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# taz.de -- Eine Vermessung der Niederlande: Die abgehängte Provinz
> Der Wahlerfolg der Bauern-Bürger-Bewegung hat gezeigt, wie gespalten die
> Niederlande sind. Der Riss verläuft zwischen Ost und West, Provinz und
> Stadt.
Bild: Tubbergen ist stark agrarisch geprägt. Die BBB holte hier am 15. März k…
Doetinchem/Tubbergen und Winschoten taz | Harma Kempinga, eine große Frau
mit kurzen, rot gefärbten Haaren und auffallend blauen Augen, ist gerade
von ihrer Runde als Briefträgerin zurückgekehrt. Mit ihrem Mann Arie, einem
Taxifahrer, wohnt sie in einem schmucklosen Reihenhaus in einer
Backsteinsiedlung am Stadtrand von Winschoten, 30 Kilometer östlich von
Groningen, nahe der deutschen Grenze. Die drei Kinder sind aus dem Haus. In
der Diele hängt Kempingas orange-blaue Dienstkleidung. 12,06 Euro verdient
sie in der Stunde, etwas mehr als der Mindestlohn – „nach zehn Jahren im
Unternehmen“.
Manchmal denkt Harma Kempinga ans Auswandern, weil alles so teuer ist,
erzählt sie. Der ständige Blick auf Preise und Ausgaben ist ihr nach all
den Jahren zur Gewohnheit geworden. Der Großeinkauf gestern: 90 Euro. „Und
der Kühlschrank ist nicht mal voll“, sagt Kempinga anklagend im Tonfall der
Region Groningen, den man besser versteht, wenn man mit jenem drüben in
Ostfriesland vertraut ist.
Auf dem Esstisch vor der offenen Küche stehen eine Obstschale und eine
runde Dose mit Filzstiften. Für die Enkelkinder, die Kempinga „unsere
Goldblümchen“ nennt, wenn sie zu Besuch sind. Daneben steht ein Teller
Donuts. Ihr Mann serviert Nescafé.
Harma Kempinga, 44 Jahre alt und wenige Kilometer entfernt aufgewachsen,
gehört zu jenen Niederländer:innen, die bei den [1][Provinzwahlen im März
ihr Kreuz bei der BoerBurgerBeweging] (BBB, auf deutsch:
Bauern-Bürger-Bewegung) gemacht haben. Genau wie 32,5 Prozent der
Wähler:innen der Kommune Oldambt, zu der Winschoten gehört.
## Unter der Armutsgrenze
Warum? „Weil sie für Leute wie mich steht. Leute, die in Schwierigkeiten
stecken, nach denen aber niemand guckt. Für Bauern, für einfache Menschen,
nicht nur solche mit hohem Bildungsabschluss. Für Geringverdienende. Nach
so etwas habe ich schon sehr lange gesucht. Und ich hoffe, dass ich es
jetzt gefunden habe.“
Die populistische BBB ist im März erstmals bei den Provinzparlamentswahlen
angetreten, wo die Vertreter für die zwölf niederländischen Provinzen
gewählt werden. Zugleich wird dort über die Zusammensetzung des
niederländischen Senats entschieden. Die BBB wurde auf Anhieb stärkste
politische Kraft, bekam 16 von 75 Sitzen im Senat. Seit der Wahl versuchen
Medien und Sozialwissenschaftler:innen, die Unzufriedenheit in der
niederländischen Gesellschaft zu erklären. Dabei landen sie schnell bei
Menschen wie den Kempingas.
Menschen, die mit wenig Mitteln ständig am Rand des Abgrunds balancieren.
Die zu den mehr als 200.000 Personen gehören, die in Armut leben, obwohl
sie Arbeit haben. Als Armutsgrenze gilt in den Niederlanden ein Betrag von
1.500 Euro monatlich – bei Familien um die 2.000 Euro –, der die Kosten für
Leben, Wohnung und Energie decken muss.
In Winschoten sind die Kempingas kein Einzelfall. Wenn sie als
Briefträgerin ihre Runde durch die 18.000-Einwohner-Stadt dreht, redet
Harma Kempinga viel mit den Leuten. Vertrauen in die Regierung habe niemand
mehr, sagt Kempinga. „Neulich sah ich an einem Haus ein Plakat. ‚Eigen volk
eerst‘ stand darauf.“ Sie klingt betroffen.
„Das eigene Volk geht vor“ – die Geschichte dieser Parole sagt einiges
darüber aus, wie sich die Niederlande in den vergangenen 20 Jahren
verändert haben. Einst hörte man diese Aussage nur in der extremen,
völkischen Rechten. Heute ist sie konsensfähig geworden. Aus dem Ausland
erscheint es dann oft, als hätte sich diese Gesellschaft mit einem Mal von
einem Leuchtturm der Toleranz in ein Irrlicht der Xenophobie verwandelt.
Was natürlich Unsinn ist, denn bei beidem handelt es sich um ein Zerrbild.
Sowohl die eine Strömung als auch die andere hat es immer gegeben. Doch ihr
Verhältnis hat sich umgekehrt.
Die Wende in den Niederlanden kam mit Pim Fortuyn, dem flamboyanten
Volkstribun, der 2001 eine Anti-Zuwanderungs-Agenda mit Kritik an der
multikulturellen Gesellschaft und der etablierten Politik verband. Nach
seiner Ermordung 2002 spitzte Geert Wilders mit seiner Partij voor de
Vrijheid die xenophoben Ausfälle zu. Wie Fortuyn inszenierte er sich als
Anwalt der kleinen Leute. Mitte der 2010er Jahre tauchte dann Forum voor
Democratie auf, das sich, ähnlich der AfD in Deutschland, zunächst als
wirtschaftsliberal-konservative Partei gab. Nach einer Radikalisierung im
Schnelldurchgang ist Forum heute fest im Alt-Right- und Verschwörungsmilieu
verwurzelt.
## Wut aufs Finanzamt
Bei Harma Kempinga zu Hause wurde früher, wie häufig im armen,
strukturschwachen Osten der Provinz Groningen, strikt kommunistisch
gewählt. Dennoch erwog auch sie vor einigen Jahren, ihre Stimme Geert
Wilders zu geben. Sie dachte, er setze sich für Leute wie sie ein. Sie
wählte ihn dann doch nicht. „Das, was er über ausländische Menschen sagt,
ist mir zu extrem. Er ist mir unheimlich“, sagt sie. Dass die BBB auf
diese Rhetorik verzichtet, macht die Partei für sie überzeugender.
Kempinga ist eine herzliche, lebensfrohe Frau. Überall, wo sie die Post
zustellt, wird sie freudig begrüßt. Die große Wut, die in Gesprächen in ihr
hochkocht, hat mit den Ursachen zu tun, warum ihre Familie überhaupt in
diese missliche Lage geriet. Mitte der Nullerjahre unterlief jemandem beim
niederländischen Finanzamt ein folgenschwerer Fehler.
Kempinga konzentrierte sich damals auf die Betreuung ihrer Kinder, vor
allem der Zwillinge, die wegen ihrer Hyperaktivität mehr Aufmerksamkeit
brauchten. Doch aus den 3.000 Euro jährlich, die sie mit Minijobs zum
Familieneinkommen beisteuerte, wurden durch eine Unachtsamkeit der Behörden
30.000 Euro – ein Finanzbeamter hängte eine Null zu viel an die Summe.
Die Konsequenz: Harma Kempinga sollte jahrelang empfangene Zulagen für
Miete und Krankenversicherung zurückzahlen. Das Paar versuchte rechtlich
dagegen vorzugehen, doch es scheiterte. Ein absurder Vorgang, der nur so zu
erklären ist, dass das Finanzamt zu jener Zeit überall Betrugsversuche von
Leistungsempfänger:innen witterte.
Mit Bußgeldern und Kosten für Gerichtsvollzieher türmten sich die
Forderungen schnell zu 20.000 Euro auf und wuchsen weiter an. Zehn Jahre
lang musste die Familie mit 80 Euro pro Woche auskommen, erzählt Kempinga.
Der Gang zur Tafel wurde zum Alltag. Genauso wie die Einschränkungen: Sie
wollten ihren Kindern Vollkornbrot geben, doch das Geld reichte nur für
Weißbrot.
„Als Familie macht dich das kaputt. Ich bin stolz darauf, dass wir noch
zusammen sind.“ Einzig durch das Kindergeld gab es „die Möglichkeit, mal
etwas Schönes mit den Kindern zu machen“, erinnert sich Harma Kempinga. Der
Fall der Familie schlug Wellen in den Niederlanden.
Was man damals nicht wusste: Das Finanzamt beschuldigte über Jahre hinweg
auch mehr als 20.000 Empfänger:innen von Betreuungsgeld
fälschlicherweise des Sozialbetrugs. Auffallend viele der vor allem
migrantischen Eltern hatten eine doppelte Staatsbürgerschaft. Und wie die
Kempingas mussten auch sie Beträge zurückzahlen, die ihre Möglichkeiten
weit überstiegen.
Zahlreiche Familien und Existenzen zerbrachen daran. [2][2021 trat die
Regierung deswegen zurück]. Seither wird die „Zuschlagaffäre“ immer
erwähnt, wenn es um Erklärungen dafür geht, dass die Regierung, die nach
den Wahlen in gleicher Konstellation wieder an die Macht kam, so über die
Maßen unbeliebt ist.
## Ein Denkzettel für die Regierung
Die Kempingas lernten schließlich über eine TV-Reportage einen Mann kennen,
der ihnen mit mehreren Schenkungen aus den Schulden half. Kempinga erinnert
sich heute vor allem an das Gefühl von Ohnmacht gegenüber den Behörden –
daher auch ihre Wut auf „Den Haag“.
Hinter dem Wunsch, der Regierung einen Denkzettel zu verpassen, steckt aber
oft auch ein regional verbreitetes Ressentiment. Es ist ein Aufbegehren der
Peripherie, jener Teile der Niederlande, die man selbst im Nachbarland
Deutschland kaum wahrnimmt, gegen die urbane Agglomeration im Westen – die
„Randstad“, wie der Ballungsraum Amsterdam, Rotterdam, Den Haag und Utrecht
auf Niederländisch genannt wird.
Hier wohnen und arbeiten die meisten Menschen, hier werden Entscheidungen
getroffen, hier sitzt das Geld. Wenn auf dem „platteland“, der Provinz
also, über „den Westen“ gesprochen wird, geschieht das oft mit dem Gefühl,
nicht mehr als ein Anhängsel zu sein.
In der Region Groningen kommt noch ein wesentlicher Faktor dazu: Seit dort
1959 das größte Erdgasfeld Europas entdeckt wurde, spülte das Gas mehr als
420 Milliarden Euro in die Staatskasse. Auch Deutschland gehörte bis vor
Kurzem zu den Exportländern. Vor Ort aber sorgten die Gasbohrungen für
zahlreiche Erdbeben. Keine Katastrophen wie in der Türkei, Syrien oder
Haiti, aber stark genug, um Häuser ernsthaft zu beschädigen und eine
permanente Unsicherheit unter jenen zu verbreiten, die hier wohnen und die
über die Verschleppung Zehntausender Reparaturfälle klagen.
Lange schenkte man dem im Westen des Landes kaum Beachtung. Wenn
Journalist:innen über einsturzgefährdete Häuser und die Sorgen ihrer
Bewohner:innen berichteten, hieß es, in Groningen dramatisiere man die
Sache wohl. Erst nach jahrelangen Protesten hat die Regierung den Ernst der
Lage erkannt und die Gasförderung weitgehend beendet.
Eine Enquetekommission präsentierte Anfang des Jahres einen vernichtenden
Report. Die Regierung, heißt es, habe die Interessen der Groninger
Bevölkerung systematisch negiert und die Aussicht auf Gewinne permanent
über die Sicherheit vor Ort gestellt. Fazit: „Ein beispielloses
Systemversagen.“
## Hügel, Wald, Wiese
In Tubbergen, knapp 90 Kilometer westlich von Osnabrück, ist der Unmut
anders begründet. Die Kommune, eine Ansammlung von Dörfern und Weilern mit
insgesamt gut 20.000 Menschen, ist stark agrarisch geprägt. Hier sind die
Bäuer:innen die Kernklientel der BBB. Erst 20 Jahre ist es her, dass
Tubbergen, in der Region Twente, am Rand der Provinz Overijssel gelegen, zu
80 Prozent christdemokratisch wählte. Die BBB holte hier am 15. März knapp
59 Prozent der Stimmen, so viel wie nirgendwo sonst.
Am schnellsten gelangt man über die A1 nach Tubbergen. Die Autobahn, die
bei Amsterdam beginnt, verbindet die beiden ungleichen Teile dieses Landes,
den urbanen Westen und den ländlichen Osten. Auf der Strecke: Hügel, Wald,
Wiese. Viel Natur ist es nicht, doch in einem Land, wo man fast immer von
irgendwo Autos rauschen hört oder ein Zug noch die abgelegenste Szenerie
durchkreuzt, fühlt man sich fast, als dringe man tief in die Wildnis vor.
Die Gegend erinnert an ein Lied, das vor zwei Jahren überall im Radio lief
und mit der Zeile anfing: „Sie nennen es das Ende der Welt, doch eigentlich
ist es gar nicht so weit weg.“
Es nieselt in Tubbergen an diesem Apriltag. Trotzdem grüßt sich freundlich,
wer sich in der properen Einkaufsstraße begegnet. Vor allen Geschäften
klingt aus Lautsprechern das Gleiche, eklektische Einkaufsradio.
Kirmestechno. „I love Rock ’n’ Roll“. „Three little birds“. Eine 30…
Bauerntochter hat BBB gewählt, weil ihr Vater einen Hof betreibt, wie sie
erzählt. Ein Bauarbeiter, der mit seiner Frau vom Einkaufen kommt, wollte
mit seiner Stimme eher „der Regierung einen Tritt geben, damit der Laden in
Bewegung kommt“. Das Ergebnis sei ein mehr als deutliches Signal. „Seitdem
haben sie wohl nicht so gut geschlafen.“
Ganz hervorragend hingegen schläft in letzter Zeit Carla Evers. Die
Spitzenkandidatin der BBB in der Provinz Overijssel wohnt in Hezingen,
einem 200-Seelen-Dorf in der Nähe von Tubbergen. Carla Evers betreibt hier
mit ihrem Mann Erwin einen Geflügelhof. Um das Gelände zu betreten, müssen
Besucher:innen über Matten laufen, sodass sie keine Vogelgrippeerreger
hineintragen können.
## Verteidigung des agrarischen Sektors
Die Spitzenkandidatin, die in diesem Jahr 60 wird, doch um einiges jünger
wirkt, stieg erst vor einem Jahr in die Politik ein. Bevor sie ihren Mann
kennenlernte, arbeitete sie als Maklerin. Nun aber, als Bäuerin, ist sie
mit dem Kerngeschäft der BBB eng verbunden. Das bedeutet, den agrarischen
Sektor zu verteidigen gegen vermeintlich überflüssige, jedenfalls als zu
zahlreich wahrgenommene Regeln aus Den Haag.
Verschärft hat sich dieser Konflikt 2019, als die Regierung beschloss, den
landwirtschaftlichen Stickstoffausstoß zu senken. 2022 eskalierte er dann,
nachdem Den Haag ankündigte, Höfe mit hohen Emissionen aufzukaufen und
notfalls zu enteignen. Als die Landwirt:innen mit ihren Traktoren auf
die Straßen rollten, sympathisierten viele mit ihnen.
Worum gestritten wird, kann man von Evers’ Fenster aus sehen: Eines der
Naturgebiete, die laut EU-Habitat-Richtlinie vor zu viel Stickstoff
geschützt werden müssen, grenzt an ihr Grundstück. Die Auseinandersetzung
mit den Behörden darüber ist ihr bestens vertraut.
Irgendwann wurde die Agrar-Branchenorganisation LTO auf sie aufmerksam,
einige Jahre saß sie im Provinzvorstand. „Dort bekam ich den Eindruck, dass
die Behörden nur senden, den Menschen aber nicht richtig zuhören. Und die
LTO setzte sich nicht genug für die Bäuer:innen ein.“ Sie gab ihre
Tätigkeit auf und ging schließlich selbst in die Politik.
Zu dieser Zeit, 2021, nahm die BBB erstmals an Parlamentswahlen teil und
gewann ihren ersten Sitz in Den Haag. Zur VVD, der liberal-rechten
Regierungspartei, die sie früher gewählt hatte, war Evers inzwischen auf
Abstand gegangen. Wie eigentlich zur gesamten etablierten Politik. „Ich
hatte sehr stark den Eindruck, dass die Leute nicht ernst genommen werden.“
Was sie besonders frustrierend fand: dass Menschen in den Städten ihrem
Berufsstand pauschal die Schuld an der Klimakrise geben. So nahm sie es
jedenfalls wahr.
## Wer tut was für die Umwelt?
„Natürlich können Bäuer:innen ihre Emissionen reduzieren. Aber manchmal
frage ich Leute, was sie selbst für die Umwelt tun. ‚Ich esse zweimal pro
Woche kein Fleisch‘, sagen sie dann. Aber sie fahren drei Mal jährlich in
Urlaub. Wenn ich dann frage: ‚Mit dem Fahrrad?‘, sind sie irritiert. ‚Du
findest also, Bauernhöfe müssen verschwinden, aber fliegst zum
Junggesellenabschied nach Mailand?‘, bohre ich weiter. Die Antwort ist oft:
‚Ist das jetzt auch schon nicht mehr möglich?‘“
Was die Spitzenkandidatin hier anspricht, ist symptomatisch für die tiefe
Kluft, die sich durch das Land zieht. Hier der urbane Westen, dort der
periphere Osten, hier die internationale Ausrichtung, dort die Besinnung
auf den Boden der Tradition und übersichtliche Verhältnisse, gemütlich,
etwas behäbig, nicht ohne Selbstbewusstsein. Auf der Website der BBB
schreibt die Spitzenkandidatin Carla Evers, dass sie nach ihrer Ausbildung
in Den Haag „so schnell wie möglich wieder zurück in den Osten“ wollte.
Warum? „Das Dörfliche. Platz haben. Einander kennen“, sagt sie. „Der Ost…
ist ein Gefühl.“
Wieder kommt einem dieses Lied in den Sinn. „De overkant“, so heißt es,
„Die andere Seite“, von einem Duo namens Suzan & Freek. Eine Ode an ein
Dorf, in dem es nichts zu erleben gibt, nur eine Kneipe und eine Kirche, wo
man jeden Nachnamen kennt, jeden Platz und das Fahrrad unabgeschlossen am
Weg stehen lassen kann. Der Refrain: „Es ist still hier auf der anderen
Seite, aber hier komm ich her.“
Im Coronasommer 2021 traf das Lied den Nerv der Zeit. Selbstkritisch
blickten viele Niederländer auf die eigenen Konsummuster und den hektischen
Arbeitsalltag, sehnten sich nach Zeit und Ruhe, nach Authentizität. Urlaub
im eigenen Land wurde, wenn auch notgedrungen, zu einem Hype.
Auf das Lied angesprochen, lacht Evers. „In meiner Zeit als Maklerin war
der Vater von Suzan, der Sängerin, mein Kollege.“ Mit dem Text kann sie
sich vollkommen identifizieren. Für das, was er beschreibt, gibt es im
Osten der Niederlande einen Begriff, den man in der Region Twente
„Noaberschap“, Nachbarschaft, nennt. Der Begriff bezeichnet mehr als nur
zufällige räumliche Nachbarschaft, sondern darüber hinaus: füreinander
einzustehen, in jeder Lebenslage. „Früher war man darauf hier draußen
einfach angewiesen. Man schaffte etwa Maschinen zusammen an“, erklärt
Evers. „Als wir heirateten, nahmen sich unsere Nachbarn eine Woche Urlaub,
um alles vorzubereiten.“
## In der Provinz rennt die BBB offene Türen ein
Die BBB hat dieses Prinzip zu einem ihrer Kernwerte erhoben. „Die anderen
sind: Menschen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden will,
Authentizität und Professionalität“, zählt Evers auf. In der Provinz, wo
die Infrastruktur abgebaut wird und man sich vom „Westen“ permanent
vernachlässigt fühlt, rennt die Partei damit offene Türen ein. Und in einer
Gesellschaft, deren Abstand zum politischen Establishment rasant wächst.
Laut einer Umfrage vom vergangenen Herbst vertrauen 67 Prozent der
Befragten der Politik „wenig oder sehr wenig“ – ein neuer Tiefstwert nach
den 61 Prozent im Vorjahr. Das Misstrauen gegenüber Premier Mark Rutte
stieg im gleichen Zeitraum von 56 auf 67 Prozent.
René Cuperus, ein bekannter Politologe, sieht all dies als Anzeichen für
einen Aufstand der Provinz gegen die Städte. „Es sind zwei unterschiedliche
Welten. Es herrscht beinahe Segregation. Genau wie der Brexit ein Aufstand
gegen London war und die Peripherie in Frankreich gegen Paris
demonstriert“, sagte er in einem Gespräch mit der wochentaz im Herbst 2022.
Er ist Mitverfasser der Studie „Atlas der abgehängten Niederlande“, in der
er die Vertrauenskrise von Politik und Regierung vor Ort untersucht. Fazit:
„Große Teile des Landes, gerade in der Provinz, fühlen sich nicht mehr
repräsentiert.“
Cuperus begründet diese Entwicklung damit, dass sich der Versorgungsstaat
in eine Effizienzgesellschaft verwandelt habe. Wie zuletzt während der
Coronapandemie gesehen, habe diese keine Pufferzonen mehr. Dazu komme der
Abbau von Infrastruktur, Schulen und Arztpraxen, die schließen, Buslinien,
die gestrichen werden, und die rigorose Austeritätspolitik.
Untersuchungen der Plattform Follow The Money bestätigen Cuperus. Demnach
wurden zwischen 1997 und 2021 insgesamt 1.410 Grundschulen im Land
geschlossen – fast jede fünfte. In 178 Dörfern gibt es keine Grundschule
mehr. In der nördlichen Provinz Friesland sank die Zahl der
Polizeistationen seit den 80er Jahren um zwei Drittel, im dichtbevölkerten
Süd-Holland dagegen wurde nur gut ein Viertel der Wachen geschlossen.
## „Blau-Weiß-Rot, Land in Not“
Die umgedrehte niederländische Fahne, die seit den Agrarprotesten im Sommer
2022 monatelang überall auf dem Land im Wind wehte und sich heute noch an
mancher Straße in der Provinz findet, war auch eine Antwort auf diese
Entwicklungen. Die Parole „Blau-Weiß-Rot, Land in Not“ wurde der Seefahrt
entlehnt, wo eine solche Fahne nach einem Unglücksfall entsprechend „Schiff
in Not“ bedeutete. Nun richteten sich die Proteste gegen einen Staat, der
sich angeblich von seinen Bürger:innen abgewandt hatte. „Die Botschaft
ist wie bei den Gelbwesten: ‚Wir lassen uns nicht länger verarschen!‘“,
konstatiert Cuperus.
Tatsächlich ist auch in den Niederlanden eine vage und damit politisch
schwer einzuordnende Protestbewegung von Menschen entstanden, die sich
„abgehängt“ fühlen. Insofern ähnelt sie der Gelbwesten-Bewegung, wenn au…
bisher mit geringerem Eskalationspotenzial. Auch an die USA lässt die
Spaltung denken, die nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine
geografische ist.
Doch die BBB ist keinesfalls eine trumpistische Partei. Fraglos ist sie
konservativ mit sozialer Agenda und im ländlichen Milieu verhaftet, doch
weder trifft man auf völkische Ideen noch auf rassistische Rhetorik.
Erschrockene Reaktionen in Deutschland, ob da nun urplötzlich eine Art
niederländische AfD entstanden wäre, sind entsprechend unbegründet.
In Den Haag diskutierte Anfang April das Parlament darüber, wie mit dem
Erdrutschsieg der BBB umzugehen ist, die Opposition sprach der Regierung
das Misstrauen aus. Wie lange sich die angeschlagene Koalition noch im
Sattel hält, steht in den Sternen. In den Provinzen, also etwa Nord-Holland
(Amsterdam), Limburg (Maastricht) oder Brabant (Eindhoven), wird derzeit
darüber verhandelt, wer dort künftig regiert. Unter Ausschluss der
Öffentlichkeit, doch klar ist: Die BBB drängt an die Macht. Die Provinzen
nehmen damit vorweg, was 2025 auch landesweit passieren könnte.
Damit ist die Peripherie zur politischen Arena in den Niederlanden
geworden, zum Ort, an dem sich die nähere Zukunft dieses Landes mit
entscheiden wird. Die Achterhoek zum Beispiel. Mehr Provinz passt nicht in
einen Namen, denn übersetzt bedeutet das so viel wie „hinterste Ecke“.
Genau dort liegt diese Gegend auch, die in etwa der historischen Grafschaft
Zutphen entspricht: zwischen Arnheim und Nordrhein-Westfalen.
## Die Superbauern
An einem frühen Freitagabend fährt dort ein Bus von Vorden, gut 7.000
Einwohner:innen, nach Doetinchem, mit 55.000 Einwohner:innen das
Zentrum der Region. In den Weiden stehen noch die überdimensionierten
Wahlschilder der BBB.
Menschen in blau-weiß gestreifter Kleidung steigen in den Bus: Fans des
Fußball-Clubs BV De Graafschap, bekannt als „der Stolz der Achterhoek“,
oder auch als „Superboeren“, Superbauern. Der Zweitligist ist regional
stark verwurzelt.
In der Kantine der Superbauern sitzen zwei, die immer hier sind: Monique
Stortelder und Frank Stinissen. Beide haben vor drei Wochen die
Bauern-Bürger-Bewegung gewählt. Stortelder ist Ende 40. Sie arbeitet bei
einer Agentur, die landwirtschaftliches Personal bis über die deutsche
Grenze vermittelt, und ist für die Social-Media-Kanäle des Fanclubs
zuständig. Auf ihrem Telefon zeigt sie Fotos eines Auswärtsspiels vor zwei
Jahren. Damals brachten 150 Traktoren das Team bis zur Autobahn.
Stortelder berichtet, wie regionaler Stolz und Fußball hier
zueinanderfinden. Sie erzählt von einem Phänomen, das sich seit der
Pandemie zeigt: Immer mehr Menschen aus dem Westen der Niederlande würden
hier Häuser kaufen, sagt sie. „Für junge Leute von hier wird es darum sehr
schwer, in der Region ein Haus zu finden. Die Städter:innen überbieten
sie einfach.“
Im Westen ist es deshalb seit ein paar Jahren kaum noch möglich, als
Normalverdiener:in ein Haus zu erstehen. Die Wohnungsnot im Land ist
dramatisch, doch der Neubau stockt, weil auch dabei Stickstoff ausgestoßen
wird, dessen Freisetzung das Land reduzieren muss.
## „Wir haben genug!“
Stinissen, Anfang 50 und im Vorstand des Fanclubs, kann man als
Protestwähler beschreiben, dem es um menschliche Werte geht. „Es ging mir
nicht nur um die Bäuer:innen, sondern allgemein um die Frage, wie Menschen
hier behandelt werden. So etwas geht doch nicht!“, empört er sich. „Was hat
die Regierung nicht alles angerichtet, in Groningen oder beim
Kindergeldskandal! Meine Stimme war eher als Statement gedacht: Wir haben
genug!“ Auf seinem rechten Unterarm hat Stinissen die Namen seiner Kinder
tätowiert. Links, auf dem Bizeps, prangt eine große Achterhoek-Fahne mit
dem Club-Slogan im Dialekt: „Zusammen rangehen für immer!“
Um kurz nach sechs Uhr, vor dem Anpfiff, scheint es, als sei die ganze
Achterhoek zusammengekommen, um die Superbauern zu unterstützen. Der
Spitzname des Clubs ist auch der Ehrentitel der gleichnamigen
Fanvereinigung. „Bauern, das ist natürlich eine Zuschreibung von außen, ein
negativer Ausdruck“, sagt Hans Boesberg, der Vorsitzende. „Die Leute aus
der Randstad beschimpfen dich so. Sie fühlen sich überlegen. Der Bauer, das
ist doch ein dummer Typ, der nach Scheiße stinkt. ‚Superbauern‘ ist eine
Reaktion darauf: ‚Kommt doch her, wenn ihr euch traut!‘“
Gerade im Fußball zeigt sich die Arroganz, die dem Blick in die östliche
Landeshälfte oft innewohnt. Als Boeren werden Teams von dort ständig
bedacht. Für nicht wenige Amsterdamer beginnt das Bauernland sogar gleich
hinter der Stadtgrenze.
Hans Boesberg schlägt eine Zeitung auf, der Vereinsvorsitzende weist auf
zwei Artikel hin. Der erste erklärt, dass in der Hauptstadtregion auf die
gleiche Einwohnerzahl fünfmal mehr Polizeibeamte kommen als hier, im Osten
der Provinz Gelderland. Der zweite fürchtet um die beliebten Osterfeuer,
die wegen ihres Stickstoffausstoßes in der Diskussion sind. Er beginnt mit
einer Frage: „Drehen kleinliche Den Haager Regeln der geschätzten Tradition
im Osten und Norden des Landes den Hals um?“
Boesberg sagt: „Die Leute identifizieren sich nicht mit den Bäuer:innen,
weil sie sie so sympathisch finden, sondern weil sie sich wehren.“
Auf dem Fußballfeld ringt De Graafschap an diesem Abend Almelo, einen
Kleinstadtclub, nieder. Das Vijverberg-Stadion bebt. Wie es hier der Brauch
ist, läuft nach dem Match jemand, eine riesige Achterhoek-Fahne schwenkend,
über den Platz. Die Superbauern strömen in die Nahverkehrszüge, fahren
zurück in die Dörfer. Für den Moment sind sie stolz auf ihre Heimatregion.
4 Jun 2023
## LINKS
[1] /Provinzwahlen-in-den-Niederlanden/!5922426
[2] /Kindergeldaffaere-in-den-Niederlanden/!5741538
## AUTOREN
Tobias Müller
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