# taz.de -- Lukaschenko und Russlands Atomwaffen: Putins Mann in Belarus | |
> Lukaschenkos atomares Säbelrasseln ist unverantwortlich. Aber es ist | |
> nicht zuletzt auch ein vorsichtiges Gesprächsangebot an den Westen. | |
Bild: Lukaschenko hat durch den Ukraine-Krieg in Russland an Ansehen gewonnen | |
Seit Monaten schlägt Juri Felschtinski Alarm. Der amerikanisch-russische | |
Historiker geht von einem düsteren Szenario aus: Um das Blatt im | |
Ukrainekrieg doch zu seinen Gunsten zu wenden, bereite der Kreml einen | |
Atomschlag auf Polen oder Litauen vor und würde dafür gezielt das | |
Territorium des Satellitenstaates Belarus verwenden. | |
Putins perfides Kalkül, so Felschtinski, ist dieses: Im Ernstfall würden | |
Washington, London und Paris einen atomaren Schlagabtausch nicht riskieren | |
und ihre osteuropäischen Partner sowie vor allem die Ukraine im Stich | |
lassen. Und sollten die USA doch mit Atomwaffen antworten, würden sie | |
Belarus, nicht Russland treffen. | |
Diese apokalyptischen Thesen finden Gehör – in Osteuropa. In Westeuropa | |
werden sie hingegen als Panikmache zurückgewiesen: Einerseits sind sie zu | |
erschreckend; andererseits genießt Felschtinski einen ambivalenten Ruf, | |
wobei ihm eine gewisse Neigung zu Verschwörungstheorien unterstellt wird. | |
Noch in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren hat er mit dem früheren | |
Offizier des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Alexander Litwinenko, | |
zusammengearbeitet, [1][der 2006 in London mit Polonium-210 vergiftet | |
wurde]. Litwinenko und Felschtinski warfen damals dem FSB grausame | |
Verbrechen vor, darunter auch die [2][Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser | |
in Moskau 1999]. | |
## Genüsslich als Haudegen inszeniert | |
Aber vielleicht hat der radikale Kreml-Kritiker recht und die westliche | |
Politik agiert fahrlässig, indem sie den Faktor Belarus übersieht? | |
Inzwischen spricht tatsächlich einiges für Felschtinskis Theorie. Moskau | |
hat die Stationierung seiner taktischen Atomwaffen im Nachbarland bereits | |
verkündet. [3][Die Atomdrohungen gehören längst zum Arsenal der russischen | |
Propaganda]. So stellt etwa der ehemalige Staatspräsident Dmitri Medwedew | |
die Auslöschung Polens in Folge eines Atomkrieges in Aussicht. Der | |
einflussreiche Politikwissenschaftler Sergei Karaganow fordert einen | |
präventiven Atomangriff auf Europa. | |
Und da gibt es noch den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, | |
der beim Thema Atomwaffen immer häufiger im Vordergrund steht und sich | |
dabei genüsslich als Haudegen inszeniert, der die taktischen russischen | |
Atomwaffen bereits nach Belarus geholt habe und dort in Zukunft auch | |
strategische Atomwaffen stationieren lassen könne. | |
Weiterhin behauptet Lukaschenko, an Entscheidungen über den Einsatz von | |
Atomwaffen beteiligt zu sein, und lässt zudem die | |
Entscheidungsträger*innen im Westen wissen, seine Hand würde nicht | |
dabei zittern, wenn er auf die „Atomknöpfe“ drücken müsse. | |
Was spielt Lukaschenko da? Lange unterschätzt und belächelt, wird er von | |
westlichen Politiker*innen und Beobachter*innen eher als | |
Marionette wahrgenommen, welche zwar keinerlei Einfluss habe, jedoch | |
überzeugend die ihm vom Kreml zugewiesene Rolle eines unberechenbaren | |
Diktators mit Atomwaffen verkörpere. Seine Eskapaden sollten helfen, die | |
Nato im Vorfeld des Juli-Gipfels in Vilnius zusätzlich zu verunsichern und | |
ihre Entscheidungen hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine zu | |
beeinflussen. | |
Dass Lukaschenko seine Auftritte im Auftrag des Kremls oder zumindest in | |
Absprache mit Putin macht, scheint naheliegend. Moskau betont zwar | |
gelegentlich, dass Russland die Kontrolle über die Atomwaffen im | |
Nachbarland obliege. Die russische Führung lässt Lukaschenko allerdings | |
gewähren und macht gleichzeitig keinen Hehl daraus, dass Belarus als | |
russische Einflusszone betrachtet wird. | |
## Der „Retter Russlands“? | |
Juri Felschtinskis Grundannahme, Belarus solle von Moskau lediglich als | |
Vorhang verwendet werden, erweist sich somit als nicht stichhaltig, denn | |
Putin macht keinen Unterschied mehr zwischen Belarus und dem russischen | |
Kerngebiet. Und auch der Westen betrachtet die Atomwaffen in Belarus als | |
ein russisches Projekt, für das Moskau Verantwortung trägt. | |
Der Autokrat aus Minsk ist zwar ein williger Vollstrecker der | |
Kreml-Politik. Jedoch agiert er stets auf seine eigenen Interessen bedacht. | |
Die [4][groteske Wagner-Meuterei] kommt ihm zupass. Obschon die Rolle, | |
welche Lukaschenko [5][in Verhandlungen mit dem Wagner-Chef Jewgeni | |
Prigoschin] tatsächlich gespielt hat, nach wie vor unklar bleibt, wird er | |
vom Kreml zum „Friedensstifter“, sogar zum „Retter Russlands“ stilisier… | |
In der Russischen Föderation ohnehin beliebt, genießt der belarussische | |
Machthaber [6][nunmehr außergewöhnliche Anerkennung]. In der neuesten | |
Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum gehört er sogar zur | |
Spitze vertrauenswürdiger Politiker, vor Außenminister Sergei Lawrow und | |
nicht weit hinter Putin. | |
## Absicherung seiner Herrschaft | |
Dies, gepaart mit russischen Atomwaffen und der geplanten Stationierung der | |
Wagner-Gruppe in Belarus, führte kurzfristig zu einer rasanten Aufwertung | |
Lukaschenkos in der westlichen Presse. Manche Medien brachten ihn sogar als | |
Putins Nachfolger ins Spiel. | |
Europas dienstältester Diktator fühlt sich dadurch offenbar geschmeichelt. | |
Den Traum vom Kreml, den er in den späten 1990er Jahren gehegt haben soll, | |
scheint er aber längst aufgegeben zu haben. Heute verfolgt er bescheidenere | |
Ziele. | |
Vom Westen isoliert und von Russland stark abhängig, will Lukaschenko seine | |
autoritäre Diktatur, die inzwischen mehr als 1.500 politische Gefangene in | |
Haft hält, konsolidieren und die turbulente Kriegssituation unbeschadet | |
überstehen. Da er weiterhin unter dem Eindruck der Proteste von 2020 steht | |
und einen von der Ukraine beziehungsweise vom Westen unterstützten | |
Umsturzversuch befürchtet, betrachtet er sowohl die Atomwaffen als auch die | |
Wagner-Gruppe als eine zusätzliche Absicherung für seine Herrschaft. | |
Sein unverantwortliches atomares Säbelrasseln ist nicht zuletzt ein | |
vorsichtiges Gesprächsangebot an den Westen, mit dem Lukaschenko einen | |
Modus Vivendi nach dem Ukrainekrieg aushandeln möchte, aus der Position | |
einer vermeintlichen Stärke. | |
10 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Alexander Friedman | |
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