# taz.de -- Bericht vom Prosanova-Festival: Gesten des Respekts | |
> Das Prosanova-Literaturfestival nahm sich vor, Ernst zu machen mit der | |
> Einladung an alle. Es hat ziemlich gut geklappt, meist auch ohne | |
> Wasserglas. | |
Bild: Seismografische Veranstaltung: „Widerständiges Schreiben: Eine Widmung… | |
Prosanova ist das Festival, das sich traditionell mit jeder Ausgabe neu | |
erfindet. Es wurde 2005 gegründet und findet seitdem als „Festival für | |
junge Literatur“ alle drei Jahre für ein paar Tage in der | |
[1][Gerade-so-Großstadt Hildesheim] statt. Das bleibt gleich. | |
Das Team aber ist jedes Mal ein anderes, jedes Mal wieder bewusst | |
unerfahren, rekrutiert sich nämlich aus dem Studiengang für Literarisches | |
Schreiben der Universität und dem Umfeld der Literaturzeitschrift Bella | |
Triste, die in demselben Kontext erscheint. Konzepte, Weltsichten, | |
literarische Präferenzen und Politisierungszustände aber sind jedes Mal | |
anders, denn mit „jung“ ist wenig gesagt. | |
Das macht das Festival als seismografische Veranstaltung besonders | |
interessant, die sich, etwa durch ihre Einladungspolitik, immer auch und | |
immer etwas anders ins Verhältnis zum Literaturbetrieb setzt, dessen | |
Vorfeldorganisation, ob er will oder nicht, der Studiengang nun einmal ist. | |
In diesem Jahr war die Abgrenzung von dessen Erwartungen und Routinen | |
entschieden, aber nicht laut, die eigenen Sturheiten und | |
Verweigerungsgesten nicht aggressiv, sondern mit schöner | |
Selbstverständlichkeit vorgetragen. Alles Halbstarke fehlte. | |
Was auch wechselt: der Schauplatz. Ganz gezielt meidet Prosanova die Domäne | |
Marienburg, den sehr idyllisch etwas vor der Stadt gelegenen Campus. | |
Stattdessen begibt man sich auf die Suche nach einer provisorischen Heimat, | |
nach Räumen, die nicht von Haus aus Kultur- oder Literaturräume sind. Bei | |
der letzten präpandemischen Ausgabe 2017 (2020 gab es nur [2][eine | |
virtuelle Version)] war es ein Industriegelände im wenig schmucken Norden | |
der Stadt. | |
Dieses Mal ist es ein Gebäude, das bis vor wenigen Jahren als Grundschule | |
diente, seit deren Umzug in einen Neubau in der Nähe steht es leer. Zur | |
Abwechslung liegt es im hübschesten Viertel der im Krieg brutal zerstörten | |
Stadt. Hier sind ein paar Straßenzüge mit Fachwerk stehengeblieben, viele | |
mit Rosenstöcken geschmückt. | |
## Schlechte Wörter | |
Die Schule selbst aber ist, trotz beachtlicher Aula mit für die | |
Festivalzwecke praktischer Bühne, ein nicht weiter auffälliger Nutzbau. An | |
den Kleiderhaken der Gänge kleben noch die Namensschilder der Kinder des | |
letzten Jahrgangs: Amelie und Yusuf, Anna und Vishnu, Irem und Max. | |
Der Schulhof und zwei Gänge im Erdgeschoss und ersten Stock sind | |
angeeignet, an der Fassade purzeln die Buchstaben PROSANOVA, drinnen sind | |
silberne Fähnchengirlanden gespannt, der Schul- und Klassenzimmercharakter | |
aber ist erhalten geblieben. | |
Was man als Geste des Respekts vor dem Spirit des Orts nehmen kann; und als | |
bezeichnend. Das nämlich, gegenseitiger Respekt, freundliche | |
Einladungsgesten, die Offenheit für alle Herkünfte, Sprachen, all genders | |
und Flinta*, die Eröffnung von Räumen fürs Gespräch, sind das, was diese | |
Ausgabe des Festivals prägte. | |
Sie hatte sich einen kurzen, keineswegs verrätselten, aber sehr deutbaren | |
Text von Ilse Aichinger, „Schlechte Wörter“, als einen von zwei Prätexten | |
gegeben, der im Programm manches Echo hervorrief. Los ging es dann, | |
programmatisch dialogisch, mit dem anderen Prätext, der Lesung eines | |
schriftlichen Gesprächs der Autorinnen Anna Kim und Karosh Taha, das | |
ethische Fragen des Autofiktionalen, der nötigen und möglichen Naivität | |
beim Schreiben umkreist. | |
Ein Gespräch, das man ausgedruckt auf zwei großen Plakaten nachlesen kann; | |
ein Gespräch, an das etwa Olufemi-Just Atibioke in seinem Text „Juice and | |
Sauce“ anschließen wird. Atibioke sitzt im Raum, spricht aber nicht. Seine | |
Erzählung vom gestohlenen Laptop und damit abhanden gekommenen Text spielt | |
sich selbst komplett auf einem Computerbildschirm ab. Zeilen werden getippt | |
und wieder gelöscht, das Ich schweift ab, adressiert ein Publikum, googelt, | |
es geht um Familiensachen, auch um nigerianische Sprachen, ein kurzes | |
Youtube-Video läuft: Abbildung eines rechner- und internetgestützten Denk-, | |
Schreib-, Bewusstseinstroms, mit Witz und vor allem Selbstverständlichkeit | |
vorgetragen. | |
## Eine radikale Zer-Lesung | |
Wenn es eine Prosanova-Grundhaltung gibt, dann ist es die Ablehnung der | |
Wasserglas-Lesung. Vieles ist darum eher Performance. Am radikalsten im | |
Fall des Künstlers, Musikers, Performers und Autors Damon Taleghani, der | |
aus einem entstehenden Roman namens „Macetti“ vortrug, in dem es um eine | |
leninistische Partei des Irans im DDR-Exil geht. Soweit man das verstehen | |
konnte, denn das Ganze war eine Zer-Lesung sondergleichen. | |
Der Autor trug Dunkelbrille, recht insektoid, hatte Mühe, irgendwas zu | |
entziffern, bat das Publikum um Armbanduhren, nicht ganz klar, warum, | |
schickte Sätze als stille Post durch die Reihen, entlockte einem | |
E-Harmonium recht wehe Töne, las scheinbar wahllos aus dem Kommunistischen | |
Manifest und dem eigenen Text, wirkte insgesamt extrem unterspannt und | |
hörte irgendwann einfach auf. Erstaunlicherweise war das sehr toll. | |
So politisch wie lyrisch war die gemeinsame Lesung von (Avrina | |
Prabala-Joslin) und (Sinthujan Varatharajah), die zu einer Videoprojektion | |
mit Meeresrauschen auf Tamil, Englisch und Deutsch einen Text über das | |
Meer, aber auch Gewalt und Krieg in Südindien und Sri Lanka vortrugen. Um | |
Fragen der Übersetzbarkeit, Übersetzung als Gewaltakt, um die auch durch | |
guten Willen und Literatur nicht wegzuschaffende Gewalt einer imperialen | |
und kolonialen Sprache, Akte der Musealisierung, aber auch um die Luft und | |
das Meer ging es tags darauf im Gespräch mit Varatharajah über sein*ihr | |
die Genres kreuzendes Buch „an alle orte, die hinter uns liegen“ aus dem | |
vergangenen Jahr. | |
Sehr gelassen schilderte Varatharajah dabei den Druck, den der Markt auf | |
die Entstehung von Text und Buch als Objekt ausübt. Und machte klar, wie | |
weit man sich ihm entziehen kann, wie weit aber auch nicht. | |
## Wenn man Wut reintut | |
Gar nicht gelassen, es ist nicht seine Art: Behzad Karim Khani, der mit | |
seinem 2022 erschienenen Debütroman „Hund, Wolf, Schakal“ einen großen | |
Erfolg erzielte, eigentlich auch bei der Kritik. Auf Facebook hatte er im | |
Vorfeld jedoch, durchaus viel beachtet, gegen Passagen der taz-Kritik | |
seines Buches gewütet, was er bei Prosanova unter dem Ankündigungstitel | |
„Rezensionsmaschine“ eigentlich fortsetzen wollte. Hat er aber, wenngleich | |
unversöhnt, dann gelassen. | |
Ein Glück, und zwar ganz unabhängig davon, ob man öffentliche Kritik-Kritik | |
für eine gute Idee hält oder doch eher nicht. Nach der Ankündigung „Wenn | |
man Wut bei mir reintut, kommt Literatur raus“ las Karim Khani dann nämlich | |
einen ganz neuen, die Wut tatsächlich in mitreißende Literatur | |
transformierenden Text, eine heftige Geschichte, in der ein | |
iranischstämmiger Ich-Erzähler aus seiner Siedlung berichtet und die | |
Entstehung von Gewalt und diese Gewalt selbst drastisch schildert. Die | |
Erzählung von einer im Harten zarten, lutscheisvermittelten ersten Liebe | |
ist es wie nebenbei aber auch. | |
Wie es ohne Wasserglas, aber schlicht sehr schön ebenfalls geht, führte | |
Inana Othmann vor. Sehr publikumszugewandt las sie aus fliegenden Zetteln, | |
manches erzählend, manches eher lyrisch, um Syrien ging es, aber | |
keinesfalls nur den Krieg. „Vorwärts Erinnern“ ist der Titel ihres | |
Projekts. Othmann trat auch im Rahmen der live aufgezeichneten Folge des | |
Podcast-Literaturmagazins Stoff aus Luft noch einmal auf, neben Damon | |
Taleghani, Olufemi-Just Atibioke, und anderen. | |
Ihr auf Arabisch ganz großartig vorgetragener Text blieb unübersetzt. Und | |
das war wunderbar so. Und typisch für das Festival, in der | |
Selbstverständlichkeit, als Geste des Respekts. Es ließ sich bei diesem | |
Prosanova nicht das Lesen, sondern etwas Entscheidenderes, nämlich das | |
Zuhören lernen. (Während man auf dem Handy verfolgte, wie in Russland ein | |
Schlächter die Auseinandersetzung mit dem anderen suchte.) | |
25 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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