| # taz.de -- Die politische Rolle des Kehlkopfs: Tiefere Stimme, höhere Position | |
| > Was könnte Annalena Baerbock erreichen mit dem Organ eines Sigmar | |
| > Gabriel? Vielleicht gleicht KI ja bald die vokale | |
| > Geschlechterungerechtigkeit aus. | |
| Bild: Annalena Baerbock klingt nicht wie eine Nachtsendungsmoderatorin und gilt… | |
| Mein Respekt vor Politikerinnen, die von gängigen Körpernormen deutlich | |
| abweichen, ist parteiübergreifend. Das gilt umso mehr, da jede Häme im | |
| Internet millionenfach vervielfältigt und auch verewigt wird. | |
| Die Mechanismen, die greifen, wenn eine gar-nicht-normschöne Frau die | |
| politische Bühne betritt, wurden schon oft beschrieben. Ich behaupte aber, | |
| dass sich – vermutlich gerade wegen der Spottlawinen in den sozialen Medien | |
| – der moralische Standard eher gefestigt hat, dass man Leute grundsätzlich | |
| nicht nach ihrem Äußeren zu bewerten hat. Noch nicht einmal Frauen in der | |
| Politik. Dieses Gebot gilt, selbst wenn es im Alltag gern und geifernd | |
| unterlaufen wird. | |
| Was mich allerdings zunehmend wundert, ist, wie wenig über Stimmen geredet | |
| wird. Jeder weiß, dass Stimmen angenehm und unangenehm sein können. Tiefe | |
| Stimmen werden lieber gehört als hohe. Tiefen Stimmen wird mehr Autorität | |
| zugerechnet. Solche Gefühle und Reflexe entstehen in Millisekunden, ihnen | |
| ist mit Vernunft und Werten schwer beizukommen. | |
| Doch statt dabei den Urskandal – dass Männer demnach einen ewigen Vorteil | |
| gegenüber Frauen haben – zu thematisieren, scheinen Stimmlagen die | |
| freimütige Urteilsfindung über Politikerinnen eher zu begünstigen: „Ich | |
| kann der nicht zuhören.“ | |
| Die Menopause als politische Chance | |
| Dabei sind Stimmen erst einmal das Produkt längerer oder kürzerer | |
| Stimmbänder und insofern ein Körpermerkmal wie dünnes, glanzloses Haar. | |
| Während jedoch die Auseinandersetzungen etwa über Angela Merkels Frisur | |
| inzwischen Regale füllen würden, ist die Rolle ihrer Stimme bisher wenig | |
| beschrieben. | |
| Ein [1][Sprachwirkungsforscher erklärte unlängst in dieser Zeitung], | |
| Merkels Stimme sei lange als „Kleinmädchenstimme“ bezeichnet worden, bis | |
| sie sich 2005 und 2006 durch die Menopause „deutlich abgesenkt“ habe (zur | |
| Erinnerung: Merkel wurde 2005 zur Kanzlerin gewählt). Erst von da an, so | |
| der Forscher, seien ihre Beliebtheitswerte gestiegen. Gleiches gelte für | |
| die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher. | |
| Über Thatcher und die Frage, ob sie einen „Voice Coach“ beschäftigte, | |
| findet sich tatsächlich [2][einige Literatur]. Die vierte Staffel von „The | |
| Crown“ war der britischen Presse zuletzt Anlass für [3][detaillierte | |
| Erörterungen], ob die Darstellerin Gillian Anderson den Thatcher-Sound | |
| richtig hinbekommen habe. Als unstrittig gilt dabei, dass Thatcher erst | |
| aufstieg, als sie ihre Stimme auf wählbares Niveau gesenkt hatte. | |
| Nun machen zwei Regierungschefinnen noch keine Statistik. Doch möchte ich | |
| es gern als Fortschritt würdigen, dass Politikerinnen seit Thatcher und | |
| Merkel auch mit Stimmen vorwärtskommen, die wenig Souveränitätsmerkmale | |
| aufweisen. | |
| Frauen müssen wohl kompensieren | |
| Franziska Giffey jedenfalls musste nicht wegen ihrer – offenbar einer | |
| Kehlkopfmuskelschwäche geschuldeten – Tonhöhe erst das Familienministerium | |
| und dann das Berliner Rathaus abgeben. Annalena Baerbock klingt nicht wie | |
| eine Nachtsendungsmoderatorin und geht bisher dennoch als erfolgreich | |
| durch. | |
| Wobei ja das kontrafaktische Argument in der Politik immer schlecht zu | |
| führen ist. Wäre Giffey eine Oktave niedriger womöglich Bundeskanzlerin? | |
| Würde Baerbock mit dem Organ eines Sigmar Gabriel ihren russischen Kollegen | |
| Sergei Lawrow einknicken lassen? Wir wissen es nicht. Für wahrscheinlich | |
| halte ich, dass Frauen mit anspruchsvollen Tonlagen anderswo Punkte | |
| sammeln, also Kompensationsleistungen erbringen müssen. | |
| Es ist unfair, wie so vieles. Vielleicht erledigt eine Künstliche | |
| Intelligenz das ja demnächst: Dann werden wir alle öffentlich-medial auf | |
| Nachrichtensprecherinnensound zurechtmoduliert. Bis dahin gilt: einfach | |
| weiterreden. | |
| 10 Jun 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrike Winkelmann | |
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