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# taz.de -- „Tatort“ und die Wahl in Bremen: Bremer Ermittlung
> Wie macht sich Bremen im Fernsehen, und was lernt man von der Stadt im
> Krimi kennen? Eine „Tatort“-Begehung vor der Bremer Bürgerschaftswahl.
Bild: Gesichter für Bremen: Oliver Mommsen und Sabine Postel als Ermittler im …
Warum nicht der „Tatort“? Warum sollte man nicht dieses so lange
Gemeinschaft stiftende Sonntagabendritual heranziehen, um Bremen zu
verstehen? Das kleinste unter den Bundesländern, diesen stolzen
Hanseat*innenstadtstaat, in dem demnächst gewählt wird. Das leuchtet
doch mindestens so sehr ein wie, sagen wir, die Geschicke örtlicher
Fußballvereine zu berücksichtigen, das internationale Containeraufkommen
oder den Zustand der Röstkaffeebranche. Wie also sieht die Stadt, das
Bundesland aus, betrachtet eine*r es durch die Linse dieses TV-Format
gewordenen Gradmessers fürs Normale?
Vier Ermittler*innen beziehungsweise -teams haben seit 1973 in
Bildschirm-Bremen das fiktive Verbrechen bekämpft. Oder fünf. Oder auch nur
drei, je nach Zählweise. Dazu aber später mehr. Jedenfalls überstrahlt alle
anderen dabei die Paarung Lürsen/Stedefreund, schon wegen deren
Langlebigkeit: Von 2001 bis 2019 waren die beiden zusammen im
Bildschirmeinsatz. Erzählt das etwas über Bremen? Oder wenigstens über
seinen öffentlich-rechtlichen Sender?
Aber zurück zum Anfang: 1973 wurde die Freie Hansestadt zum ersten Mal
Schauplatz des (west)deutschen Fernsehlagerfeuers, das war im dritten Jahr
der langlebigen Krimireihe. Da hatten andere Sender – und Schauplätze –
schon mehrere Folgen hinter sich, selbst Kiel war zweimal Schauplatz
geworden. „Ein ganz gewöhnlicher Mord“ erreichte bei seiner ersten
Ausstrahlung deutlich über 50 Prozent der an jenem Abend Fernsehenden – es
waren andere Zeiten.
## Mit dem Einstieg groß vorgelegt
Der Film legte aber durchaus groß vor, mit Günter Strack, Peter Schiff und
Hans Brenner in tragenden Rollen, aber auch etliche Nebenfiguren machten
dann noch jahrzehntelang das die deutschen Bildschirme bevölkernde
Personal aus. Regie führte Dieter Wedel, damals noch nicht der „Meister der
TV-Mehrteiler“, ein Titel, den ihm seine Arbeit in den 1990er Jahren
verschaffte; aber halt auch noch nicht [1][Deutschlands prominentester
#MeToo-Verdachtsfall].
Avantgarde sei der produzierende Sender Radio Bremen damals gewesen, sagt
ein filmbeflissener – allerdings auch Bremer – taz-Kollege. In der Tat: Der
kleine ARD-Sender brachte nicht viel später auch Loriot zur vollen Blüte.
Und bereits vorher [2][hatte Radio Bremen] von 1965 bis 1972 den
„Beat-Club“ produziert, also ein für deutsche Verhältnisse nicht
selbstverständliches Interesse an Popkultur bewiesen.
So ist auch „Ein ganz gewöhnlicher Mord“ gerade kein ganz gewöhnlicher
Fernsehkrimi mit seiner verschachtelten Struktur und dem Spiel mit
Erzählperspektiven.
Aber vor allem legt diese eindeutig fiktionale Geschichte um einen
erdrosselten und beraubten Vertreter für Damenoberbekleidung es darauf an,
für abgebildete Realität gehalten zu werden. Immer wieder unterbrechen da
Rückblenden den eigentlichen Plot, Beteiligte sind erklärend im Off zu
hören oder sprechen direkt in die Kamera, ihre Namen und Funktionen werden
eingeblendet, auch mal Ortsangaben – ein wenig „Stromberg“, nur halt
weniger komisch.
Von größerem dokumentarischem Wert mögen andere Facetten gewesen sein: Als
die Leiche gefunden ist, bricht im Polizeirevier Betriebsamkeit aus – von
den offenbar knappen Einsatzfahrzeugen ist kein Dienstwagen frei. Ein Taxi
nehmen hieße sich schrecklich viel Papierkram aufhalsen, und außerdem
bekommt man gerade eh kein „Amt“, keine Leitung, um irgendwo anzurufen.
Dafür verstehen sich Polizei und Staatsanwaltschaft „hier sehr gut
miteinander“, sagt Kommissar Böck (Hans Häckermann). Und auch mit der
Lokalpresse besteht ein gut geöltes Geben und Nehmen: Die „Bremer Zeitung“
– gedreht hat Wedel einige Einstellungen in den Räumen des heutigen
Platzhirschen Weser Kurier – druckt, wenn es der Polizei hilft, deren Fotos
ab, „dafür müssen wir es ja auch ertragen, dass jeden Tag Lauscher im Haus
sind“, so Böck.
Dieser Ermittler blieb eine „Tatort“-Eintagsfliege, Darsteller Hans
Häckermann immerhin durfte ein paar Jahre später noch einen Fall aufklären
– allerdings in Lübeck und unter dem irritierenden Rollennamen Beck. So
blieb der erste Bremer „Tatort“ für eine ganze Weile schon wieder der
letzte. Betrachtet man es durch die Brille der ARD-Sender-Logik, war die
Pause sogar noch länger. Denn 1980 und 1984 ermittelte mit Jochen Piper
(Bernd Seebacher) zwar wieder ein Bremer Kriminalist am Sonntagabend,
produziert allerdings wurden beide Filme vom NDR, ebenso der manchmal als
Bremerhaven-„Tatort“ bezeichnete „Wat Recht is, mutt Recht bliewen“ von
1982. Darin reist der Kommissar aus Bremens Seehafen an, die Handlung
selbst trägt sich aber in einem fiktiven Örtchen an der Elbmündung zu.
Richtig weiter – oder eigentlich wieder los – ging es erst 1997, da war
Henning Scherf zum ersten Mal Bremer Bürgermeister, seit 1995 und nach
schon fast zwei Jahrzehnten als Senator. Bis 2005 stand der
sozialdemokratische Zweimetermann an der Spitze des politischen Bremen, die
nun eingeläutete „Tatort“-Ära sollte erheblich länger dauern: Ihren
Einstand gab Inga Lürsen (Sabine Postel) mit einem, ehrlich gesagt,
ziemlich trashigen Fall zwischen teils ziemlich hölzernen
Nebendarsteller*innen. In die Herzen des lokalpatriotischen
Fernsehpublikums hatte Postel sich durch die Radio-Bremen-Familienserie
„Nicht von schlechten Eltern“ gespielt, mindestens so bekannt wie sie
dürfte allerdings der Darsteller von Lürsens Assistent gewesen sein: Rufus
Beck. Dem ersten von Lürsens Assistenten, um genau zu sein.
„Drei Mal ist Bremer Recht“, das ist so eine sprachliche Bremensie, unter
deren Erklärungen sich juristische finden – ein Rechtsweg mit drei
Instanzen, drei Zeugen für die Beweiskraft, dreimalige Proklamation zur
Erlangung der Rechtsgültigkeit, so was in etwa. Aber auch eher diffus
Bremer Liberalität bemühende: Demnach steht es Bremer*innen zu, eine
Sache nach zwei Fehlschlägen stets noch ein drittes Mal versuchen zu
dürfen. Was mit – zugegeben ein wenig gutem Willen – auf
„Tatort“-Kommissarin Lürsen und ihre Personallage passt: Auf zweimal Stefan
Stoll (Rufus Beck) folgte als Assistent einmal Henning Kraus (Heikko
Deutschmann) sowie zweimal Tobias von Sachsen (Heinrich Schmieder). Erst ab
2001 hatte sie Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) an ihrer Seite, das dann
aber 18 Jahre und 33 Fälle lang.
## Kaum ein Blick für die Markenzeichen
Dass Präsidium und Pier manchmal ein einziger Schnitt trennt, dass aber
schon so manches Mal auch innerhalb Bremens die Geografie der wirklichen
nicht mal entfernt entspricht: geschenkt. Da geht es Bremer
Zuschauer*innen nicht anders als denen in Münster oder München, und ein
Problem ist das ja immer nur für die relativ wenigen Ortskundigen vor den
Geräten. Durchaus unterschiedlich ist aber, wie der Bremer „Tatort“ das
einsetzt, worauf vielleicht die erwähnten Einwohner*innen stolz sind,
sicher aber die Marketing- und Touristikverantwortlichen: Die allzu
naheliegenden Markenzeichen und Hotspots kommen eher selten vor, das ist
etwa in Münster anders. Wer will, mag daran Bremer Bescheidenheit ablesen.
Aber vielleicht auch das Gegenteil, eine Art Sauber-halten-Wollen von Dom
und Stadtmusikanten von niederer Unterhaltung? Immerhin: Wer heutzutage
Bremen besucht, kann gleich aus mehreren Stadtrundgängen mit sanftem
Gruselfaktor auswählen, da ist von realem Deutschen Herbst bis
[3][historischer Giftmörderin] alles drin, auch ein Schlenker zu,
wenigstens, einzelnen „Tatort“-Locations.
Die haben sich, [4][glaubt man dem Weser-Kurier], nur relativ selten
wiederholt – und doch bekommt, wer den „Tatort“ verfolgt, sicher nicht al…
Bremer Ecken und Quartiere gleichermaßen vor Augen – ein paar pittoreske
Straßen und die eine, ganz nach hippem Berlin aussehende Kreuzung (die
Sielwallkreuzung) umso öfter, und, wenn’s etwas sozial sensibler sein
sollte, auch noch ein, zwei 70er-Jahre-Großwohnsünden. Ein sehr
spezifisches Highlight vielleicht: In „Requiem“ (2005) wird die
Investitionsruine „Space Park“ – auch eine Hinterlassenschaft des
Bürgermeisters Scherff – zur Wirkstätte eines B-Movie-tauglichen
skrupellosen Wissenschaftlers.
Lürsens Sidekick Stedefreund, einst Nachwuchshoffnung bei Werder Bremen,
hatte es nach Bremerhaven verschlagen, karrieremäßig eine Sackgasse,
weshalb er dringend wegwollte, zurück nach Bremen; das wog schwererer als
die erkennbaren teaminternen Startschwierigkeiten. Die kleinere Stadt im
Bundesland, der vom Strukturwandel arg gebeutelte Hafen, norddeutsche
Mittelstadttristesse, gekreuzt mit Ruhrgebietsambiente: Bremerhaven also
kam im Bremen-„Tatort“ lange einzig als Kaimauer mit Kränen vor. Hier
bestieg man mal ein Boot oder erfragte einen Containerinhalt. Dass hier
auch Häuser standen mit Menschen drin, die kriminell werden können, und das
vielleicht sogar mit etwas höherer Wahrscheinlichkeit: Am Krimisonntagabend
wurde das nur sehr selten abgebildet über die Jahrzehnte. Der vorerst
letzte Bremer „Tatort“, Anfang April auf Sendung, spielt allerdings in
Bremerhaven in der dortigen Autoposerszene.
## Ein Brokdorf-gestähltes Leben
Lürsens Lebenslauf indes dürfte in vielen Ohren noch spezifischer bremisch
klingen: friedensbewegt und Brokdorf-gestählt – dass so jemand zu Kripo
geht?! Wer nur einen Bremer „Tatort“ ansehen könnte, dem wäre „Schatten…
empfehlen aus dem Jahr 2002: Da holt ein Quartett alter Freund*innen eine
Jahrzehnte zurückliegende Bluttat ein. Aber mindestens so sehr geht es um
linke Biografien und darum, welchen Preis eine*r zu zahlen bereit ist
fürs Ankommen im einst verhassten Establishment: Nicht alle der
Genoss*innen sind Staranwalt geworden oder Kriminalhauptkommissarin
oder gar Staatssekretär in Berlin. Einer nahm einst Schuld auf sich und
opferte die Karriere und muss heute – diskret – unterstützt werden von
seinem New-Economy-Unternehmer-Sohn.
So eine Konstellation, so eine (west)deutsche Geschichte wäre auch an
anderen „Tatort“-Standorten vorstellbar, Frankfurt am Main etwa oder
Berlin. Aber sie anzusiedeln im linksliberalen Justemilieu an der Weser, in
einer Stadt der kurzen Wege und schnell eingeschlagenen Hände, wo auch
manch blutige, nämlich kolonial verdiente Mark etwa in die erst 1971
eröffnete und lange als rot verschriene Universität floss: Das war
besonders stimmig – zumal für den, der die Stadt eben kaum anders kennt,
als aus dem „Tatort“.
11 May 2023
## LINKS
[1] /Vorwurf-der-Vergewaltigung/!5756134
[2] /Radio-Bremen-will-wieder-cool-werden/!5499319
[3] /Spuckstein-in-Bremen/!5923189
[4] https://www.weser-kurier.de/bremen/wissenswertes-ueber-den-tatort-aus-breme…
## AUTOREN
Alexander Diehl
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