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# taz.de -- Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger: Flucht vor der Verantwortung
> Dass die Rockband Rammstein ungerührt weiter auftritt, ist ein
> Armutszeugnis – gerade auch für die Fans, die mutmaßlich Betroffene
> alleine lassen.
Bild: Demo gegen das Rammstein-Konzert im Münchner Olympiapark am 7. Juni
In letzter Zeit hatte man das Gefühl, dass sich in Bezug auf
#MeToo-Recherchen ein Ermüdungseffekt eingestellt hätte. „Schon wieder so
’ne #MeToo-Geschichte“, oder: „Ach, bei dem war das doch eh klar“, hie�…
dann. Auch nach den Vorwürfen gegen Rammstein und insbesondere gegen Sänger
Till Lindemann gibt es solche Abwehrreflexe. Mittlerweile ist bei vielen
aus Abwehr Entsetzen geworden. Denn es ist der mutmaßlich schwerwiegendste
#MeToo-Fall, der Deutschland bislang beschäftigt hat. Doch niemand möchte
Verantwortung übernehmen.
Vor zwei Wochen erzählte [1][die Irin Shelby Lynn] auf Twitter und
Instagram, dass sie nach dem Rammstein-Konzert in Vilnius hinter die Bühne
eingeladen worden sei und dort ein mit Drogen versetztes Getränk bekommen
habe. Nachdem sie Sex mit Lindemann ausgeschlagen habe, soll dieser
unwirsch reagiert haben. Zu den Vorwürfen postete sie ein Bild ihres
Körpers, der von Hämatomen übersät war. Wie diese entstanden seien, daran
könne sie sich nicht erinnern.
Seitdem gehen immer mehr Frauen an die Öffentlichkeit, teilen ihre
Erfahrungen, deutsche Medien veröffentlichen quasi täglich neue Recherchen.
Die Vorwürfe unterscheiden sich, summieren sich aber zum Bild eines
missbräuchlichen Systems: Frauen sollen aus der „Row Zero“, einem
privilegierten Bereich vor der Bühne, ausgesucht, in einen
Backstagebereich gebracht und dort einige von ihnen unter Drogen gesetzt
worden sein. In einer schwarz gehaltenen Kammer unter der Bühne sollen sie
zu sexuellen Handlungen gedrängt worden sein.
Für Rammstein und Lindemann gilt die Unschuldsvermutung. Auf Anfrage der
taz wurde durch einen Sprecher der Band [2][auf die öffentlichen
Statements] verwiesen. Durch Anwälte ließ Rammstein nun die Vorwürfe
zurückweisen und kündigte rechtliche Schritte gegen die Frauen und Medien
an. Eine Assistentin Lindemanns, der vorgeworfen wird, junge Frauen für den
Sänger angesprochen zu haben, wurde entlassen.
## Munter weiter feiern
Doch ansonsten macht es den Eindruck, als ginge es für die Band weiter wie
gewohnt. Am Mittwochabend fand ihr erstes Deutschlandkonzert im
ausverkauften Olympiastadion in München statt. Die „Row Zero“ blieb leer,
der Song „Pussy“ und die Performance der Peniskanone fehlten. Die Fans aber
feierten wie immer munter mit.
Für die mutmaßlich Betroffenen ist dagegen nichts wie immer: Lynn sieht
sich enormem Hass im Netz ausgesetzt, ein User setzte ein Kopfgeld auf sie
aus. In den Kommentarspalten der sozialen Medien wimmelt es von
Beleidigungen, Desinformation und Bedrohungen. Wer sich eine Weile durch
die Kommentare liest, mag für kurze Zeit den Glauben an die Menschheit
verlieren. Die Aussagen sind an Widerwärtigkeit kaum zu überbieten. Den
Betroffenen wird vorgeworfen, sie lögen für den „Fame“. Immer wieder hei�…
es, die Frauen seien dumm und naiv, sie hätten wissen müssen, was sie zu
erwarten haben. Die Gewalt wird so als Selbstverständlichkeit hingenommen
und legitimiert.
Eine Täter-Opfer-Umkehr ist nichts Neues. Wenn Frauen mit ihren Erfahrungen
an die Öffentlichkeit gehen, werden sie mit Beschämungen und Vorwürfen
überzogen. Ihre Kleidung, ihr Auftreten, ihre bloße Anwesenheit werden zur
Argumentation benutzt, um die Schuld bei ihnen abzuladen. Diese
Schuldumkehr findet sich nicht nur unter Hardcorefans. In einem
FAZ-Kommentar unter dem Titel [3][„Ein Konzert ist kein Kindergarten“]
heißt es in Bezug auf die Rekrutierung junger Frauen, dass man Erwachsene
nicht vor Zumutungen schützen müsse, die sie selbst suchten.
Nach fast sechs Jahren #MeToo hat der Hass gegen die mutmaßlich
betroffenen Frauen ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Auch
Feminist_innen, die sich solidarisch mit den Betroffenen zeigen, erfahren
ihn. Berichten zufolge sollen Demonstrant_innen vor dem Olympiastadion am
Mittwochabend gefilmt, beleidigt und bedroht worden sein.
## Nur Symbolisches
Dass die Konzerte überhaupt stattfinden, ist ein Armutszeugnis. Doch es
zeigt einmal mehr, dass kaum eine_r bereit ist, hier Verantwortung zu
übernehmen. Aus der Politik kamen zwar pauschal Verurteilungen des
Missbrauchs, aber sonst folgte nur Symbolisches. Die Forderungen der Grünen
nach einem Verbot der „Row Zero“, nach Awarenessteams und einem Safe Space
gehen wieder in die gleiche Richtung: Wieso müssen denn die potenziellen
Opfer in abgesperrte Sicherheitsbereiche gesteckt werden?
Welche Vorwürfe sich erhärten und was davon strafrechtlich relevant ist,
haben Staatsanwaltschaften und Gerichte zu klären. Doch als Gesellschaft
sind wir es den mutmaßlich Betroffenen schuldig, verantwortungsvoll mit
ihren Vorwürfen umzugehen. Denn selbst wenn man davon ausgeht, dass nur die
schwächsten davon stimmen und diese nicht justiziabel sind, handelt es sich
doch eindeutig um Machtmissbrauch.
Klar ist deswegen, dass die Vorwürfe das Ende von Rammstein bedeuten
müssen. Doch damit nicht genug, denn so ein mutmaßlich missbräuchliches
System kann nur entstehen, wenn es von vielen mitgetragen wird. Es braucht
ein großes Netz aus Menschen, die mitmachen, wegschauen oder schweigen.
Denn wenn die Schilderungen der Betroffenen zutreffen: Wer baut denn dann
jedes Mal den Raum unter der Bühne auf? Wer sorgt dafür, dass es eine „Row
Zero“ gibt? Wer schützt diese Räume, dass niemand reinkommt? Wer besorgt
die Drogen für die Drinks? Wer sucht die Frauen aus? Es ist wenig
glaubhaft, dass nun wieder keine_r von etwas gewusst hätte. Die Band, die
Veranstalter_innen, die Booker, das Management, die Securityleute, die Fans
– sie alle müssen sich ihrer Verantwortung stellen.
## Viele Fragen
Gleiches gilt für Journalist_innen und prominente Wegbegleiter_innen,
die die offensichtliche Misogynie der Band romantisiert und Lindemanns
Gedichte mit Vergewaltigungsfantasien verteidigt haben. Auch der
KiWi-Verlag, der die sexistische und gewaltverherrlichende Lyrik Lindemanns
veröffentlicht hatte, muss sich fragen, warum er erst jetzt die
Zusammenarbeit beendet hat.
Solche missbräuchlichen Systeme, die über Jahre aufgebaut wurden, müssen
gemeinsam niedergeschlagen werden. Hoffentlich haben wir als Gesellschaft
aus #MeToo wenigstens eines gelernt – nämlich, dass diese Aufgabe nicht
wieder eine allein der Frauen sein darf.
9 Jun 2023
## LINKS
[1] /Anschuldigungen-gegen-Till-Lindemann/!5939317
[2] /Nach-Vorwuerfen-gegen-Till-Lindemann/!5936325
[3] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/rammstein-und-lisa-paus-sind-erw…
## AUTOREN
Carolina Schwarz
## TAGS
Schwerpunkt #metoo
IG
Rammstein
Fans
Missbrauch
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Kolumne Änder Studies
Unschuldsvermutung
Schwerpunkt #metoo
Subkultur
Deutschrock
Schwerpunkt #metoo
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