingesetzt. | |
| Kyjiw hat also das Für und Wider längst abgewogen und entschieden, dass der | |
| Schaden durch einige zusätzliche Blindgänger auf dem eigenen Territorium | |
| durch den militärischen Gewinn aufgewogen wird – „einige zusätzliche“, … | |
| die Ukraine längst mit russischen Minen und Blindgängern übersät ist, | |
| inklusive der Städte, auf die Russland schon seit Monaten Streumunition | |
| abfeuert. Umso zynischer erscheint vor diesem Hintergrund die aktuelle | |
| „Drohung“ Russlands, in Reaktion auf die Lieferung seinerseits | |
| Streumunition einzusetzen. | |
| Ein Dilemma stellt sich auch für Deutschland, wo die Debatte in den letzten | |
| zwei Wochen besonders intensiv war. Die Sorge ob möglicher negativer | |
| Auswirkungen auf das Streumunitionsverbot, das Völkerrecht oder sogar die | |
| regelbasierte Weltordnung insgesamt ist groß. Aber die Rechtsnorm gilt nun | |
| einmal nicht universell, und abgesehen von den USA und der Ukraine haben | |
| auch eine ganze Reihe von EU- und Nato-Partnern wie Polen, Rumänien, | |
| Estland, Lettland oder Finnland den Vertrag nicht unterzeichnet. | |
| Zudem kann man nur jede und jeden ermutigen, die Sache einmal aus der Sicht | |
| der Ukraine zu betrachten, die ums Überleben kämpft, die rechtlich nicht | |
| verpflichtet ist, auf Streumunition zu verzichten, die diese Entscheidung | |
| getroffen hat und die Konsequenzen zu tragen bereit ist. Nachdem Berlin | |
| sich in den letzten Monaten für die Lieferung aller anderen Waffen samt | |
| ausreichender Munition ausführlichste Debatten gegönnt hat, wäre es | |
| wohlfeil, der Ukraine vom friedlichen Deutschland aus jetzt in den Arm zu | |
| fallen. Das ist freilich auch der Bundesregierung sehr wohl bewusst – und | |
| erklärt, warum der politische Protest, den Deutschland gemäß seiner | |
| Vertragsverpflichtungen einlegen musste, eher verhalten und selektiv | |
| ausfiel. | |
| Die Lieferung der Streumunition ist also keine rein juristische | |
| Schwarz-Weiß-Entscheidung. Es ist vielmehr ein Dilemma mit politischer, | |
| militärischer, völkerrechtlicher und humanitärer Streuwirkung. Nicht alle | |
| betrifft das Dilemma in gleicher Weise, aber niemand entkommt ihm. Die | |
| ganze schreckliche Misere lässt, bestenfalls, zwei schwache | |
| Hoffnungsschimmer erkennen: | |
| ## Debatte stärkt | |
| Erstens könnte das Verbot von Streumunition durch die Debatte womöglich am | |
| Ende sogar gestärkt, statt geschwächt werden. Denn wie wir aus der | |
| Forschung wissen, können Normen Verstöße sehr wohl verkraften – | |
| entscheidend ist, ob in solchen Debatten Zweifel an der Gültigkeit der Norm | |
| geäußert werden, wie das abweichende Verhalten gerechtfertigt wird und wie | |
| Dritte auf den Verstoß reagieren. An diesen Kriterien gemessen, wirkt die | |
| noch junge Norm gegen Streumunition bemerkenswert robust. | |
| Klugerweise zeigen die beiden zentralen Akteure, die USA und die Ukraine, | |
| ein hohes Bewusstsein für die Norm, denn sie hinterfragen die Gründe für | |
| das Verbot nicht und sie rechtfertigen Lieferung und Einsatz | |
| zähneknirschend mit Verweis auf die außergewöhnliche Notlage und | |
| versprechen, während des Einsatzes und danach besondere Vorsicht walten zu | |
| lassen. Sie definieren Streubomben damit als Ultima-ratio-Waffe und | |
| bekräftigen auf diese Weise das Stigma – so wie dies auch die öffentlichen | |
| Reaktionen durch Nichtregierungsorganisationen, Bündnispartner oder Medien | |
| tun. | |
| Zweitens ist für die Ukraine zu hoffen, dass sie nun, da die Entscheidung | |
| gefallen ist, ihre Streitkräfte und ihre Zivilbevölkerung möglichst gut vor | |
| diesen Waffen schützen kann und die Streumunition zugleich ihre | |
| Verteidigungsfähigkeit so weit erhöht, dass dieser Krieg schneller in ihrem | |
| Sinn enden kann, als er es ohne deren Einsatz tun würde. | |
| 22 Jul 2023 | |
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| [1] https://www.watson.ch/international/ukraine/808912317-streumunition-der-usa… | |
| [2] https://www.watson.ch/international/ukraine/808912317-streumunition-der-usa… | |
| ## AUTOREN | |
| Elvira Rosert | |
| Frank Sauer | |
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