# taz.de -- Kinderbuchverfilmung von Pietro Marcello: Die Welt der Magie retten | |
> Der italienische Regisseur Pietro Marcello verfilmt mit „Die Purpursegel“ | |
> ein russisches Kinderbuch. Er inszeniert es als märchenhafte Befreiung. | |
Bild: Juliette Jouan steigt aus dem Cockpit eines Flugzeugs | |
In den gedämpften Farben der Dämmerung kehrt Raphaël aus dem Ersten | |
Weltkrieg, der zur Zeit der Handlung noch ohne Nachfolger der Große Krieg | |
war, zurück in sein Dorf. Während der schweigsame Bärtige mit den großen | |
Händen ein Stück Brot hält, stellt ihm Adeline, die Besitzerin des Hofs, | |
auf dem Marie, seine Frau, gelebt hat, seine Tochter Juliette vor. Adeline | |
zeigt ihm die Kammer, in der seine Frau gelebt hat. Raphaël kann bleiben, | |
wenn er sich auf dem Hof nützlich macht. Er arbeite mit Holz, hat Marie | |
Adeline gesagt. | |
Am nächsten Tag sitzt Raphaël am Friedhof auf einem Schemel vor Maries Grab | |
und spielt Akkordeon. Um ihn herum Kreuze aus Eisen und Holz, über ihm | |
zieht ein Schwarm Möwen im Wind. Am Abend geht er auf ein Glas Wein in die | |
Dorfkneipe. Dann springt der Film in der Zeit voraus, denn [1][Pietro | |
Marcellos neuester Film „Die Purpursegel“] erzählt die Geschichte von | |
Juliette, Raphaëls Tochter. | |
Juliette wächst heran, Raphaël beginnt bei einer Werft in der Nähe zu | |
arbeiten. Obwohl er allmählich seinen Platz zu finden scheint, ist | |
unübersehbar, dass die Menschen im Dorf ihm aus dem Weg gehen. Auch heißt | |
Adeline nicht gut, dass Raphaël die Dorfkneipe frequentiert. Als er sie | |
damit konfrontiert, gesteht sie ihm, dass Marie gestorben ist, nachdem sie | |
vom Gastwirt vergewaltigt wurde. Er verliert seine Stellung in der Werft | |
und beginnt, Spielzeuge herzustellen, Juliette beginnt zu komponieren. | |
## Welkende Blätter, fallender Schnee | |
Blätter verwelken, Schnee fällt von Bäumen. Eine Biene sammelt Pollen auf | |
einer Blüte. Die Fäden eines Spinnennetzes wogen im Wind, Gewitterwolken | |
ziehen. Blätter beben auf dem Wasser eines Sees. Aufnahmen vom Wandel der | |
Natur gliedern Juliettes Aufwachsen. Trotz der Hänseleien im Dorf sind es | |
glückliche Kinderjahre, gefüllt mit den Spielzeugen des Vaters und Gesang. | |
Der Hof wird ein Gegenraum zum Dorf mit seinen Strukturen der Gewalt. | |
Unter der Leitung Adelines schaffen Raphaël und Juliette gemeinsam mit dem | |
Schmied Marek und seiner Frau Fatima dort eine Zweckgemeinschaft, bilden | |
eine Zelle von Heiterkeit und ein Refugium der Sensibilität. | |
Die Dorfbewohner spüren diesen Gegenentwurf. Einer von ihnen bezeichnet den | |
Hof als „cour des miracles“ (wörtlich „Hof der Wunder“), eine alte | |
Bezeichnung, die seit dem 17. Jahrhundert für die Pariser Slums geläufig | |
war. | |
## Das Flugzeug landet | |
Das Klackern einer Elster, die Juliette auf dem Fensterbrett besucht, | |
verkündet eine Wende ins Magische, ins Märchenhafte. Wenig später trifft | |
Juliette beim Spielen im Wald eine ältere Frau. Verzückt vom Spiel des | |
Kindes beklagt die Alte, dass niemand aus dem Dorf mehr singe, niemand mehr | |
an Magie glaube. Dann sagt sie Juliette voraus, als junge Frau werde sie | |
eines Morgens purpurne Segel am Himmel sehen, die sie in ein fernes Land | |
bringen werden. Wenig später landet ein Flugzeug auf einer Wiese in der | |
Nähe des Hofes. | |
Der Film „Die Purpursegel“ basiert auf dem 1923 publizierten Roman „Das | |
Purpursegel“ des russischen Schriftstellers Alexander Grin, den Marcello | |
mit einigen Modifikationen adaptiert. Der Film „Die Purpursegel“ ist | |
Märchen, Parabel der Befreiung und Wiederbelebung des europäischen | |
Arthousekinos zugleich. Zu Beginn von Marcellos Film mit Raphaëls Rückkehr | |
aus dem Krieg und seiner Ankunft auf dem Hof dominieren realistische, fast | |
dokumentarische Szenen, die im Verlauf des Films immer mehr der narrativen | |
Logik mit ihrer Tendenz ins magisch-märchenhafte weichen. | |
## Verknüpfung der Elemente | |
Marcellos Kunst liegt in der Eleganz, mit der er die verschiedenen Elemente | |
seines Films verbindet. Das gilt auch für seine Darsteller_innen: Während | |
„Die Purpursegel“ für Hauptdarstellerin Juliette Jouan (Juliette) das | |
Filmdebüt ist und auch Raphaël Thiéry (Raphaël) erst seit knapp zehn Jahren | |
in Filmen auftritt, sind Noémie Lvovsky (Adeline) und Louis Garrel, der den | |
Co-Piloten des Flugzeugs spielt, Routiniers. Wie schon in den | |
vorangegangenen Filmen durchwebt Marcello auch die Szenen seines neuen | |
Films mit Material aus anderen Werken. | |
Zu Beginn sind Archivaufnahmen vom Tag der Aushandlung des | |
Waffenstillstands in Compiègne 1918 zu sehen. Später, als Juliette mit | |
einer Freundin einen Ausflug in die Stadt unternimmt, fügt Marcello eine | |
Szene aus Julien Duviviers „Au bonheur des dames“ von 1930 ein. Diese zeigt | |
eine opulente Kaufhausszenerie. Marcello greift den Sepiaton des alten | |
Filmmaterials auf und fügt nahtlos eine Episode ein, in der Juliette einen | |
Hut aufprobiert. | |
[2][2015 erweiterte Pietro Marcello die Formenvielfalt seiner Filme über | |
den Dokumentarfilm hinaus. In „Bella e perduta“] kombinierte er | |
Versatzstücke der Commedia dell’arte mit Halbdokumentarischem. Mit | |
[3][„Martin Eden“ (2019) wechselte Marcello aus der italienischen | |
Produktionslandschaft in die französische]. „Martin Eden“ zeigt, basierend | |
auf dem gleichnamigen, teils autobiografischen Roman von Jack London, einen | |
jungen Mann, der als Autodidakt gesellschaftlich aufsteigt, indem er eine | |
Frau aus gehobener Familie heiratet. | |
Der Film feierte auf den Filmfestspielen von Venedig Premiere, wurde in | |
diverse renommierte Bestenlisten des Jahres 2019 aufgenommen und besiegelte | |
Pietro Marcellos Durchbruch. Parallel zu seiner Karriere als | |
Spielfilmregisseur hat Marcello weiterhin Dokumentationen realisiert – | |
zuletzt über den Musiker [4][Lucio Dalla („Per Lucio“, 2021)], über die | |
italienische Jugend („Futura“, gemeinsam mit Alice Rohrwacher und Francesco | |
Munzi, 2021) und aktuell über die Wurzeln der Partisanen im sowjetischen | |
Widerstand gegen die deutsche Besatzung („L’ultimo fronte“, 2023). | |
Spielfilme bilden schon deshalb das Herz von Marcellos Werk, weil sich in | |
ihnen Motive finden, die diese untereinander in Verbindung setzen. | |
## Bedrohliche Industrialisierung | |
So beschwor auch „Martin Eden“ den Verlust jener archaisch-magischen Welt, | |
die schon in „Bella e perduta“ anklang. In „Die Purpursegel“ im Leben a… | |
dem Hof und in Juliettes Kindheit zwischen Hof und Wald klingt sie | |
ebenfalls an. Alle drei Filme sind durchzogen von der Bedrohung dieser Welt | |
der Magie und der Märchen durch Industrialisierung und Einführung der | |
Arbeitsteilung. | |
Die Kombination jener Elemente evoziert im Kontext des italienischen Kinos | |
beinahe unvermeidbar Pier Paolo Pasolini und dessen antimodernistische | |
Privattheorie. Dass Marcello auf Anraten seiner Produzenten Charles | |
Gillibert und Romain Blondeau ausgerechnet einen Märchenroman des frühen | |
20. Jahrhunderts als Vorlage wählt, lässt stutzen. 1961 adaptierte | |
Alexander Ptuschko Grins „Purpursegel“ für Mosfilm als biedere | |
Märchengeschichte einer jungen Frau, die von einem Adeligen erwählt wird. | |
Marcello treibt – mit Bezug zu Grins Vorlage – der Erzählung jeden | |
patriarchalen Muff aus. Die Patchworkfamilie auf dem Hof steht unter | |
Adelines liebevoller Fuchtel. Juliette befreit sich durch Talent, Bildung | |
und Weltoffenheit von Marcello, ohne dafür auf weiße Ritter angewiesen zu | |
sein. | |
In einem Text im Presseheft zum Film kokettiert Marcello mit Grins | |
mehrfacher Verhaftung in den revolutionären Wirren am Ende des | |
Zarenreiches. Angesichts dieses politischen Aufblinkens kollidiert die | |
Spannung zwischen der Schönheit der Inszenierung und der träumerischen | |
Leichtigkeit der Märchenhandlung mit den deutlichen, aber letztlich für die | |
Filmform folgenlosen Anklängen politischen Denkens in Marcellos Werk. Diese | |
Ungereimtheit sollte aber niemanden davon abhalten, „Die Purpursegel“ zu | |
sehen – idealerweise in einer lauen Sommernacht, die zum Träumen einlädt. | |
6 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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