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# taz.de -- Sprachforscher über Stimmen: „Mündlichkeit ist sehr flüchtig“
> Bei welcher Emotion wir am klarsten artikulieren und warum Frauen heute
> tiefer sprechen also vor hundert Jahren, erklärt der Sprachforscher
> Walter Sendlmeier.
taz am wochenende: Herr Sendlmeier, was verrät unsere Stimme über uns?
Walter Sendlmeier: So gut wie alles. Schon durch den ersten Höreindruck
erhalten wir ein recht differenziertes Bild von einem Menschen. Solche
Bewertungen laufen in der Regel unbewusst ab, die meisten wissen gar nicht,
wie stark die Stimme des Gegenübers sie beeinflusst. Klang und Sprechweise
geben Hinweise darauf, wie sich ein Mensch fühlt, wie alt er ist, welches
Geschlecht, welche Herkunft, ja sogar welche Persönlichkeit er hat. Die
Stimme sagt viel mehr über einen Menschen aus als sein Äußeres.
Wenn man von der Stimme auf die Persönlichkeit schließen kann, was sagt uns
dann die von unserem Bundeskanzler Olaf Scholz? Er klingt ja schon etwas
roboterhaft.
[1][Die Sprechweise von Olaf Scholz'] ähnelt in gewissen Punkten der von
Angela Merkel. Er wirkt nüchtern, sachlich und in der Regel sehr
unaufgeregt. Dies weist auf eine recht ausgeprägte emotionale Stabilität
hin. Ihn bringt nichts so leicht aus der Ruhe. Seine Betonungsstruktur ist
allerdings klarer als die von Angela Merkel, sodass es nicht so anstrengend
ist, ihm zuzuhören.
Eine Schulfreundin von mir spricht sehr laut und kraftvoll. Was sagt das
über ihren Charakter aus?
Vermutlich ist sie extrovertiert. Extrovertierte Menschen sprechen im
Vergleich zu introvertierten lauter, schneller, melodischer, heller und oft
auch deutlicher. Der Stimmklang von Introvertierten hingegen ist eher
dumpf, sie sprechen insgesamt monotoner, leiser und langsamer. Menschen,
die unsicher und sensibel sind, sprechen mit mehr Ausreißern als
selbstsichere Menschen. Ihre Stimmen klingen höher, zittriger und
brüchiger. Ebenso zuverlässig wie die Persönlichkeit können wir den
Gefühlszustand eines Menschen anhand seiner Stimme einschätzen – unabhängig
davon, was er sagt.
Was, wenn ich nicht will, dass meine Partnerin merkt, dass ich gerade
wütend oder traurig bin?
Da haben Sie leider Pech. Je besser eine Person Sie kennt, desto eher merkt
sie, wie Sie sich tatsächlich fühlen – selbst wenn Sie inhaltlich etwas
anderes vorgeben und sich noch so stark bemühen, Ihre Stimme zu verstellen.
Ob Sie wollen oder nicht: Die Stimme offenbart Ihr Inneres. Es ist kein
Zufall, dass „Stimme“ und „Stimmung“ denselben Wortstamm haben. Bei Tra…
zum Beispiel senken wir Menschen unsere Stimme ab, wir sprechen weniger
melodisch und tiefer. Betonungen sind nur noch ganz schwach ausgeprägt,
mitunter gar nicht mehr vorhanden. Unsere Stimme klingt teilweise knarrend.
Und bei Ärger?
[2][Da sprechen wir lauter] und höher und die Satzmelodie weist mehr
Schwankungen auf, außerdem betonen wir viel mehr Silben als normalerweise.
Das wiederum führt dazu, dass wir deutlicher sprechen – denn in die
betonten Silben stecken wir mehr Energie, wir nehmen uns also mehr Zeit.
Ärger ist übrigens die einzige Emotion, bei der sich die
Artikulationsgenauigkeit verbessert. Bei Freude verändert sich die
Deutlichkeit unserer Aussprache gegenüber der neutralen Sprechweise kaum,
bei Angst und Trauer hingegen nimmt unsere Artikulationsgenauigkeit
deutlich ab.
Wir telefonieren seit ungefähr fünfzehn Minuten, Sie haben mich vorher noch
nie gesehen oder gehört. Welchen Eindruck haben Sie von meiner Person?
Einen positiven. Sie sind weder großmäulig noch selbstverliebt, ich glaube,
Sie sind recht aufrichtig und neigen zu Bescheidenheit. Sie wirken sehr
vertrauenswürdig, selbstlos und haben eine gewisse Feinfühligkeit. Ich
vermute, Sie sind sensibel und können sich gut in andere hineinversetzen.
Ich bin sogar extrem sensibel. Aber Sie haben jetzt nur nette Sachen
gesagt. Seien Sie ruhig ehrlich.
Sie sind nicht so ein Fels in der Brandung, sondern emotional eher labil,
richtig?
Das stimmt. Es ist gruselig, wie treffsicher Sie mich beschreiben, obwohl
Sie mir nur wenige Minuten zugehört haben. Können das alle Menschen oder
nur Profis wie Sie?
Auch Laien können das oft recht gut, oder zumindest besser, als sie selbst
glauben. Nur läuft das bei den meisten Menschen unbewusst ab, sie können
nicht explizit benennen, warum sie jemanden zum Beispiel als
vertrauenswürdig einschätzen oder nicht. Hinzu kommt, dass sich Laien oft
durch die äußere Erscheinung ablenken lassen und diese überbewerten.
Es heißt, die Stimme sei einzigartig wie ein Fingerabdruck. Gibt es meine
Stimme wirklich kein zweites Mal auf der Welt?
Es dürfte tatsächlich keine zwei Menschen mit derselben Stimme geben. Die
Stimme ist individuell, ein unverwechselbares Kennzeichen eines Menschen.
Allerdings kann es innerhalb von Familien zu großen Ähnlichkeiten der
Stimmen und Sprechweisen kommen. Der Vergleich mit dem Fingerabdruck aber
ist sehr gewagt. Denn der Fingerabdruck ist konstant, er ist morgens nicht
anders als abends und im Januar nicht anders als im August. Die Stimme
allerdings klingt morgens anders als mittags oder abends. Man merkt am
Telefon schon nach wenigen Silben, ob die Person gerade erst wach geworden
ist oder nicht. Weil die Durchblutung der Schleimhäute nach dem Aufwachen
noch nicht aktiviert ist, sind diese angeschwollen – die Stimme klingt
gedämpft und belegt. Der sogenannte Voice Print ist also nicht so
zuverlässig wie der Fingerabdruck.
Ich persönlich höre am liebsten Radiobeiträge und Podcasts, die von Männern
mit tiefen Stimmen gesprochen werden. Frauenstimmen empfinden ich oft als
anstrengend, dabei bin ich selbst eine Frau.
So wie Ihnen geht es den meisten Menschen. Im Rundfunk und Fernsehen hören
wir am liebsten tiefen Männerstimmen zu, das haben schon Forscher*innen
in den Achtzigern herausgefunden.
Woran liegt das?
Hohe Stimmen wirken unsicher, unsouverän und wenig kompetent – unabhängig
vom Geschlecht. Tiefe Männerstimmen hingegen bewerten wir in der Regel als
angenehm, glaubwürdig, kompetent, durchsetzungsfähig und vertrauenswürdig.
Bei der Wirkung von tiefen Frauenstimmen ist sich die Wissenschaft hingegen
nicht ganz so einig. Studien deuten darauf hin, dass tiefe Frauenstimmen
von manchen Hörer*innen als „unweiblich“ und damit negativ empfunden
werden. Trotzdem senken Nachrichtensprecherinnen ihre Stimme bis heute um
etwa eine Terz ab, sobald die Mikros eingeschaltet sind. Dabei sind
Frauenstimmen in Europa innerhalb der vergangenen hundert Jahre sowieso
schon tiefer geworden. Schauen Sie sich mal einen [3][Film aus den
Fünfzigern] an. Dann werden Sie feststellen, dass die Schauspielerinnen
damals deutlich höher gesprochen haben als heute.
Warum sind europäische Frauenstimmen tiefer geworden?
Das hat sicherlich auch mit der Emanzipation der Frau zu tun. Anders als in
den fünfziger Jahren sind die Frauen heute viel gleichberechtigter. Das
spiegelt sich auch in ihren Stimmen wider. Eine piepsige Stimme
widerspricht dem modernen Bild der durchsetzungsfähigen, erfolgreichen
Frau. Daher haben sich die Frauen der männlichen Stimmlage angepasst. Wie
hoch oder tief Frauen sprechen, unterscheidet sich sogar von Land zu Land.
Norwegerinnen sprechen zum Beispiel tiefer als Britinnen oder
Italienerinnen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Frauen in
Skandinavien emanzipierter sind.
Ich dachte immer, es hängt von der Länge der Stimmlippen ab, ob ein Mensch
hoch spricht oder tief – nicht vom Grad der Emanzipation.
Ja und nein. Die Stimmlippen von Frauen sind meist kürzer und dünner als
die von Männern, deshalb schwingen sie schneller. Je schneller die
Stimmlippen schwingen, desto höher ist der Ton. Daher sprechen Frauen
insgesamt höher als Männer. Doch die biologischen Gegebenheiten werden
überschätzt. Wie hoch oder tief man spricht, kann man bis zu einem gewissen
Grad selbst entscheiden. Wir haben enorme Spielräume, die Frequenz, mit der
die Stimmlippen schwingen, zu verändern.
Und wie machen wir das?
Hier kommt es auf die kleinen Kehlkopfmuskeln an. Diese steuern das
Schwingungsverhalten der Stimmlippen. Je angespannter die Kehlkopfmuskeln
sind, desto schneller schwingen die Stimmlippen und desto höher ist der
Ton. Durch den Grad der Muskelspannung können wir also die Tonhöhe
beeinflussen.
Um unsere Stimme zu senken, müssen wir uns also einfach nur lockermachen?
Im Prinzip ja. Wenn wir aufgeregt sind oder Angst haben, ist das aber gar
nicht so einfach, denn dann spannen wir unsere Muskeln automatisch an. Oft
atmen wir dann nicht mehr richtig aus, sondern fast nur noch ein, wodurch
die Spannung weiter zunimmt. Diese Anspannung ist hörbar und überträgt sich
nach einer Weile sogar auf die Hörer*innen – sie leiden regelrecht mit
und verkrampfen. Das Zuhören wird damit auch körperlich anstrengend.
Mit dem Alter verändert sich unsere Stimme. Stimmen älterer Menschen
klingen eher rau, die von Kindern hingegen klar. Woran liegt das?
Mit fortschreitendem Alter verlieren die Muskeln an Kraft und die
Stimmlippen an Elastizität, die Knorpel im Kehlkopf zeigen zunehmend
Verkalkungen und bewegen sich weniger geschmeidig. Daher sprechen alte
Menschen zittriger, rauer, behauchter und insgesamt instabiler als junge.
Stimmliche Veränderungen im Alter haben aber auch hormonelle Ursachen.
Sie meinen die Menopause?
Ja. Während sich bei Männern die größte Veränderung in der Pubertät
vollzieht – durch das Sexualhormon Testosteron wird der Kehlkopf größer, es
kommt zum Stimmbruch –, verändert sich die Stimme der Frauen, wenn sie in
die Wechseljahre kommen. Dann sinkt der Östrogenspiegel und die Stimme wird
tiefer. Das kam zum Beispiel Angela Merkel sehr zugute.
Inwiefern?
Zu [4][Beginn ihrer politischen Karriere] hatte sie eine sehr hohe Stimme.
Wenn sie eine Rede hielt, war ihre Stimmlage manchmal so hoch, dass sie
kaum noch Spielraum zur Variation nach oben hatte. Das kam damals gar nicht
gut an, ihre Stimme wurde als Kleinmädchenstimme bezeichnet. In den Jahren
2005 und 2006 hat sich ihre Stimme dann durch die Menopause deutlich
abgesenkt. Von da an wurde Merkel als viel kompetenter und souveräner
wahrgenommen und ihre Beliebtheitswerte stiegen deutlich an.
Die Stimme hat also Einfluss auf den politischen Erfolg?
Durchaus. Forscher*innen aus den USA haben mehrfach herausgefunden, dass
Politiker mit tiefen Stimmen bessere Wahlchancen haben. Sie spielten
Proband*innen manipulierte Aufnahmen ehemaliger US-Präsidenten sowie
Stimmproben von Testsprechern vor. Der Sprecher mit der tiefsten mittleren
Stimmlage wurde immer als der geeignetste Präsidentschaftskandidat
eingestuft. Frauenstimmen wurden bei den Experimenten nicht verwendet. Aber
auch die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher war
erfolgreicher, [5][als sie mit tieferer Stimme sprach] – erst mithilfe von
Stimmtraining und später wegen der hormonellen Umstellung in den
Wechseljahren.
Angenommen, ich würde gerne Politikerin werden – kann ich meine Stimme
durch Training verändern?
Man kann etwas ändern, aber so einfach ist es nicht. Stellen Sie sich einen
40 Jahre alten Menschen vor. Stimmklang und Sprechweise haben sich bei ihm
ja über Jahrzehnte entwickelt. Ein paar wenige Übungen reichen da nicht.
Deswegen sollte man misstrauisch sein, wenn Sprechtrainer*innen zum
Beispiel versprechen, Sie in zehn Sitzungen zur perfekten Rednerin zu
machen. Unseriöse Sprechtrainer*innen erkennen Sie daran, dass sie
irgendwelche Übungen anwenden, ohne vorher eine genaue Diagnose zu stellen.
Dabei ist eine Diagnose nötig, um überhaupt herauszufinden, was Ihnen
helfen könnte. Jede Person braucht ja etwas anderes. Es gibt keine drei
goldenen Regeln, die für alle gelten.
Gibt es wirklich keinen allgemeingültigen Tipp, den Sie Menschen geben
können, die etwa eine Rede auf einer Hochzeit oder einen Vortrag in der Uni
halten müssen?
Generell sollte man versuchen, in seiner mittleren Stimmlage, der
sogenannten Indifferenzlage, zu sprechen. Das ist der Mittelwert der
Tonhöhe über längere Äußerungen hinweg. In dieser Stimmlage kann jede*r
ohne viel Anstrengung auch längere Zeit reden. Um die Indifferenzlage zu
finden, stellt man sich am besten ein leckeres Essen vor und sagt dann:
„Mmmhh lecker!“ Am Ende der Silbe „Mmmhh“ haben wir ungefähr eine Tonh…
erreicht, die der Indifferenzlage entspricht. Zusätzlich dazu ist es
wichtig, den Hörer*innen das Zuhören so einfach wie möglich zu machen.
Und wie stelle ich das am besten an?
Zum Beispiel, indem Sie auf verschachtelte Sätze verzichten und so viele
Hauptsätze wie möglich verwenden. Mündlichkeit ist sehr flüchtig,
Hörer*innen können nicht wie Leser*innen innehalten und noch einmal
einen Satz zurückgehen.
Was sagen Sie zu Ratgebern wie „Mit Stimme zum Erfolg“ oder „Die Macht der
Stimme im Business“?
Mehr als 90 Prozent dieser Bücher sind unseriös. Auch die Übungen sind
häufig unsinnig, so wie die sogenannte Korkenübung. Dabei klemmt man sich
einen Korken zwischen die Vorderzähne und spricht eine Weile, das soll die
Artikulationsgenauigkeit verbessern. Hat man aber einen Korken zwischen den
Zähnen, kann man seinen Kiefer nicht bewegen. Das kann sogar zur
Verkrampfung der Kiefermuskulatur führen. Dennoch glauben viele, dass sie
nach der Übung deutlicher sprechen könnten – dabei fühlt es sich einfach
nur gut an, nicht mehr den Korken im Mund zu haben.
3 Sep 2022
## LINKS
[1] https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_91467286/olaf-s…
[2] https://www.n-tv.de/politik/Bosnien-Beauftragtem-Schmidt-platzt-der-Kragen-…
[3] https://www.dailymotion.com/video/x20paw6
[4] https://www.spiegel.de/video/angela-merkel-1991-ein-tag-im-leben-der-jungen…
[5] https://www.youtube.com/watch?v=rjxz2WGl6KA
## AUTOREN
Rieke Wiemann
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Plattdeutsch
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