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# taz.de -- Neuer Roman von Michel Houellebecq: Die Aufweichung der Kampfzone
> Michel Houellebecq entdeckt, wie vielschichtig menschliche Beziehungen
> sein können. Auch sonst gibt es in seinem neuen Roman viel zu staunen.
Bild: Der allgemeinen Hölle entkommen: Michel Houellebecq
Gegen Ende dieses teilweise disparaten, langen, oft holpernden,
streckenweise aber auch berührenden Romans wird viel gelesen. Der nach
einem Schlaganfall gelähmte Familienpatriarch und
Ex-Geheimdienstmitarbeiter, der nur noch mit den Augen blinzeln kann, liest
Balzac, „Die menschliche Komödie“. Sein Sohn Paul Raison, die Hauptfigur
des Romans, liest mit Begeisterung Arthur Conan Doyle und darauf etwas
weniger begeistert Agatha Christie.
Und man selbst kann beim Lesen – auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass
Michel Houllebecq diesen Klassiker im Sinn hatte – an Theodor Fontanes
Spätwerk „Der Stechlin“ denken. So wie Fontane seinem alternden Junker
gönnt Houellebecq seinem durchschnittlichen Helden Paul sowie dessen Frau
Prudence einen unendlich langen, allmählich verglimmenden Schlussakkord.
Er entzieht der Handlung gewissermaßen die Farben, bis auf den letzten 150
Seiten nur noch so etwas übrigbleibt wie eine Meditation über menschliche
Würde und die Endlichkeit des Daseins, an der alle medizinische Kunst
nichts zu ändern vermag. Das ist einer der Abschnitte, an denen einen der
Roman nahekommt.
Dabei hat er wie ein Buch begonnen, in dem sich alle – [1][die
Houellebecq-Fans wie die Houellebecq-Verächter] – schön übersichtlich in
ihren jeweiligen Gräben gemütlich einrichten können.
Es gibt geheimnisvolle terroristische Anschläge, hinter denen offenkundig
ein zunächst geheimer Plan steckt, der sich, so glaubt man, irgendwann
enthüllen wird. Der [2][französische Präsidentschaftswahlkampf] des Jahres
2027 spielt eine große Rolle (daraus, dass er den Roman in der nahen
Zukunft ansiedelt, macht Michel Houellebecq sonst nicht viel, womöglich
wollte er nur die Darstellung der Coronagegenwart umgehen). Schrittweise
wird zudem ein Figurentableau eingeführt. Fast wie in einem dieser so
recherchierten wie übersichtlichen Politthriller à la John Grisham.
## Wie eine Familienaufstellung
Doch allmählich verschiebt sich das. Die politischen Ebenen laufen zwar
weiter, aber sie werden in den Hintergrund gerückt. Und im Vordergrund
findet sich Paul wieder, ein mittelalter, unglücklich verheirateter Berater
des Wirtschaftsministers, samt seinen beiden Geschwistern Cécile und
Aurélien sowie deren Ehepartner*innen. Nach dem Schlaganfall ihres Vaters
kommen sie auf dem Landsitz der Familie im Beaujolais zusammen, um sich um
ihn zu kümmern.
Ziemlich genau in der Mitte des Buchs gibt es ein gemeinsames Essen der
Geschwister, und dabei wird der Roman geradezu zur Familienaufstellung.
Wenn man liest, wie streckenweise nahe Houellebecq seinen Figuren zu kommen
versucht, wundert man sich.
Dass die Vereinzelung der Menschen in den westlichen Gesellschaften ein
abgeschlossener Vorgang ist, ist eine der Thesen, die man zuletzt von ihm
registrieren konnte. In „Vernichten“ scheint er aber auch darauf neugierig
zu sein, wie denn diese vereinzelten Menschen nun miteinander umgehen. Und,
siehe, teilweise kommen sie ganz gut miteinander aus.
## Vertrauen ins Leben
Natürlich geht nicht alles gut. Es gibt Probleme und Konflikte innerhalb
der Familie. Es wird auch Schicksalsschläge geben. Und nicht alle
Beteiligten werden, wie Cécile es ausdrückt, das Vertrauen in das Leben
aufbringen, das es in der Moderne braucht.
Doch es gibt auch die Möglichkeit für Bündnisse und Arrangements unter den
Figuren. Und Paul und seine Frau Prudence, die zu Beginn seit Jahren zwar
in derselben Wohnung, aber getrennt voneinander leben, kommen ganz
allmählich wieder zusammen. Man staunt viele Kapitel lang darüber, wie
feinmalerisch und geradezu zart der sonst in vielem ja eher robuste
Erzähler Michel Houellebecq hier vorgeht.
Dass Houellebecq ein reaktionärer Denker ist, der solchen Kategorien wie
dem Untergang des Abendlands nachhängt und Emanzipation restlos für einen
Trick hält, um die Solidarität unter den Menschen zu unterlaufen und nur
noch egoistischen Motiven nachzugehen, das weiß man ja. Wer will, findet
Material dazu auch in diesem Roman.
## Die Linke hat abgedankt
Demokratische Wahlen sind hier im Grunde ein Witz. Politische
Medienberaterinnen kann sich Houellebecq nur entweder als Zynikerin oder
als Männerfantasie vorstellen. Die „moralische Linke“ hat abgedankt. Die
Böse in der Familie ist eine linksliberale Journalistin. Dafür, dass der
zunächst schon im Heim gut versorgte Vater wieder verfällt, sorgt
ausgerechnet die Gewerkschaft.
Doch das alles trifft nicht den Kern dieses Buchs. „Vernichten“ ist kein
Thesenroman, es geht in ihm nicht um „Provokation“. Vielmehr ist das Buch
literarisch unbedingt darin ernst zu nehmen, dass hier Thesen nicht einfach
illustriert, sondern implizit auch hinterfragt werden und dass der Text
sich als klüger als sein Autor erweisen kann.
Der Glutkern des Buchs besteht also vielmehr darin, dass Michel
Houellebecq, mit aller Vorsicht, offensichtlich dabei ist, die Bedeutung
menschlicher Beziehungen wiederzuentdecken und dabei vor allem glückende
Beziehungen intersubjektiv und nicht ausschließlich in den Kategorien von
Narzissmus und (weiblicher) Unterwerfung zu denken.
## Sex unter Gleichberechtigten
Dass sich in die menschlichen Sozialbeziehungen bis hinein in die
Sexualität [3][ökonomische Kosten-Nutzen-Maximen tief eingesenkt] haben,
war immer eines der Kernthemen dieses Autors und Hintergrund seines
Debüttitels von der „Ausweitung der Kampfzone“, der längst zu einem
geflügelten Wort geworden ist. In „Vernichten“ sucht und findet Houellebecq
zwischen allen Verhängnissen nun aber immer auch Momente des Nichtkämpfens
zwischen den Figuren.
Er deutet Schlupflöcher an bis hin zur Möglichkeit, zu zweit der
allgemeinen Hölle in einer, wie es an einer Stelle heißt, „eigenen Welt,
einer Miniwelt“ zu entkommen. Kurz, abschnittsweise glaubt dieser Roman
tatsächlich an die Liebe, und Michel Houellebecq bemüht sich, sie mit
Emanzipation kompatibel zu erzählen und dabei sogar eine Sprache zu finden,
in der [4][Sex als Kommunikation unter Gleichberechtigten] dargestellt ist.
Tatsächlich staunt man zwischendurch immer mal wieder nicht schlecht, etwa
wenn Houellebecq Beziehungsprobleme zu jeweils ganz individuell
interessanten Phänomenen erklärt: „Zu den Beziehungsproblemen anderer kann
man nichts sagen […], sie sind ein geheimer Ort, zu dem niemand vordringt.
[…] Was innerhalb einer Beziehung geschieht, ist einzigartig, nicht auf
andere Beziehungen übertragbar.“
## Die Mitmenschlichkeit
Fehlt eigentlich nur noch eine positiv geschilderte Paartherapie, aber so
weit geht Houellebecq in seiner Hinwendung zu den alltäglichen Beziehungs-
und Familienproblemen durchschnittlicher Menschen dann doch nicht. Und so
ganz geheuer ist ihm die Sache offenbar auch nicht. Während im Mittelteil
die Frauenfiguren durchaus differenziert geschildert werden, gehen diese
Figurenzeichnungen zum Ende hin wieder in Richtung Klischeereproduktion.
Dennoch, der Eindruck, dass dieser Autor, der seinen Mitmenschen schon so
zynisch entrückt war, ihnen nun streckenweise nahekommen möchte, bleibt.
Wie angefasst man etwa von den Problemen mit seinen alt gewordenen Eltern
sein kann, wie stabil auch Paarbeziehungen jenseits aller Probleme sein
können, das fängt er immer wieder gut ein. Man nimmt es lesend staunend zur
Kenntnis.
Und man denkt nach diesem Roman einen Satz, der einem vor diesem Roman im
Traum nicht eingefallen wäre. Er lautet: Wenn selbst ein politischer
Reaktionär wie Michel Houellebecq einen literarisch so zu rühren vermag,
ist die Sache der Mitmenschlichkeit noch nicht verloren.
14 Jan 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Dirk Knipphals
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