| # taz.de -- Grüne zur EU-Asylreform: „Es geht um etwas Existenzielles“ | |
| > Die Grünen-Politikerin Astrid Rothe-Beinlich kritisiert die geplante | |
| > EU-Asylrechtsreform harsch. An ihre Partei hat sie klare Erwartungen. | |
| Bild: Flüchtlingslager Moria 2019: „Dieser Kompromiss verletzt Kinderrechte�… | |
| taz: Frau Rothe-Beinlich, Innenministerin Nancy Faeser hält den | |
| [1][EU-Asylkompromiss] für einen historischen Fortschritt. Einverstanden? | |
| Astrid Rothe-Beinlich: Dieser Kompromiss ist ein Fehler. Bei allem | |
| Verständnis für die schwierigen Verhandlungen in der EU kann ich in diesen | |
| Lobgesang nicht einstimmen | |
| Warum? | |
| Die Kinderrechtskonvention wird nicht eingehalten. Es gibt zwar kleine | |
| Verbesserungen, aber nicht für Kinder, auch wenn Deutschland laut einer | |
| Protokollnotiz Verbesserungen zumindest für unter 12-Jährige erreichen | |
| will. Ich habe die Sorge, dass angesichts der Neuregelung mehr | |
| unbegleitete Minderjährige auf die Reise gehen müssen, um so eine | |
| Familienzusammenführung zu erreichen. Wir werden Lager an den Außengrenzen | |
| haben, in denen es keine individuellen Prüfungen der Asylanträge mehr gibt, | |
| auch nicht für Syrer und Afghanen. | |
| Falls sie aus sicheren Drittstaaten kommen … | |
| Na ja. Als sichere Drittstaaten können ja sogar Länder bezeichnet werden, | |
| die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht anerkennen. Sichere Drittstaaten | |
| sind ein politisches Konstrukt – Minderheitenrechte spielen da kaum eine | |
| Rolle. Ich fürchte, mit diesem Kompromiss wird es mehr Pushbacks geben. Und | |
| viel mehr Abschottung. | |
| Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock argumentiert: Wenn Deutschland | |
| mit Ungarn und Polen Nein gesagt hätte, wäre eine gemeinsame EU-Asylpolitik | |
| für Jahre tot gewesen. Deshalb musste man Ja sagen. | |
| Ich bin auch Teil einer regierungstragenden Fraktion in Erfurt und weiß, | |
| wie schwierig Kompromisse sein können. Ich weiß, wie sehr Annalena Baerbock | |
| gerungen hat. Aber ich komme zu einem anderen Schluss. Dieser Kompromiss | |
| verletzt Menschen- und Kinderrechte. Deswegen halte ich ihn für nicht | |
| tragbar. Viele Argumente der Kompromissbefürworter erinnern mich an | |
| Verfahren wegen Kriegsdienstverweigerung früher. Wer keinen Kriegsdienst | |
| machen wollte, wurde gefragt, was er denn tut, wenn seine Frau vergewaltigt | |
| wird. | |
| Es gibt zwar keine verpflichtende Verteilung der Geflüchteten, aber einen | |
| sogenannten Solidaritätsmechanismus. Länder, die niemand aufnehmen, müssen | |
| 20.000 Euro pro Person zahlen, die nicht aufgenommen wird. Ist das ein | |
| Fortschritt? | |
| Wenn wir uns die Zahlen anschauen, dann ist das ein Tropfen auf den heißen | |
| Stein. 2022 gab es 966.000 Asylanträge in der EU. Die Aufnahmezusagen | |
| gelten gerade einmal für 30.000 Menschen, also einen Bruchteil der | |
| Antragstellenden. Da ist Solidaritätsmechanismus ein sehr großes Wort. | |
| Die Unterstützer der neuen Regelung bei den Grünen und SPD sagen: Ohne | |
| Maßnahmen gegen illegale Migration wird die Rechte in Europa noch stärker … | |
| Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Wenn die Mitte rechte Positionen | |
| übernimmt, stärkt das nicht die Mitte, sondern den rechten Rand. | |
| Wird es noch substanzielle Verbesserungen an diesem Kompromiss geben? | |
| Als Pfarrerstochter setzte ich immer auf Glaube, Hoffnung, Zuversicht. Ich | |
| hoffe wie viele in meiner Partei auf Verbesserungen durch das EU-Parlament. | |
| Aber es wäre falsch, alles auf das EU-Parlament zu schieben. Im | |
| Koalitionsvertrag ist die individuelle Prüfung von Asylanträgen fixiert. | |
| Die ist jetzt nicht mehr gewährleistet. Das müssen wir thematisieren. | |
| Zerreißt die Debatte [2][die Grünen]? | |
| Wir haben in der Partei eine ganz lebhafte Debatte. Sie war ja bisher in | |
| die Entscheidung auch nicht einbezogen. Das Diskussionsbedürfnis ist extrem | |
| hoch. Die grüne Partei muss sagen, ob sie Entscheidung mittragen kann. Das | |
| wird auch der Länderrat am nächsten Wochenende zeigen. | |
| Was erwarten Sie vom Länderrat? | |
| Dass sich unsere Partei klar positioniert. Die Partei muss ein Korrektiv | |
| sein, gerade, wenn man in Regierungsverantwortung ist. | |
| Wird es Austritte bei den Grünen geben? | |
| Ganz sicher. Aber auszutreten ändert ja nichts. Viele sind in dieser Partei | |
| nicht nur wegen der Umweltpolitik, sondern auch und gerade wegen der | |
| Menschenrechte. Ich komme aus der ehemaligen DDR und habe eine tödliche | |
| Grenze erlebt. Ich weiß Bewegungsfreiheit als Menschenrecht zu schätzen. | |
| Niemand flieht freiwillig. Es ist eine Verpflichtung, alles dafür zu tun, | |
| menschenwürdige Lösungen zu finden. | |
| Ist das ein Links-rechts-Konflikt bei den Grünen? | |
| Nein. Erstens ordnen sich ja sehr viele keinem Lager mehr zu. Ich kenne | |
| auch viele wertkonservative Grüne, die bei der Flüchtlingspolitik hier eine | |
| rote Linie überschritten sehen. | |
| Ist dieser Streit vergleichbar mit dem Dissens um den Kosovokrieg? | |
| Ja, es ist ähnlich. So wie auch die Debatte um Hartz IV. Es geht um etwas | |
| Existenzielles. | |
| 11 Jun 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Einigung-in-der-EU-Fluechtlingspolitik/!5937229 | |
| [2] /Asylgipfel-der-EU-Innenministerinnen/!5936248 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
| ## TAGS | |
| Asyl | |
| Asylrecht | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| GNS | |
| Pushbacks | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| Migration | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Asyl | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Asyl | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Länderrat der Grünen: Der Aufstand bleibt aus | |
| Beim Länderrat der Grünen gibt es Küsschen für Annalena Baerbock. Die große | |
| Abrechnung mit dem Ja zum EU-Asylkompromiss fällt aus. | |
| Änderung des EU-Asylrechts: Einig und doch nicht | |
| Kann das umstrittene EU-Asylrecht bis zur Europawahl 2024 in Kraft treten? | |
| Schon jetzt ist klar, dass einige Hürden warten. | |
| Neue Asylregelung: Die EU rückt nach rechts | |
| Durch die neue EU-Asylregelung wird sich das Leben von vielen Ankommenden | |
| künftig an Orten abspielen, die Hochsicherheitsgefängnissen gleichen. | |
| Einigung der EU-Innenminister: Grüne fetzen sich über Asylpolitik | |
| Die EU-Innenminister haben sich auf ein schärferes Asylrecht verständigt, | |
| die Bundesregierung stimmt zu. Die Grünen streiten wie lange nicht. | |
| Zähes Ringen um neues Asyl-System: EU-Staaten einigen sich auf Reform | |
| Nach stundenlangen Verhandlungen einigen sich die EU-Innenminister auf | |
| einen bitteren Kompromiss. Der Zugang für Geflüchtete soll verschärft | |
| werden. |