# taz.de -- Klimaprotest von Letzte Generation: Tanz um die goldene Radkappe | |
> 43 Millionen Privat-PKW sind in Deutschland zugelassen, der | |
> Individualverkehr hat Fetischcharakter angenommen. Das Auto ist der | |
> Elefant im Raum der Klimawende. | |
Bild: Aktivisten auf der A 100 in Berlin | |
Der als eher konservativ geltende Soziologe Niklas Luhmann hatte ein Faible | |
für den Protest und Protestierende, ohne dabei den aufrührerischen | |
Theorieschulen sozialer Bewegungen wie Anarchismus oder Marxismus | |
anzugehören. Der Studentenbewegung um 1968 bescheinigte der | |
Systemtheoretiker, sie nehme zu Recht Anstoß am Status quo, an dem der | |
CDU-Staat damals krampfhaft festgehalten hatte, denn es bedürfe einer | |
außerparlamentarischen Opposition, wenn die staatstragende Opposition wie | |
das Establishment unfähig seien, „Alternativen zur Entscheidung zu | |
bringen“. | |
Dem Protest, auch dem wilden, radikalen, systemoppositionellen, wies er | |
die Rolle zu, die Gesellschaft ins Lot der Selbststeuerung und | |
Systemerneuerung zurückzuversetzen. Dieser Stabilisierungsauftrag gefiel | |
68ern natürlich weniger; es war aber eine durchaus treffende Diagnose ihrer | |
tatsächlichen Leistung, nämlich der Gesellschaft der Bundesrepublik jene | |
„Fundamentalliberalisierung“ zu verschaffen, die ihnen [1][Luhmanns | |
Gegenspieler Jürgen Habermas] rückblickend bescheinigte. | |
Neue soziale Bewegungen vermögen damit, was den Teilsystemen der | |
Gesellschaft abgeht: „[2][Sie beschreiben die Gesellschaft, als ob es von | |
außen sei].“ Und in dieser Totale entdecken sie auch, was alten sozialen | |
Bewegungen verborgen geblieben war: „Gesellschaft nicht mehr bloß vom | |
Kapitalismus her zu sehen, sondern in Bezug auf die Tatsache, daß manche | |
etwas für ein lebbares Risiko halten, was für andere eine Gefahr ist“. | |
Früher als andere interessierten Luhmann ökologische Risiken, die den neuen | |
Typ „grün-alternativer“ Proteste hervorriefen: „in der Ablehnung von | |
Situationen, in denen man das Opfer des riskanten Verhaltens anderer | |
werden könnte.“ Besser sind die Sorgen von Fridays for Future, Extinction | |
Rebellion und Letzter Generation kaum zu beschreiben. Luhmann antizipierte | |
allerdings auch deren Schwächen: „Das Geheimnis der Alternativen ist, dass | |
sie gar keine Alternative anzubieten haben“ – weil sich ja stets die | |
anderen bewegen, ändern, korrigieren müssten. | |
## Hysterischer Reflex | |
Das macht Protest wenig anschlussfähig, zumal wenn er im Kern Angst | |
thematisiert und moralisierend auftritt, wie seinerzeit die | |
Atomkraftgegner. Es ist zu früh, zu entscheiden, ob die Klimaschützer in | |
die Ahnenreihe der neuen sozialen Bewegungen von der Studentenrevolte und | |
die Frauenemanzipation über die Anti-AKW-Bewegung und den Antirassismus | |
gehören oder ihr Protest eine neue Qualität annehmen wird. | |
Ein wesentlicher Unterschied besteht schon darin, dass sie anders als die | |
Vorläufer etwas fordern, was auch die Mehrheit wünscht (wenn auch nicht | |
praktiziert): Gefährlicher Klimawandel und Artensterben beunruhigt auch den | |
Mainstream, und einschneidende Änderungen von Lebensstilen und Gewohnheiten | |
propagiert keineswegs nur eine zukunftsängstliche, apokalyptisch getönte | |
„Letzte Generation“. | |
Erst die in Protestnischen stets angelegte Selbstradikalisierung und der | |
hysterische Reflex gegen den vermeintlichen Ökoterror polarisiert, aber | |
nicht das von „Klimaklebern“ geforderte 9-Euro-Ticket oder eine | |
Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen. Die Blockadeaktionen der | |
Letzten Generation, in deren Windschatten die konzilianteren und | |
konsensorientierten Fridays for Future geraten sind, stoßen auf breite | |
Ablehnung. | |
## Protest am Genfer Flughafen | |
Man kann eine Gesellschaft nicht frontal attackieren, die anders als 1968 | |
und in den 1980er Jahren mit den Protestzielen im Prinzip übereinstimmt. | |
Die „Klimakleber“ überdehnen die legitimen Mittel zivilen Ungehorsams wie | |
Blockaden und Boykotts. Andere Teile der Klimaschutzbewegung kalibrieren | |
das wesentlich besser. Ein jüngstes Beispiel sind die 100 Aktivisten, die | |
sich an die Zugänge von Privatjets ketteten, die bei einem Business-Event | |
am Genfer Flughafen ausgestellt waren, und den Haupteingang der Jet-Show | |
versperrten, um die Kundschaft am Betreten zu hindern. | |
Jets gelten zu Recht als äußerst schädliche Produkte, „die unseren Planeten | |
zerstören, unsere Zukunft verheizen und Ungleichheit befeuern“. Die [3][NGO | |
„Stay Grounded“] erweiterte den Kreis der Zielpersonen: „Während viele s… | |
Essen und Miete nicht mehr leisten können, zerstören die Superreichen | |
unseren Planeten, damit muss endlich Schluss sein.“ | |
Anders als bei den [4][Straßenblockaden in Berlin], die auch Umweltbewusste | |
allmählich zur Verzweiflung bringen, wird mit den Superreichen ein Gegner | |
markiert, auf den sich egalitäre Gesellschaften rasch einigen können. Die | |
Genfer Flugschau ist Treffpunkt einer Elite, die mit der arroganten | |
Verachtung der 80 Prozent der Weltbevölkerung assoziiert wird, die niemals | |
in ihrem Leben geflogen sind. Weniger populär ist der Protest gegen die | |
verschleppte Verkehrswende und Massenverkehrsmittel, namentlich in | |
Deutschland, wo [5][43 Millionen Privat-Pkws] zugelassen sind und der | |
ungebremste Individualverkehr Fetischcharakter angenommen hat. | |
Zur nächsten Automesse, der [6][IAA Mobility] in München, treffen sich | |
Anfang September wieder sechs Tage lang Autoliebhaber zum Tanz um die | |
goldene Radkappe, bei dem Greenwashing betrieben wird und die absurde | |
Fixierung auf PS-starke, tonnenschwere und überteuerte Verbrenner bestehen | |
bleibt. Das Auto ist der Elefant im Raum der Klimawende. Und der Testfall: | |
Würde bei einer Absage (oder Blockade) der IAA nur die Automobilbranche im | |
Fokus stehen, die Fahrzeuge herstellt, deren Betrieb 20 Prozent der | |
Treibhausgasemissionen in Deutschland verursacht? | |
Gepaart mit realpolitischen Forderungen nach preisgünstigem oder | |
kostenlosem ÖPNV, einer Geschwindigkeitsbegrenzung und autofreien | |
Innenstädten, würden genauer auf politische und wirtschaftliche Entscheider | |
zielende Aktionen dem Klimaschutz sicher mehr Sympathie einbringen als | |
wildwüchsige Straßenblockaden. Und der Protest wäre radikaler und | |
anschlussfähiger zugleich. | |
26 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Die-Wahrheit/!5047116 | |
[2] https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/die-gesellschaft-der-gesells… | |
[3] https://de.stay-grounded.org/ | |
[4] /Protest-der-Letzten-Generation-in-Berlin/!5926390 | |
[5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/483781/umfrage/pkw-bestand-i… | |
[6] https://www.iaa-mobility.com/de | |
## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
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