# taz.de -- Tschetschenischer Anwalt im Interview: „Glieder einer Kette“ | |
> Abubakar Jangulbajew ist Menschenrechtler und Anwalt. Er spricht über die | |
> Dekolonisierung Russlands und den Überfall auf die russische Journalistin | |
> Jelena Milaschina. | |
Bild: Die von tschetschenischen Sicherheitskräften misshandelte russische Jour… | |
Zarema Musajewa, die Ehefrau des pensionierten Bundesrichters Saidi | |
Jangulbajew und Mutter des tschetschenischen Menschenrechtsaktivisten und | |
Anwalts [1][Abubakar Jangulbajew], wurde am Dienstag von einem | |
tschetschenischen Gericht [2][zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt.] | |
Musajewa war Anfang 2022 von tschetschenischen Sicherheitskräften aus | |
Nischnij Nowgorod nach Grosny verschleppt worden. Ihre Söhne, Abubakar, | |
Ibragim und Baysangur sind allesamt lautstarke Kritiker des | |
tschetschenischen Führers Ramsan Kadyrow, weshalb die Familie in den | |
letzten zehn Jahren zunehmend Drohungen und Verfolgung ausgesetzt war. | |
taz: Herr Jangulbajew, am Dienstag wurde in Grosny Ihre Mutter, Zarema | |
Musajewa, zu fünfeinhalb Jahren verurteilt. Kurz vorher haben Unbekannte | |
die Journalistin Jelena Milaschina und den Anwalt Alexander Nemow | |
angegriffen und schwer misshandelt, als sie auf dem Weg zu diesem Prozess | |
waren. Was glauben Sie, wer diesen Angriff angeordnet hat und wer hinter | |
der Entführung Ihrer Mutter im letzten Jahr steckt? | |
Abubakar Jangulbajew: Hinter dem Angriff und der Entführung steckt dieselbe | |
Person wie auch hinter all den anderen Angriffen auf Menschenrechtler und | |
unabhängige Journalisten in den Jahren zuvor. Für mich sind die Angreifer, | |
Organisatoren und ihre Auftraggeber dasselbe – Ramsan Kadyrow und sein | |
System. Er verheimlicht es nicht einmal, sondern kündigte solche Angriffe | |
vermehrt öffentlich in seinen aggressiven Ausfällen an. | |
Vor ein paar Tagen wurde auch gegen Sie ein Verfahren wegen Extremismus | |
eingeleitet. Was waren die Gründe dafür? | |
Dieses Verfahren wurde eröffnet, nachdem ich zusammen mit Freunden eine | |
politische und nachrichtliche Onlineplattform mit dem Namen „Kost“ | |
(tschetschenisch für Botschaft) gegründet habe. Dort schrieben wir von den | |
genozidalen russischen Angriffskriegen gegen Tschetschenien, die etwa | |
300.000 Todesopfer auf tschetschenischer Seite forderten. Gleichzeitig gibt | |
es keine Informationen darüber, wie viele verletzt wurden, wie hoch der | |
Sachschaden gewesen und wie viel Infrastruktur zerstört worden ist. Von | |
Russland wurden bis heute keine Untersuchungen diesbezüglich durchgeführt, | |
obwohl es eine Menge Beweise gibt und der europäische Gerichtshof für | |
Menschenrechte mehrere Hundert Fälle diesbezüglich vorliegen hat. Auch | |
Memorial und Human Rights Watch haben Russland für seine Verbrechen in | |
Tschetschenien angeklagt. Wir wollen die Wahrheit und die Anerkennung | |
dieser Kriege als Genozid. Auf unserer Plattform haben wir außerdem an | |
tschetschenische Dissidenten und ihren Widerstand gegen die russische | |
Kolonisation des Kaukasus Ende des 19. Jahrhunderts erinnert. Der | |
Regierungssitz Kadyrows ist buchstäblich auf ihren Gräbern erbaut. | |
Sie betonen in Ihrer Arbeit das Recht auf Unabhängigkeit für Tschetschenien | |
und unterstützen dekoloniale Bewegungen in der Russischen Föderation. | |
Ich unterstütze das Selbstbestimmungsrecht der Völker gemäß den Vereinten | |
Nationen. Wenn Russland wirklich als Föderation existieren will, dann | |
sollte es Referenden in allen Regionen geben, damit Menschen über ihre | |
Zugehörigkeit zu Russland abstimmen können. Während westliche, ehemalige | |
Imperien ihre Kolonien hinter sich ließen, verweigerte Russland | |
beziehungsweise die Sowjetunion im 20. Jahrhundert das Eingeständnis, | |
jemals imperial gewesen zu sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und den | |
Unabhängigkeitserklärungen etlicher ehemaliger Sowjetrepubliken, gab es | |
Wahlen in Tschetschenien, das daraufhin mit dem Segen von Gorbatschow | |
souverän wurde. Auch Tatarstan hatte den Willen zur Unabhängigkeit von | |
Russland bekundet und Wahlen durchgeführt. Trotzdem marschierte Russland | |
1994 in Tschetschenien ein und beendete damit den dekolonialen Prozess in | |
ganz Russland. Nach einem fast 20-jährigen Krieg bekamen wir ein vom Kreml | |
installiertes Regime, um Tschetschenien in der Russischen Föderation zu | |
halten. | |
Ramsan Kadyrow ist heute an der Macht in Tschetschenien. Was glauben Sie, | |
wie groß ist sein Rückhalt noch in der tschetschenischen Bevölkerung? | |
Er genießt keine breite Unterstützung. Egal welcher politischen Ideologie | |
die Leute anhängen oder welcher gesellschaftlichen Schicht sie angehören, | |
sie können ihn nicht ausstehen. Und sie machen auch keinen Unterschied | |
zwischen Ramsan und Wladimir. | |
Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen der Ukraine und Tschetschenien? | |
Das, was heute in der Ukraine passiert, die Kriege, die Russland auch in | |
Georgien und Syrien führte, die Revolutionen, die Russland in Kasachstan, | |
Belarus unterdrückte – all das sind Glieder einer Kette. All das begann in | |
Tschetschenien. Russland hatte anfangs versprochen, demokratisch zu sein, | |
hat seinen Weg aber mit kriegerischer Aggression in Tschetschenien | |
begonnen. Bombardierungen, Folter, Vergewaltigung, [3][Filtrationslager], | |
Plünderungen, Hinrichtungen, Propaganda. All diese Kriege tragen die | |
gleiche Handschrift. Der Unterschied ist, dass die Ukraine 40-mal größer | |
ist als Tschetschenien und ihr westliche Unterstützung zuteil wird. Niemand | |
scherte sich damals um Tschetschenien, trotzdem gewannen wir den ersten | |
Krieg gegen Russland. | |
Nur wenige Menschen in Deutschland sind sich der verbrecherischen Kriege | |
Russlands gegen Tschetschenien bewusst. Wie viel wissen die Russen selbst | |
darüber? | |
Der Großteil der Russen denkt, dass man in Tschetschenien gegen Terroristen | |
gekämpft hat, wenn sie überhaupt etwas wissen. Selbst wenn man anerkennt, | |
dass es in Tschetschenien Terrorismus gegeben hat – [4][was 2004 in Beslan | |
passierte,] steht außer Frage – hat Russland damit begonnen, | |
Terroranschläge zu inszenieren, um den Krieg gegen Tschetschenien zu | |
rechtfertigen, und gleichzeitig Tschetschenen qua Nationalität zu | |
Terroristen erklärt. Außerdem bombardierte Russland täglich Dörfer und | |
Moscheen, tötete Kinder, Frauen und Alte, führte Massenerschießungen durch. | |
Das ist Terror. Wenn ich darauf hinweise, reagieren selbst liberale Russen | |
empört. Die Propaganda hat auch hier gewirkt. Außerdem haben ihre Väter in | |
diesem Krieg gekämpft. | |
Wie stark schätzen Sie die dekoloniale Bewegung in Russland ein? | |
Ich glaube, sie wurde erst geboren und wird immer lauter. Zu ihrem | |
Tätigkeitsbereich gehört die Analyse dessen, wie viele und wie | |
überproportional häufig Angehörige von Minderheiten in den Krieg gegen die | |
Ukraine geschickt werden, wie viele von ihnen sterben, wie viel schlechter | |
sie ausgerüstet sind. Außerdem stellen sie die Frage danach, wohin die | |
Gelder für die Entwicklung ihrer Regionen verschwinden. Trotzdem fühlen | |
sich nicht alle Angehörigen ethnischer Minderheiten zugehörig zu dieser | |
Bewegung. Denn im politischen Sinne sind sie noch immer Repräsentanten | |
Russlands. Ich denke, dass sich die Bewegung trotz der Repressionen | |
stabilisieren wird. Die Zukunft Russlands liegt im heutigen Tschetschenien. | |
Das bedeutet nicht, dass überall in Russland irgendwann der Hidschab auf | |
den Straßen getragen wird. Es geht hierbei um die Menschenrechtslage und | |
Militarismus. Alles, was in Tschetschenien kultiviert und ausprobiert wird, | |
wird irgendwann auch auf ganz Russland angewandt. Zum Beispiel war es schon | |
2015 verboten, Kadyrow zu kritisieren, jetzt gilt dies für Putin in ganz | |
Russland so. Aktuell können wir die Erosion der Frauen- und LGBT-Rechte | |
beobachten. Und ich denke, wenn Tschetschenien irgendwann frei sein wird, | |
wird auch Russland frei sein. | |
7 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Anastasia Tikhomirova | |
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