| # taz.de -- Besuch im Okkupationsmuseum Riga: Erstaunliche Parallelen | |
| > Lettland wurde 1940 sowjetisch besetzt, die Ostukraine 2022 russisch. | |
| > Dazu findet unser Autor in einem lettischen Museum viele Gemeinsamkeiten. | |
| Bild: Ein Mann fährt Fahrrad mit den Flaggen der Volksrepublik Luhansk und Rus… | |
| Ich hatte die Gelegenheit, das Okkupationsmuseum in Lettland zu besuchen, | |
| das sich an historischem Ort in der lettischen Hauptstadt Riga befindet. | |
| Die Ausstellung in dem Museum zeigt sowohl die Okkupation durch | |
| Nazi-Deutschland als auch die sowjetische Besetzung Lettlands im 20. | |
| Jahrhundert. Ich möchte in meinem Artikel den Akzent vor allem auf die | |
| Annexion der Republik Lettland durch die Sowjetunion legen und diese damit | |
| vergleichen, was heute in meiner Heimatregion und anderen temporär | |
| besetzten Gegenden der Ukraine passiert. | |
| Wladimir Putin nennt Russland nicht umsonst den Rechtsnachfolger der UdSSR, | |
| denn die damaligen Methoden der Annexion von Gebieten und die Politik der | |
| Russen und ihrer Handlanger ähneln auf unheimliche Weise dem, was heute in | |
| der Ukraine passiert. | |
| Am 16. Juni 1940 stellten die Sowjets der Regierung von Lettland ein | |
| Ultimatum: Sie sollte abdanken und einem Regierungswechsel zustimmen. | |
| Kārlis Ulmanis, Ministerpräsident von Lettland, nahm das sowjetische | |
| Angebot an. Und schon am 17. Juni überquerte die Rote Armee die Grenze zu | |
| Lettland. | |
| Auf den Bildern von diesem Tag, die im Museum ausgestellt sind, sieht man | |
| viele Schaulustige. Aber, so erzählt der Museumsmitarbeiter, waren viele | |
| der Neugierigen in Zivil gekleidete sowjetische Soldaten. Mit dieser | |
| Maskeraden taten die Russen so, als gäbe es eine breite Unterstützung der | |
| Okkupation durch die einheimische Bevölkerung. | |
| Falsche Statisten | |
| Am 24. Februar 2022 begann der Großangriff auf die Ukraine. Es folgte die | |
| Besetzung ukrainischer Gebiete. Ein großer Teil des Gebietes Luhansk wurde | |
| in den ersten Wochen erobert. Die russische Armee und die Volksmilizen der | |
| sogenannten Volksrepublik Luhansk LNR marschierten am 2. März in meiner | |
| Heimatstadt Starobilsk ein. | |
| Gleich danach kamen Propagandisten in die Stadt. Sie drehten Reportagen, in | |
| denen sie zeigten, was sich seit dem Beginn der Okkupation in der Stadt | |
| „verbessert“ hatte. Dafür holten sie sich „Schauspieler“ aus dem russi… | |
| Hinterland und aus bereits früher, vor 2022, besetzen ukrainischen | |
| Gebieten, die sie als Einheimische ausgaben. Deren Aufgabe war ziemlich | |
| simpel: die Besatzung rechtfertigen und zu zeigen, wie glücklich sie jetzt | |
| waren. Und das Wichtigste: ihre dankbaren Gesichter. | |
| Starobilsk hat jedoch nur etwas mehr als 16.000 Einwohner und fast alle | |
| kennen sich mehr oder weniger vom Sehen. Darum war es für uns relativ | |
| leicht festzustellen, wer von diesen Menschen echte Starobilsker waren. Und | |
| wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die meisten dieser | |
| russischen Reportagen, die von der Okkupation handeln, frei erfunden sind. | |
| Kollaboration mit den Besatzern | |
| Kollaboration ist ein integraler Bestandteil jeder Okkupation. Die | |
| Besetzungen der Ukraine und Lettlands machen da keine Ausnahme. Durch die | |
| Führung im Rigaer Museum haben wir erfahren, dass der Kreml die „neue | |
| Regierung“ Lettlands lange vor der Annexion des Landes vorbereitet hatte. | |
| Und gleich nach dem Einmarsch der Roten Armee in Lettland begann die | |
| Moskauer Regierung dort politisch zu agieren. | |
| An der Spitze der „Regierung“ standen Letten, die von den Sowjets | |
| angeworben worden waren: Schriftsteller, Wissenschaftler und andere | |
| lettische Intellektuelle. | |
| Auch in den temporär besetzten Regionen des Gebietes Luhansk funktioniert | |
| nichts ohne Kollaborateure. Mit einem Unterschied: Während die Sowjets in | |
| Lettland um die Eliten des Landes geworben hatten, findet man heute bei uns | |
| in der Ukraine unter den Kollaborateuren häufig Menschen, die keinerlei | |
| Verwaltungserfahrung haben bzw. früher eher am Rand der Gesellschaft | |
| standen. In Starobilsk zum Beispiel weiß ich von einem Friseur, der dort | |
| Schulleiter wurde. Und ein einfacher junger Mann vom Land ohne pädagogische | |
| Ausbildung und Berufserfahrung leitet jetzt eine Schule in einem | |
| Nachbardorf. Wichtig für den Kreml ist dabei nur eins: Loyalität. Alles | |
| andere ist zweitrangig. | |
| Wahlen und Volksabstimmungen unter der Besetzung | |
| Eine weitere Möglichkeit, eine Besatzung zu legalisieren, sind fingierte | |
| Wahlen oder Volksentscheide. Im Museum in Riga lernt man, dass die | |
| sowjetische Regierung in Lettland so etwas veranlasste. Zur Wahl stand nur | |
| eine Partei – die Kommunistische Partei Lettlands. Ihr beeindruckendes | |
| Ergebnis: 98 Prozent aller Stimmen. Leider machten die Sowjets damals einen | |
| Fehler: Der internationalen Presse wurden dieses Ergebnis lange vor dem | |
| Ende der Wahl mitgeteilt. | |
| Auch in der Ukraine haben die russischen Besatzer zur Legalisierung der | |
| Okkupation [1][sogenannte Referenden] über den Beitritt der temporär | |
| besetzten Gebiete zur Russischen Föderation durchgeführt. Im Gebiet Luhansk | |
| fand es vom 23. bis zum 27. September 2022 statt. | |
| Durch Informationen aus dem Okkupationsgebiet weiß man, dass dort die | |
| Wahlbeteiligung ausgesprochen niedrig war. Deshalb besuchten die russischen | |
| Besatzer die „Wähler“ zu Hause. Aus sicheren Quellen ist bekannt, dass die | |
| Soldaten in einigen Fällen die Menschen sogar mit Waffen bedroht haben, | |
| damit sie für den „Anschluss“ stimmten. Insgesamt stimmten 98,42 Prozent | |
| der Menschen beim gefälschten Plebiszit für den Anschluss der LNR an | |
| Russland. | |
| Die Sache mit den Pässen | |
| Es gibt noch einen weiteren gemeinsamen Aspekt zwischen Lettland 1940 und | |
| der Ostukraine heute: Der Zwang zu neuen Pässen. [2][Die Russen suchen nach | |
| Druckmitteln, um die Ukrainer zur Annahme von Pseudodokumenten zu bewegen]. | |
| Ohne einen Pass der Russischen Föderation können Menschen in den | |
| okkupierten Gebieten zum Beispiel ihre Arbeitsstelle verlieren. Auch die | |
| Rentenzahlung kann ausgesetzt werden. | |
| All das funktioniert nicht ohne Einschüchterung durch die Besatzer. Um den | |
| Prozess des Passumtausches zu beschleunigen, hat Putin eigens ein Gesetz | |
| unterzeichnet, das die Ausweisung der Ukrainer aus den temporär besetzten | |
| Gebieten gestattet. Ukrainer, die in den besetzten Gebieten leben und ihre | |
| ukrainische Staatsbürgerschaft behalten wollen, können dort bis zum 1. Juli | |
| 2024 bleiben. Danach dürfen die russischen Behörden sie ausweisen bzw. die | |
| Menschen müssen die besetzten Gebiete verlassen, ob sie wollen oder nicht. | |
| Russland hat außerdem bekannt gegeben, dass alle Einwohner der besetzten | |
| Gebiete ab dem Alter von 14 Jahren verpflichtet sind, einen russischen Pass | |
| zu erhalten. Tun sie es nicht, müssen die Eltern Strafe zahlen. Bei | |
| weiterer Weigerung können sie das Sorgerecht für ihr Kind verlieren. | |
| Der Repressionsapparat | |
| Eines der krassesten Beispiele für die Gräuel des Kreml-Regimes ist sein | |
| Repressionsapparat. Die Sowjets deportierten seinerzeit Männer und Frauen | |
| aus Lettland in entlegene Regionen Russlands, in vielen Fällen endete das | |
| tödlich. Viele Menschen litten auch unter dem sowjetischen Geheimdienst | |
| NKWD, [3][später KGB]. Auch meine ukrainische Familie blieb von solchem | |
| Unglück nicht verschont. Es ging allerdings vergleichsweise gut aus. Mein | |
| Vater wurde von den Kämpfern der sogenannten LNR entführt und war drei | |
| Monate in russischer Gefangenschaft. Details hat er bis heute nicht | |
| erzählt, aber wenn ich mit ihm darüber spreche, sehe ich die Angst in | |
| seinem Blick. | |
| Er erzählte, dass alle Gefangenen in einer Fabrik körperlich anstrengende | |
| Arbeit tun mussten. Das Essen war schlecht und nicht ausreichend. Mein | |
| Vater hat deshalb stark abgenommen, zwischen 15 und 20 Kilo. Sie wurden | |
| alle kahlgeschoren und mussten alle ihre Dokumente, Telefone und auch die | |
| Bankkarten abgeben. Nach der Haft bekam er zwar seine Papiere zurück, sein | |
| Telefon hat er nie wiedergesehen. Warum er inhaftiert wurde, weiß er bis | |
| heute nicht. | |
| Yevhen Holoborodko (Pseudonym) ist Journalist aus der Ostukraine, lebt | |
| jetzt in Riga. | |
| Aus dem Russischen von [4][Gaby Coldewey] | |
| 18 Jun 2023 | |
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