# taz.de -- Nach Vorwürfen gegen Till Lindemann: Staatlich verordnete Achtsamk… | |
> Familien- und Frauenministerin Lisa Paus von den Grünen fordert | |
> Awareness-Teams bei Konzerten. Entlässt das die Musikbranche aus der | |
> Verantwortung? | |
Bild: Einfach nur mit Warnweste rumlaufen reicht nicht | |
Die [1][drastischen Vorwürfe] gegen Rammstein wegen mutmaßlichen | |
Machtmissbrauchs und sexueller Übergriffe, die die Band in einem Statement | |
bestreitet, rufen die Politik auf den Plan. Familien- und Frauenministerin | |
Lisa Paus von den Grünen schlug eine ganze Reihe von Maßnahmen vor. | |
Die Musikindustrie solle einem Bündnis gegen Sexismus beitreten, die | |
„Nullte Reihe“ bei Rammstein-Konzerten, in die aufgrund von | |
Attraktivitätskriterien ausgesuchte junge Frauen aufgenommen worden seien, | |
solle abgeschafft werden, dafür sollen Schutzräume für Frauen eingerichtet | |
werden. Ein Vorschlag kam überraschend: Paus brachte [2][Awareness-Teams] | |
ins Spiel. | |
Diese sollen Betroffenen bei Konzerten zur Verfügung stehen, wenn es zu | |
sexuellen Übergriffen kommt. Awareness-Teams, die üblicherweise in | |
Zweierteams in hellen Warnwesten durch Partys streifen und oft auch an | |
einem stationären Infotisch ansprechbar sind, sollen die erste Anlaufstelle | |
sein, wenn sich jemand aus welchen Gründen auch immer unwohl fühlt. | |
Überraschend kommt dieser Vorschlag deshalb, weil das Konzept von | |
Awareness-Teams aus linken Subkulturen stammt. Nun wurde sie aus dunklen, | |
selbstorganisierten Kellern in die grelle Öffentlichkeit der Bundespolitik | |
getragen. Das könnte einem wichtigen und mittlerweile gut erprobten Konzept | |
verdiente Aufmerksamkeit bescheren. Aber: Was meint Lisa Paus genau, wenn | |
sie von Awareness spricht? Kann man so ein Konzept von oben herab | |
verordnen? | |
## Ursprung in linken Subkulturen | |
Der Ursprung von Awareness-Teams ist ein ganz anderer: Durch jahrelange | |
Erfahrung und Diskussionen über den Umgang mit Sexismus, Diskriminierung, | |
zwischenmenschlich manifestierten Machtgefällen sowie möglichen Problemen | |
durch Alkohol- und Drogenkonsum entstand seit den späten Neunzigern das | |
Konzept Awareness erst in linken Partykreisen, bald auch in queeren Szenen. | |
Awareness bedeutet Achtsamkeit oder Bewusstsein. | |
Trotz des englischen Namens ist es ein Konzept, das fast nur im | |
deutschsprachigen Raum verbreitet ist, denn es ist auch Ausdruck eines | |
Bewusstseinswerdungsprozesses gewisser Milieus, in denen emotionale, | |
intellektuelle und schlussendlich organisatorische Auseinandersetzungen | |
über den Umgang mit Sexismus und Diskriminierung geführt wurden. | |
Am Awareness-Konzept ist auch zentral, dass man eine Instanz geschaffen | |
hat, die den offiziellen staatlichen Strukturen vorgelagert ist. Statt | |
sofort die Polizei zu rufen, will man Probleme innerhalb der Szene lösen. | |
Wenn jemand auf Drogen zusammenklappt oder einen schlechten Trip hat, muss | |
man nicht sofort den Krankenwagen rufen und die Person dem Gesundheitswesen | |
übergeben. Geschultes und erfahrenes Personal kann abschätzen, ob die | |
Person einfach Ruhe und Magnesiumwasser braucht um runterzukommen oder | |
tatsächlich ins Krankenhaus muss. | |
So sollen auch repressive Strukturen aus Partys zurückgedrängt werden | |
(wobei man manchmal nicht umhin kommt, die Secus oder sogar die Polizei | |
dazuzuholen). Awareness-Teams sind weder Erste Hilfe noch Security oder | |
Sozialarbeiter:innen, sondern eine Form der Selbstregulierung und der | |
Self-Care einer Gemeinschaft. Sie rekrutieren sich dabei meist aus der | |
Szene selbst, kennen die Codes, Verhaltensweisen und Traditionen der | |
Gemeinschaft, um die sie sich kümmern. Abgesehen von den Westen sind sie | |
ästhetisch oft kaum von den anderen Besucher:innen zu unterscheiden. | |
## Pinke Warnwesten reichen nicht | |
Wenn nun eine Bundespolitikerin fordert, solche Teams einzusetzen, | |
verändert sich die Dynamik. Linke Stimmen warnen bereits vor der | |
Professionalisierung von Awareness-Strukturen. Es ist zwar wichtig, dass | |
diese Form von Care-Arbeit auch bezahlt wird. Alle, die schon mal bei einer | |
Party gearbeitet haben, wissen, dass das nicht nur Spaß macht. Allerdings, | |
so die Kritik, entfernt sich das Awareness-Konzept dadurch immer weiter von | |
seinen Ursprüngen und den Szenen, die es getragen haben. Bald schon besteht | |
kaum noch ein Unterschied zwischen klassischer Security und Awareness. | |
Schon jetzt ist es ein Problem, dass sich Veranstalter eine pinke Warnweste | |
überstreifen und dann so tun, als wäre damit alles in Butter. So kann | |
vorgegaukelt werden, man tue etwas gegen Sexismus und Diskriminierung, ohne | |
jedoch wirklich aktiv zu werden. Wenn nun Veranstalter von riesigen | |
Konzerten, die seit Jahrzehnten bei den in der Musikszene so verbreiteten | |
Übergriffen weggesehen haben, diese Machtstrukturen befördert und | |
finanziell von ihnen profitiert haben, ein paar bezahlte Menschen in | |
Warnwesten durchs Publikum streifen lassen und einen verschämten Infotisch | |
in eine Ecke stellen, um so den Anschein zu erwecken, sie wollten endlich | |
gegen die Missstände ihrer Branche vorgehen, dann versuchen sie sich damit | |
von ihrer wahren Verantwortung reinzuwaschen. | |
Und sie missbrauchen auch die jahrelange Auseinandersetzung von Menschen in | |
linken und queeren Subkulturen mit den in uns allen vorhandenen | |
Machtstrukturen und der Suche nach Lösungen für einen Umgang damit. | |
7 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Vorwuerfe-gegen-Rammstein/!5934908 | |
[2] /Achtsamkeit-auf-Parties/!5614902 | |
## AUTOREN | |
Caspar Shaller | |
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