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# taz.de -- Houellebecqs „Vernichten“ als Theater: Dunkel dräuendes Traums…
> Sebastian Hartmann zeigt in Dresden Michel Houellebecqs „Vernichten“ als
> surrealistischen Alptraumparcours. Ent- und Begrenzung gehen Hand in
> Hand.
Bild: Bei der Totenwaschung des aufgebahrten Paul zitiert Sebastian Hartmann de…
Es ist von Anfang an ein Traum. Langsam wanken Gestalten in Ledermänteln
über die Bühne, auf der ein kolossaler viereckiger Turm seine Runden dreht.
Im Hintergrund gibt es ausgeschnittene schwarze Baumsilhouetten wie aus
einem Schattenspiel, während über alldem eine wabernde Stimme, live
begleitet am Klavier, Edgar Allan Poes Zeilen singt: „All that we see or
seem is but a dream within a dream.“
Willkommen im neuen Stück von [1][Sebastian Hartmann] am Staatsschauspiel
Dresden, der diesen Surrealismus wie eine Brechstange ansetzt, um
[2][Michel Houellebecqs Roman „Vernichten“ von 2022] auf der Bühne zu
atomisieren.
Lediglich Molekülketten der uferlosen Familiengeschichte, die Houellebecq
auf 620 Seiten ausbreitet, finden sich hier: die Krebserkrankung,
Monologteile zu Pflege und Klassismus sowie Selbstbetrachtungen des
Erzählers. Dafür erfasst die Inszenierung genau die dräuende Atmosphäre und
suhlt sich genüsslich in ihr.
Die Krebsdiagnose, die Houellebecq erst nach gut zwei Dritteln
entblättert, steht hier ganz am Anfang. Da sprechen die nahezu unsichtbaren
Schauspieler zu elektronisch droppenden Soundbits (Musik: Friederike
Bernhardt) mit verzerrten Stimmen die medizinisch eskalierenden Texte von
Arzt und Patient, in denen in Tumor- und Amputationsfantasien geschwelgt
wird.
Dunkel wabern Sprachfetzen und Figuren durch den Raum, überlagert von
Livevideos, die sich verdoppeln und verdreifachen, mal auf großem
Gazevorhang vorne, mal auf dem kreisenden Turm oder auch nur im
Hintergrund. Ein Albtraumritt, aber nicht voll effektvoll-gruseliger
Schrecken – die gibt es auch, wenn etwa Moritz Lippisch in einem
fulminanten Skorpion-Gestell (Kostüme: Adriana Braga Peretzki) über die
Bühne klappert –, sondern es ist ein Grauen der Hoffnungslosigkeit, die
durch alle Ritzen kriecht.
## Performative Installation
Zugleich ist das Bühnenspiel enorm. Hartmann baut eine performative
Installation, die sich eher an der bildenden denn der darstellenden Kunst
orientiert. Die Schauspieler*innen werden reduziert zu
Handlungselementen in diesem runden Zusammenwirken von Bühnentechnik, Licht
(Lothar Baumgarte) und Video (Jan Speckenbach) und eben dem Schauspiel.
Eine ästhetische Hermetik, die an Hartmanns sechsstündiges „Das Buch der
Unruhe“, ebenfalls am Staatsschauspiel Dresden, erinnert, das während der
Pandemie eines der spannendsten Livestream-Experimente gewesen ist. Die
dort erfundene Traumästhetik findet sich auf der Bühne wieder, etwa in den
raschen Bedeutungswechseln, wenn die Livekamera verschiedene Räume bruchlos
durchquert.
Da haben auch opulente Bilder wie die Trauerrede von Linda Pöppel mit
gleichzeitiger, an Peter Greenaways Film „Der Koch, der Dieb, seine Frau
und ihr Liebhaber“ erinnernde Totenwaschung des zwischen Trauben und
Granatäpfeln aufgebahrten nackten Paul (Torsten Ranft) ihren Platz, während
gleich danach Maschinengewehramokläufer das Bild bestimmen. Pöppel ist es
auch, die gegen Ende des zweiten Teils zur Brandrede gegen die Gesellschaft
und ihre Ignoranz ausholen darf.
## Schwebender Zustand
Ist das noch Houellebecq? Irgendwie schon, denn herausgefiltert und
kondensiert ergibt sich ein Amalgam der verstreuten
gesellschaftspolitischen Anwürfe des Romans in einer Anklage, die es in
sich hat. Ein Moment, in dem das Stück aus dem Meer des künstlerischen
Schwelgens kurz an die Oberfläche steigt, um angestaute Realität
auszuatmen.
Der dritte Teil beginnt als reines Schwelgen, wenn die 3-D-Animationen von
Tilo Baumgärtel, der schon lange mit Hartmann zusammenarbeitet, über den
Gazevorhang rauschen und das Publikum in einen schwebenden Zustand
versetzen. Dass dazu das Publikum rot-grüne Brillen aufsetzen muss, um im
Theater dreidimensionale Darstellungen zu erleben, ist dabei ein
technologischer Treppenwitz.
In dieser Inszenierung schmelzen solche Technologiefragen der Abgrenzung
zugunsten des grenzenlosen Gesamtausdrucks zu nichts zusammen. Am Ende dann
das gemeinsame Aufwachen mit Klavier und Nadja Stübiger. Die Gegenwart
erscheint nicht mehr ganz so trostlos wie der taumelnde Traum, der immerhin
drei Stunden (plus Pausen) dauert.
So endet ein gewaltiger Abend, der staunen lässt und den Raum des Theaters
weitet, weil er gleichzeitig so viel mehr und so viel weniger ist, als man
vom ihm erwartet. Es ist, als hätte jemand das bildmächtige Theater des
(frühen) Robert Wilson dekonstruiert und mit Verve runderneuert. Dieses
Theater ist gleichermaßen gebändigt, denn für die sonst bei Hartmann
typischen Improvisationsräume ist hier kein Platz, und entgrenzt, weil es
konsequent alle Mauern zwischen den Genres einreißt und darüber hinweggeht.
Ein wahres Träumchen.
2 May 2023
## LINKS
[1] /Schnitzlers-Traumnovelle-in-Frankfurt/!5916057
[2] /Neuer-Roman-von-Michel-Houellebecq/!5825742
## AUTOREN
Torben Ibs
## TAGS
Theater
Staatsschauspiel Dresden
Michel Houellebecq
Roman
Installation
Krebs
Schwerpunkt AfD
Theater
Literatur
Michel Houellebecq
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