# taz.de -- Die Wahrheit: Hirn von der Leine | |
> Sanfter Spötter mit niedersächsischer Sachlichkeit: Dietrich zur Nedden | |
> ist tot. Nachruf auf einen Meister der stöbernden, beiseitedenkenden | |
> Ironie. | |
Bild: Die Gründer der „Fitzoblongshow“: Dietrich zur Nedden (l.) und Micha… | |
Wenn das Gehirn zum Zentralorgan im Leben und im Sterben eines denkenden | |
Menschen wird, bleibt fast nur noch die Ironie, um die vermaledeite Lage zu | |
meistern. Und Dietrich zur Nedden war ein Meister der milden Ironie und des | |
stöbernden Beiseitedenkens. Und er hatte einen Hirntumor. Der eines Tages | |
auftauchte, wuchs, beschossen und skalpelliert wurde, für eine Weile | |
verschwand, wiederkam und weiterwuchs. Ein Zustand, den er verhalten | |
lächelnd allen, die er kannte, mitteilte, denn er lebte und arbeitete | |
jahrelang mit seinem nur in Tomografie-Bildern sichtbar werdenden | |
Begleiter. Bis der Tumor seinem Hirn keinen Platz mehr gab. Am Montag starb | |
der Journalist, Schriftsteller und Wahrheit-Autor Dietrich zur Nedden in | |
seiner Heimatstadt Hannover. Er wurde 60 Jahre alt. | |
Nur logisch, dass sein letztes Buch von 2020 den Titel „Diesseits: Ein | |
Hirnroman“ trug. Ein letzter autobiografischer Versuch, die tödliche | |
Übernahme durch die „Fleischtomate“, wie er es nannte, erzählerisch zu | |
bannen. Im Roman berichtet sein Alter Ego von der Verzweiflung, der Liebe, | |
vor allem aber auch von der Komik angesichts der morbiden Situation: „Bunte | |
Blitze verhedderten sich mit einem Flimmern.“ Ein starker Geist verheddert | |
sich durch die Schwäche des Körpers, befreit sich jedoch aus den | |
Fallstricken eines unlösbaren Konflikts durch seine Gedankenfetzen, mit | |
denen alles Mögliche zusammengeführt werden kann, selbst die abseitigsten | |
Dinge. Die Freiheit des Erzählers besteht darin, das Jenseits zu belächeln | |
und lieber von einem Gedanken zum nächsten zu springen und daraus ein | |
komisches Prinzip zu formen: den Beiseitespott. | |
Dietrich zur Nedden war ein sanfter Spötter mit niedersächsischer | |
Sachlichkeit. Erst einmal absolvierte er deshalb ein solides Studium der | |
Geschichte, Soziologie und Germanistik und arbeitete als Redakteur eines | |
Stadtmagazins, bevor er sich 1987 entschloss, freier Autor zu werden. Eines | |
seiner großen Themen war der Fußball, was dazu führte, dass er bald darauf | |
für einige Jahre Pressesprecher des beliebten Vereins SC Freiburg wurde. | |
Als enger Freund des Trainers Volker Finke irritiert und amüsiert von der | |
Glitzerwelt des Fußballs, schilderte er gern, dass diejenigen, die ihn | |
sonst in seiner Heimatstadt nicht beachtet hatten, plötzlich zu grüßen | |
begannen, weil er ab und zu mit dem populären Trainer Finke um den Maschsee | |
in Hannover spazierte. | |
Freundschaft war eines seiner großen Lebensthemen – vor allem die mit | |
seinem Jugendfreund Michael Quasthoff, der ebenfalls in Hannover aufwuchs, | |
um dort zum Spötter, Schreiber und Wahrheit-Autor zu werden. Der Dritte im | |
Bund war Michaels Bruder Thomas Quasthoff, der später ein weltberühmter | |
Bassbariton werden sollte, mehrere Grammys gewann und heute als Professor | |
für Gesang an der Musik-Hochschule „Hanns Eisler“ in Berlin lehrt. | |
## | |
Ein robustes Triumvirat, aus dem eine der wichtigsten Lesebühnen | |
Deutschlands hervorging, die „Fitzoblongshow“, eine „musikalisch | |
unterfütterte literarische Nummernrevue“. Es wurden auf der Bühne komische | |
Texte gelesen, Lieder vorgetragen und Gäste aus dem Humor-Genre präsentiert | |
– nach dem gesungenen Motto des „Oblong-Songs“: „Hier wird frikassiert … | |
spekuliert, reflektiert, Haha-Habermas / Try it Baby and see: Anything goes | |
/ Dadn-Dáda, Dadn-Dadá … “ | |
Wer einmal die Gelegenheit hatte, mit auf der Bühne der Oblongs zu stehen | |
und vor allem bei der vorweihnachtlichen Endjahresaufführung mit allen | |
Gästen der Saison gemeinsam dieses Lied und andere zu singen, weiß, wie der | |
Himmel des Humors aussieht. Und erst recht, wenn es bei der | |
After-Show-Party im legendären Lokal Vater&Sohn zur Nachbearbeitung mit | |
Rauchen, Trinken und Frikadelle essen ging. | |
Als Michael Quasthoff im Jahr 2010 verstarb, führte zur Nedden auch als | |
Erinnerung an seinen kongenialen Partner die Show mit wechselnden | |
Co-Moderatoren fort – bis zum 25. Jubiläumsjahr 2018, als Fitzoblong zum | |
letzten Mal sein ulkiges Unwesen im Geiste seiner zwei namensgebenden | |
Figuren trieb: des kleinen Ritters „Oblong Fitz Oblong“ aus der Augsburger | |
Puppenkiste und des „Oblomow“, des literarischen Inbegriffs eines | |
Faulpelzes, den das umtriebige Duo sich als Mahnung herbeizitiert hatte. | |
Faul wäre man gern gewesen, aber der Antrieb, die allgemeinen Zustände und | |
die dafür verantwortlichen Personen zu verlachen, war dann doch zu groß. | |
## Dienstältester Kolumnist | |
Eher nebenher, so schien es, war zur Nedden für diverse Zeitungen und | |
Radiosender tätig, vor allem für den NDR, wo er unter anderem das Gedicht | |
des Tages auswählte. Für die Wahrheit war er der dienstälteste Kolumnist. | |
Rund 25 Jahre lang schrieb er seine Kolumnen über den „Strafplaneten Erde“, | |
berichtete von den merkwürdigen Vorkommnissen auf der Expo 2000 in Hannover | |
oder betrieb, wie in einem seiner ersten Wahrheit-Stücke, exquisite | |
Sprachforschung, als er 1996 ein Wort suchte, in dem „zwei Umlaute | |
unmittelbar hintereinander“ erscheinen. Und er entdeckte es tatsächlich: | |
die „Tüötten“. So wurden früher die weit hinauswandernden Leinen-Händler | |
aus Mettingen genannt. | |
Ein abseitiger Ort in Niedersachsen, ein bizarres Wort, ein verschüttetes | |
Kuriosum – hier sammelte sich bereits alles, was zur Neddens Witz | |
ausmachte. „Und Sie haben bei der Lektüre Ihrer Zeitung endlich wieder | |
einmal etwas gelernt“, schloss der Autor seine Kolumne mit feiner Ironie. | |
Denn ein Lehrer wollte er nie sein, obwohl wir Wahrheitistas viel von ihm | |
gelernt haben. Danke dafür. | |
Dietrich zur Nedden war, der Kalauer sei auch anlässlich seines Todes | |
abschließend erlaubt, ein Hirn, das von der Leine gelassen wurde. Im | |
„Hirnroman“ fragt der Autor sich selbst und die Leser: „Ist er tot? Das | |
Geheimnis lässt sich bis auf Weiteres nicht entschlüsseln.“ Sein Geheimnis | |
ist, dass seine komischen Gedanken für alle Zeiten weiter frei flottieren | |
werden. | |
6 Apr 2022 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
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