# taz.de -- Sally Haslanger über sozialen Wandel: „Denken und Handeln verän… | |
> Die Philosophin Sally Haslanger beschäftigt sich mit sozialen | |
> Veränderungen. Im Kampf gegen die Klimakrise brauche es Debatten über | |
> Ungerechtigkeit, sagt sie. | |
Bild: Klimaprotest muss Menschen verständlich gemacht werden, sagt die Philoso… | |
taz: Sally Haslanger, in der Gesellschaft grassieren struktureller | |
Rassismus, ungerechte Klassen- und Genderverhältnisse – und zu allem Übel | |
spitzt sich die Klimakrise zu. Als Philosophin beschäftigen Sie sich mit | |
all diesen Problemen und ihren Zusammenhängen. Warum rufen Sie nicht zur | |
Revolution auf? | |
Sally Haslanger: Ich bin nicht wirklich sicher, wie ein revolutionärer | |
Wandel heute aussehen würde. Und ich denke, es wäre schwierig, viele Leute | |
wirklich mit an Bord zu bekommen, wenn diesem großen Wandel nicht viele | |
inkrementelle Veränderungen vorausgehen würden. Also viele kleinteilige | |
Schritte, die aufeinander aufbauen. So als würden wir am System sägen, um | |
es zu destabilisieren, bis es irgendwann fällt. Das fühlt sich für mich | |
aber nicht revolutionär im eigentlichen Sinn an, sondern eher wie ein | |
stetiger Prozess. | |
Momentan scheint dieses System noch relativ stabil zu sein. Wo sehen Sie | |
Ansatzpunkte für solche Veränderungen? | |
Ein gutes Beispiel ist die LGBTQ-Bewegung der vergangenen Jahrzehnte. Sie | |
war sehr machtvoll und hat es auf brillante Weise geschafft, unsere Normen, | |
unsere Sprache und unser Denken über Hochzeit, Sexualität, Geschlecht und | |
Gender zu verändern. „Nicht-binär“ zum Beispiel: Vor wenigen Jahren war d… | |
kein Wort, das irgendwer in der breiteren Gesellschaft genutzt hat. Dadurch | |
gab es eine Lücke in unserem Denken, die es Menschen schwer gemacht hat, | |
bestimmte Dinge über ihre Körper und ihre Begehren überhaupt nur zu wissen. | |
Die Bewegung hat es geschafft, diese Lücke zu schließen. | |
Manche Kritiker*innen nennen [1][das Identitätspolitik] und sagen, das | |
wären nur kulturelle Veränderungen, die materiell nichts brächten. | |
Das ist nicht alles nur in unseren Köpfen. Das ist auch sehr materiell. | |
Denken wir ans Heiraten. Wenn Menschen heiraten, haben sie oft rechtliche | |
und ökonomische Vorteile. Wenn nun die kulturelle Offenheit, die die | |
Bewegung kreiert hat, dazu führt, dass Menschen einander unabhängig von | |
ihrem Gender heiraten können, hat das einen großen materiellen Einfluss auf | |
ihre Lebensbedingungen. | |
Kulturelle Veränderungen als Hebel für materielle Verbesserungen also? | |
Ja, richtig. Und das funktioniert auch andersherum. In der Klimakrise zum | |
Beispiel. Sie verändert unsere Lebensbedingungen sehr materiell. Sie | |
beeinflusst die elementaren Möglichkeiten und Risiken, die Menschen in | |
ihren Leben haben. Aber sie birgt auch das Potential, die Gesellschaft sehr | |
stark zu verändern. Wenn wir wegen des Klimas streiken oder eine Straße | |
blockieren, sind das wichtige materielle Eingriffe, die im Kleinen eine | |
kulturelle Wirkung entfalten. Wir können darüber mit Menschen interagieren, | |
ohne sie direkt überzeugen zu müssen. Sie kommen dann kaum drum herum, sich | |
mit unseren Themen auseinandersetzen. Möglicherweise sehen sie dann: „Oh, | |
hier gibt es Ungerechtigkeiten. Dort gibt es Armut. Und es gibt Menschen, | |
die machen etwas dagegen.“ Das kann ihr Denken und Handeln verändern. | |
In 2019 hat die Klimagerechtigkeitsbewegung allein in Deutschland mehr als | |
eine Million Menschen auf die Straßen gebracht. Seit Jahren gibt es | |
regelmäßigen Protest. Die großen politischen Veränderungen blieben bisher | |
aus. Im Gegenteil: Gerade weht erheblicher öffentlicher Gegenwind und | |
[2][Klimaaktivist*innen] werden vermehrt kriminalisiert. Wie erklären | |
Sie das? | |
Ich denke, wenn politische Veränderungen den Menschen zu weit und zu | |
schnell gehen, fangen sie an, sich dagegen zu wehren. Großer Wandel | |
bedeutet für viele den Verlust von Orientierung und Handlungsfähigkeit. Sie | |
haben ihr Leben lang gelernt, welches Verhalten normal und richtig ist, was | |
wertvoll ist und was nicht. Das aufzugeben, kann Angst machen. Für meine | |
Tochter zum Beispiel war es lange vollkommen normal, Wasser aus | |
Plastikflaschen zu trinken. Als ich ihr zum ersten Mal gesagt habe: „Das | |
ist nicht gut für die Umwelt und damit unterstützt du einen Großkonzern“, | |
ging das völlig an ihr vorbei. Es hat viel Überzeugungsarbeit gebraucht, | |
bis sie das sehen konnte. Und das ist auch gesellschaftlich notwendig. | |
Große Veränderungen brauchen eine starke gesellschaftliche Basis, die sie | |
trägt. Diese Basis zu schaffen, bedeutet Überzeugungs- und auch | |
Organisierungsarbeit. Wir müssen mit den Menschen reden, ihnen bewusst | |
machen, was das Problem für sie persönlich bedeutet und sie in die | |
Lösungssuche miteinbeziehen. Das ist mühsam, manche Gespräche sind | |
kompliziert und manche wollen auch gar nicht reden. Aber wir sollten uns | |
die Mühe machen. Darüber können wir verändern, was als normal, als richtig | |
und erstrebenswert gilt. Darauf kann politischer Wandel dann aufbauen. | |
Mit allen zu reden, ist auch organisatorisch schwierig. Besonders in der | |
Klimadebatte drohen Lösungen deshalb leicht zu eng gedacht zu werden. Wie | |
lässt sich das ändern? | |
Wir sollten besser darin werden zu verstehen, wie die Klimakrise und andere | |
Ungerechtigkeiten zusammenhängen. Zum Beispiel, dass Frauen in Zeiten von | |
Katastrophen besonders stark belastet sind durch Sorgearbeit. Und wir | |
sollten darauf achten, dass keine Veränderungen auf Kosten von Gruppen | |
geschehen, die gesellschaftlich besonders vulnerabel sind: Menschen im | |
Globalen Süden, Migrant*innen, Menschen der Arbeiter*innenklasse und | |
BIPOCs, deren Welten durch den globalen Kapitalismus und Kolonialismus | |
zerstört wurden. Um das sicherzustellen, ist Community Building wichtig. | |
Also der Aufbau von Strukturen gegenseitiger Hilfe auf Nachbarschaftsebene, | |
angelehnt beispielsweise an das großartige Konzept „Mutual Aid“ von Dean | |
Spade. Darüber hinaus sollten wir versuchen, Räume zu schaffen, in denen | |
all diese unterschiedlichen Perspektiven Gehör finden und zusammenarbeiten | |
können. Und weil es aus meiner Sicht keine Gruppe gibt, die komplett divers | |
ist und alle Perspektiven vertreten kann, braucht es hierfür auch | |
Bündnisarbeit. Die wiederum kann weiterreichende Effekte haben: Gruppen | |
vernetzen sich miteinander, verbinden sich weiter mit anderen, die sich | |
wieder weiter und weiter verbinden. So kann sich organisch ein großes, | |
machtvolles Netzwerk entwickeln. | |
Solchen vielversprechenden Bemühungen scheinen oft ihrerseits machtvolle | |
Personen und Institutionen entgegenzustehen und sie zu blockieren. | |
Die sollten infiltriert werden (lacht). Ich bin auch in einer relativ | |
machtvollen Position und ich halte permanent dagegen. Das ist ein Weg. Aber | |
natürlich hilft es auch, mit ihnen zu reden. Klar, ein Trump lässt sich | |
nicht überzeugen. Aber es gibt viele Menschen in relativ machtvollen | |
Positionen, also Politiker*innen, Anwält*innen, Unternehmer*innen, die | |
unsere Anliegen teilen oder offen dafür sind. Mit denen müssen wir reden. | |
Auf unterschiedlichen Ebenen müssen wir Netzwerke bilden und uns | |
miteinander organisieren. Organisieren, organisieren, organisieren – um | |
Schwung in die Sache zu bringen. | |
12 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Bachmann | |
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