| # taz.de -- Essayband von Michel Houellebecq: Die Welt kann nichts für dich tun | |
| > Michel Houellebecq, einer der größten Provokateure der Gegenwart, hat | |
| > einen neuen Essayband veröffentlicht. Was erfahren wir darin über ihn? | |
| Bild: Erträgt die Vorstellung nicht, dass die Gesellschaft sein Glück wollen … | |
| Das eigentlich Ärgerliche an [1][Michel Houellebecq] ist, dass er einen | |
| dazu bringt, sich mit ihm zu beschäftigen. Die Frage an dieser Stelle wird | |
| nun nicht lauten, ob man Rechte interessant finden darf, denn als solcher | |
| gilt er vielen, sondern ob er überhaupt ein Rechter ist. Doch warum ist man | |
| immer sofort bei dieser Frage, wenn es um ihn geht? | |
| Weil er es so will. Gerade hat er seinen dritten [2][„Interventions“]-Band | |
| mit verstreut erschienenen Essays und Gesprächen aus den Jahren 2014 bis | |
| 2020 vorgelegt. Kurz vor Erscheinen des Buches verkündete er, er werde | |
| seine Gedanken künftig nicht mehr der Öffentlichkeit mitteilen. Das wäre | |
| nicht sein erster Rückzug, der Mythos des Letztgesagten ist hier also | |
| wahrscheinlich fehl am Platz. | |
| Auf Deutsch heißt das Buch nicht „Interventions“, sondern [3][„Ein bissc… | |
| schlechter“], dem Verlag ging es in der Ankündigung auch eher um das | |
| Versprechen, die Leser:innen könnten hier der Person Houellebecq begegnen. | |
| ## Flirt mit dem Reaktionären | |
| Houellebecqs mysogyne, rassistische, islamhassende, sexistische Figuren | |
| sind nicht identisch mit ihm. Michel aus seinem Roman „Elementarteilchen“ | |
| (1998) etwa ist nicht unbedingt Michel Houellebecq. Doch mit seinen Flirts | |
| mit dem Reaktionären und seiner Lust an Widersprüchen aller Art zwingt er | |
| uns in einen Interpretationsraum, der um ihn herum gebaut ist, was etwas | |
| ermüdend und recht vorpostmodern ist. | |
| Oder steckt da mehr dahinter, und er sucht das Spiel mit jener etwas | |
| verlustig gegangenen Kompetenz der Trennung zwischen Autor:in und Werk, die | |
| auch damit zu hat, dass gegenwärtig die permanente Aufforderung, | |
| [4][authentisch zu sein], zum moralischen Maßstab gerinnt und Fiktion, | |
| Reales oder Autoren-Ich immer weniger voneinander unterschieden werden? | |
| Dokumentiert Houellebecq mit den Rassismen und Sexismen seiner Figuren bloß | |
| eine reale Gemengelage oder heizt er sie an, weil er der | |
| kulturpessimistische Apologet des Untergangs ist, als der er sich öfter | |
| gezeigt hat, oder, dritte Möglichkeit, ist er eben doch nur der | |
| Provokateur, der sich banale Gesetzmäßigkeiten des Literaturbetriebs schlau | |
| zunutze macht? | |
| Houellebecq wäre nicht Houellebecq, würde er sich nicht stets | |
| widersprechen. Der Katholizismus beispielsweise: In einem langen Gespräch | |
| in dem Buch mit dem ultrakonservativen Journalisten [5][Geoffroy Lejeune] – | |
| Autor eines Skandalromans, in dem der rechte Journalist Éric Zemmour | |
| Präsident Frankreichs wird – ist die Frage „Was die katholische Kirche tun | |
| sollte, um ihren alten Glanz zurückzugewinnen und unsere beschädigte | |
| Zivilisation wieder instand zu setzen“ keineswegs ironisch gemeint. | |
| ## Welt ohne Gott | |
| Während Lejeune fordert, sich der Schwulenlobby, Freimaurer und | |
| Dekonstrukteure der traditionellen Kirchendoktrin, die angeblich im Vatikan | |
| abhängen, zu entledigen, und beklagt, dass gewisse Regierungen bezüglich | |
| ihrer Migrationspolitik von der Kirche moralisch in Misskredit gebracht | |
| würden, fällt Houellebecq als Lösung ein, sich der Orthodoxie wieder | |
| anzunähern. | |
| Er pflegt eine „Abscheu gegen die Monotheismen“, fühlt sich jedoch in | |
| romanischen Klöstern mit dem Göttlichen verbunden. Katholisch sei er | |
| schließlich nur in dem Sinne, dass er dem Schrecken der Welt ohne Gott | |
| Ausdruck verleihe. Als wahrer Kenner der Schriften erweist er sich und | |
| kommt aus dem Schwärmen für Paulus gar nicht mehr heraus: „Letztlich hatte | |
| Paulus vielleicht den stärksten literarischen Einfluss auf mich: Bei ihm | |
| habe ich jene Seite entdeckt, die man mitunter als Punk bezeichnen könnte.“ | |
| Badiou, Zizek, Agamben – viele Philosophen haben sich wieder mit Paulus | |
| beschäftigt, ohne Katholiken zu sein, sei es um antiimperialen Gesten neuen | |
| Glanz zu verleihen (Paulus gegen Rom), mit ihm gegen den Neoliberalismus zu | |
| argumentieren, einen neuen Universalismus zu begründen oder radikale | |
| Subjektitvität zu mystifizieren. Die radikale Subjektivität ist es, die | |
| auch Houellebecq ins Schwärmen bringt, das legt nicht nur sein | |
| Punkvergleich nahe, sondern auch die offene Liebe zu Paulus’Leidenschaft, | |
| seinem Übermut. | |
| ## Die ganze Gesellschaft ein Trümmerfeld | |
| Doch ob Kirche oder Zivilisation: Für Houellebecq geht es mit dem Beginn | |
| der Moderne immer und überall bergab – von da an ist alles Auflösung, | |
| Zerfall und die Gesellschaft ein Trümmerfeld. Zwischen der Angst vor einer | |
| Überforderung des Individuums und der Klage über den Untergang des | |
| Abendlands liegt oft nur ein klitzekleines weiteres Ressentiment, wenn man | |
| wie Houellebecq der Sicht anhängt, dass die „Vorstellung eines permanenten | |
| Wandels das Leben unmöglich“ macht. | |
| „Ich bin kein Nihilist, im Gegenteil, ich bin ein Konservativer“, sagt | |
| Houellebecq seinem Freund Frédéric Beigbeder und ein paar Seiten weiter in | |
| einem anderen Gespräch: „Ich weiß nicht, ob ich konservativ bin.“ Kein | |
| Einspruch, wenn eine andere Interviewpartnerin feststellt: „Sie sind also | |
| Monarchist und Katholik!“ | |
| Das ist verwirrend, aber auch ein bisschen egal. Denn letztlich ist er wohl | |
| nur ein großer Moralist, was nicht allein seine Begeisterung für den | |
| französischen Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal verrät. Bereits | |
| Friedrich Nietzsche schrieb über die Linie, die von Pascal zu dem | |
| pessimistischen Philosophen Arthur Schopenhauer führt. Und so ist es nur | |
| stimmig, dass Houellebecq auch Schopenhauer zu seinen wichtigsten | |
| Einflüsterern zählt und Nietzsches Anfechtung der Moral zutiefst ablehnt. | |
| ## Geschwätzigkeit und Humor | |
| Im Laufe der Lektüre wünscht man sich, Houellebecq bliebe bei den | |
| abstrakteren Problemen des Katholizismus oder der Interpretation eines | |
| Comte und Chateaubriand. Denn die diesbezüglich oft sehr klugen, | |
| überraschenden, witzigen oder auch hübsch ärgerlichen Gedanken weichen der | |
| Geschwätzigkeit und Einfältigkeit, wenn es um eine Einschätzung der | |
| politischen Gegenwart geht. | |
| Die EU würde er am liebsten sofort auflösen. Frankreich solle aus der Nato | |
| austreten. Trump sei der beste Präsident, den die USA je hatte, weil er die | |
| Anliegen der Arbeiter vertrete, das Gespräch mit Putin suche und die Welt | |
| nicht mit Kriegen überziehe. Das alles ist von so ausufernder Schlichtheit | |
| und Dämlichkeit, dass es sich um Sarkasmus handeln muss. Damit wäre es kein | |
| Zufall, dass gerade hier die Koordinaten zwischen links und rechts | |
| ordentlich durcheinandergeraten. Aber vielleicht ist das kein Sarkasmus, | |
| sondern einfach reaktionäre Blödheit. | |
| Zu Corona fällt ihm ein, dass noch nie so diskret gestorben wurde wie heute | |
| und die Epidemie als eine Art Verstärker für die schlechteren Tendenzen | |
| wirken wird: Alles wird eben „ein bisschen schlechter“. Die Epidemie | |
| liefere der beklemmenden Tendenz, zwischenmenschliche Beziehungen scheinbar | |
| überflüssig werden zu lassen, eine wunderbare Daseinsberechtigung. | |
| Von dieser Pandemiezeit inspirierte interessante Bücher werde es nicht | |
| geben, meint er, und denkt man an die blasierte Seuchenprosa, die bisher | |
| ihren Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat, möchte man dem zustimmen. Und | |
| dann ist da immer wieder, ganz überraschend, sein Humor, den man einfach | |
| mögen muss: „Fahrgemeinschaften, Wohngemeinschaften, wir haben die Utopien, | |
| die wir verdienen.“ | |
| ## Der kommende Bürgerkrieg | |
| Die skurrile Aura des Houellebecq hat etwas zärtlich Antiquiertes. Das | |
| macht ihn auch für Linke so erträglich, denn letztlich ist ihm die für | |
| immer untergegangene Welt näher als die heraufziehende. Er ist kein Neuer | |
| Rechter, eher ein schrulliger Monarchist, dem die bürgerliche Idee des | |
| freien Individuums nicht deshalb fremd ist, weil er die Macht von | |
| Strukturen obsiegen sähe, sondern weil sie an die Stelle der Wahrheit den | |
| Konsens gesetzt hat. Er träumt von Ordnung, nicht von Patriotismus. „Schon | |
| der Begriff kollektives Glück löst in mir einen gewissen Schrecken aus.“ | |
| An anderer Stelle im Buch sagt er: „Der Schriftsteller – ich, [6][Orwell] | |
| oder irgendein anderer spürt eine Angst bei seinen Zeitgenossen und bringt | |
| sie in einem Buch zum Ausdruck. Das ist der Antrieb.“ Vielleicht liegt | |
| darin sein lächerlicher Ruf als Prophet begründet – laut einigen Kritikern | |
| soll er von den terroristisch-faschistischen [7][Angriffen der Islamisten] | |
| bis zu der [8][Gelbwestenbewegung] alles in seinen Büchern vorweggenommen | |
| haben. | |
| Was er dazu sagt? „Ich betrachte mich nicht als säkularen Propheten.“ Was | |
| wiederum beruhigend ist, denn aktuell befürchtet er einen Bürgerkrieg: „Es | |
| kann jeden Augenblick zum Ausbruch kommen.“ | |
| 4 Dec 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Buch-ueber-Michel-Houellebecq/!5475746 | |
| [2] https://editions.flammarion.com/interventions-2020/9782081510821 | |
| [3] https://www.dumont-buchverlag.de/buch/houellebecq-ein-bisschen-schlechter-9… | |
| [4] /Identitaetspolitik-auf-der-Buchmesse/!5717068 | |
| [5] https://www.valeursactuelles.com/historique/geoffroy-lejeune | |
| [6] /Autor-von-1984-ueber-Nationalismus/!5656142 | |
| [7] /Kolumne-Liebeserklaerung/!5024240 | |
| [8] /Gelbwesten-Protest-in-Frankreich/!5558329 | |
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| Tania Martini | |
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