# taz.de -- Deportationen aus Moldau in Gulags: Geschichte, die nicht vergeht | |
> Unter Stalin wurden Zehntausende verschleppt. Eine Ausstellung erinnert | |
> an ihr Schicksal. Der russische Botschafter spricht von „Russophobie“. | |
Bild: Historiker schätzen, dass bis zu 120.000 Menschen aus Moldau in Gulags v… | |
CHIșINăU taz | Selbst Temperaturen um die 30 Grad halten die Menschen nicht | |
vom Kommen ab. Die beiden Eisenbahnwaggons, die sich seit Anfang Juli vor | |
dem Regierungsgebäude in der moldauischen Hauptstadt Chișinău befinden, | |
sind durchweg gut besucht. | |
Historiker Ion Ksenofontow führt durch die ungewöhnlichen | |
Ausstellungsräume. Er ist Teil einer Gruppe von Geschichtsprofessoren und | |
Mitarbeitern des Staatsarchivs, die die Schicksale von Menschen | |
dokumentiert haben, die während der Stalinzeit vom Gebiet der heutigen | |
Republik Moldau in Gulags verschleppt wurden. | |
„Natürlich ist es hier jetzt sehr heiß, aber verglichen mit dem, was die | |
Deportierten erleiden mussten, ist das Luxus“, sagt er. „Damals waren | |
Dutzende Menschen darin zusammengepfercht – unter furchtbaren Bedingungen.“ | |
Der [1][Zweite Weltkrieg] hatte für Moldau katastrophale Folgen. Nach | |
Kriegsende erlebte das sowjetisch besetzte Land eine große Zahl von | |
Deportationen nach Sibirien und Mittelasien. Allein in der Nacht vom 5. auf | |
den 6. Juli 1949 verbannte das Regime in Moskau 35.796 Menschen, darunter | |
rund 12.000 Kinder, in Arbeitslager. Sie verließen in Viehwaggons das Land. | |
Es war eine von insgesamt drei Deportationswellen zwischen 1940 und 1951, | |
beginnend kurz nach der Annexion Moldaus durch den Kreml im Juni 1940. | |
Moldau gehörte damals zu Rumänien, doch infolge des geheimen | |
Nichtangriffspakts zwischen Stalin und Hitler forderte Moskau unter | |
Kriegsandrohung, das Gebiet abzutreten. 1941 ging Rumänien dann ein Bündnis | |
mit Nazi-Deutschland ein und startete eine Gegenoffensive zur Rückeroberung | |
des Territoriums. | |
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die heutige Republik Moldau [2][in | |
die Sowjetunion eingegliedert] und 1991, nach deren Zerfall, unabhängig. | |
Wie auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken unterdrückte das | |
stalinistische Regime den Widerstand, indem es die lokale Elite in Gulags | |
deportierte. Historiker schätzen, dass die Gesamtzahl der Deportierten aus | |
der Region zwischen 80.000 und 120.000 liegt. Viele kehrten nie zurück, | |
starben unterwegs oder in den sowjetischen Arbeitslagern. | |
In den Ausstellungswaggons sind Geschichten von Familien dargestellt, die | |
nach Sibirien oder in die Mongolei verschleppt wurden. Auf kleinen Tafeln | |
können Besucher die Erinnerungen der Gefangenen nachlesen. In den | |
Strafkolonien und Lagern hätte er gemeinsam mit Tausenden weiteren Menschen | |
bei Temperaturen von 40 Grad unter Null arbeiten müssen, schreibt einer. | |
Für Kranke habe eine einzige Arznei zur Verfügung gestanden. | |
Die Wissenschaftler um Ion Ksenofontow führen ein Register mit Listen und | |
Dossiers der Deportierten, „damit Menschen nachvollziehen können, wer aus | |
ihrem Wohnort betroffen war“, sagt er. Ksenofontow berichtet von | |
Ausstellungsbesuchern, die ihn gezielt nach deportierten Angehörigen | |
fragten. Ihnen biete man Beratung und Einsicht in die Akten des | |
Staatsarchivs an. | |
Personen, die direkte Nachkommen der Deportierten sind, haben Zugang zu den | |
Dokumenten und dürfen Kopien machen. „Kürzlich ist jemand auf den Fall | |
seines Großvaters gestoßen, er war sehr berührt“, sagt Ksenofontow. | |
Über die Ausstellung erbost sind dagegen Vertreter Russlands. Der russische | |
Botschafter in Moldau, Oleg Wasnezow, erklärte, die beiden Waggons vor dem | |
Regierungsgebäude seien Belege für Russophobie und eine bewusste Anstiftung | |
zum „Hass auf Russland und alles Russische“. | |
## Ein schmerzhaftes Kapitel selbst sehen | |
Mit Eröffnung der Ausstellung habe in der Republik Moldau der „Monat der | |
Russophobie“ begonnen – getarnt als Kampf gegen den Totalitarismus. | |
Bezeichnend sei, dass die Organisatoren mit allen möglichen Installationen, | |
Ausstellungen, Bühnen- und Filmproduktionen die rumänischen „Komplizen von | |
Hitlerdeutschland“ würdigten, schrieb er auf dem Telegram-Kanal der | |
Botschaft. „Sie schweigen über deren Gräueltaten während des Großen | |
Vaterländischen Krieges. Sie verunglimpfen die Soldaten der Roten Armee, | |
die gegen sie gekämpft haben.“ | |
Der russische Botschafter listete auch die Verbrechen der rumänischen | |
Kollaborateure der Nazi-Armee in den Jahren der sogenannten „rumänischen | |
Besatzung“ auf. Die Schrecken des stalinistischen Regimes auf dem Gebiet | |
Moldaus wie Repressionen, Deportationen und die Vernichtung der lokalen | |
Bevölkerung in den Gulags ließ er jedoch unerwähnt. Genauso wie den Hunger, | |
die Kollektivierung, die Beschlagnahme von Eigentum, Russifizierung sowie | |
die Ausbürgerung der örtlichen Bevölkerung. | |
Moldaus Außenminister Nicola Popescu wies die Anschuldigungen der | |
russischen Behörden zurück, nannte sie völlig inakzeptabel und einen | |
Versuch, die tragischen historischen Ereignisse, die Moldau durchgemacht | |
habe, zu verfälschen. „Wir laden Vertreter der russischen Botschaft ein, | |
die Waggons im Zentrum von Chișinău zu besichtigen und mit Experten zu | |
sprechen, um die historische Wahrheit über die von den Sowjets provozierte | |
Hungersnot herauszufinden“, heißt es in einer Erklärung. Gleichzeitig | |
wurden die russischen Behörden „nachdrücklich“ aufgefordert, von jeglicher | |
Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der Republik Moldau abzusehen. | |
Derweil ist der Ansturm auf die Ausstellung groß. Seit Beginn besuchten | |
Tausende Menschen die beiden Waggons – wegen des großen Interesses sollen | |
sie länger als geplant noch bis Ende des Monats geöffnet bleiben. | |
Die 40-jährige Maria Ursu ist mit ihren beiden Kindern da. Sie wolle mit | |
eigenen Augen dieses schmerzhafte Kapitel der Geschichte ihres Volkes | |
sehen, sagt sie. Als sie Schülerin war, noch zu Sowjetzeiten, sei darüber | |
geschwiegen worden. „Ich konnte damals nichts von der Realität wissen. | |
Deshalb bin ich froh, dass ich jetzt die Gelegenheit habe, durch die Worte | |
derer, die damals gelitten haben, etwas über die wahre Geschichte der | |
Deportationen zu erfahren“, sagt sie. Es sei wichtig, die eigene Geschichte | |
zu kennen. „Damit sie sich nicht wiederholt.“ Für die Bürger Moldaus sei … | |
wichtig, zu sehen, „welche Prüfungen unser Volk durchgemacht hat und sich | |
klarzumachen, dass sie einen Großteil ihres Lebens in die Irre geführt | |
worden sind“. | |
Das Regime habe durch die Deportationen die intellektuelle Elite des Landes | |
vernichten und den „Erinnerungsfaden zerreißen“ wollen, sagt Ion | |
Ksenofontow. Er glaubt, die russischen Behörden machten über die | |
Ausstellung deshalb so einen Aufstand, weil der Kreml „wahrscheinlich eine | |
Neuauflage der UdSSR anstrebt und die Deportationen ein dunkler Fleck in | |
der Geschichte ist, der heute Empörung hervorruft.“ | |
Die Ausstellung richte sich keinesfalls gegen das russische Volk. Unter dem | |
stalinistischen Regime hätten selbstverständlich auch die Russen gelitten. | |
„Die Ausstellung befindet sich im Herzen der Republik Moldau und die | |
Botschaft an die Bürger Moldaus ist klar: Vergessen wir unsere Geschichte | |
nicht, denn sonst kann sie sich gegen uns wenden.“ | |
Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
25 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Daniela Calmîș | |
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