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# taz.de -- Regenwald in Gefahr: Kippt Amazonien, kippt das Klima
> Der Mensch treibt den größten Regenwald der Welt an den Abgrund. Über
> Risiken und Wirkungen von Abholzung sind sich nicht alle Expert:innen
> einig.
Bild: Rauch über dem Regenwald im brasilianischen Pará am Amazonas
Im westlichen Amazonien scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. In den
Wäldern Kolumbiens, Perus, Venezuelas und Boliviens regnet es das Zehnfache
von Berlin: 3 bis 5 Meter im Jahr, pro Quadratmeter. Die Trockenzeit ist
kurz, die Regenzeit lang. Anders jedoch im brasilianischen Süden und Osten:
Mehr als [1][75 Prozent des Regenwaldes] verlieren dort an
Widerstandsfähigkeit. Abholzung, teils illegal, und der Klimawandel raffen
den Wald dahin. Er kann sich nach Dürren oder Waldbränden immer schlechter
erholen. Expert:innen befürchten ein Absterben des artenreichsten
Ökosystems dieser Erde.
Ein kaputter Wald würde die hunderten indigenen Gruppen des Amazonasgebiets
besonders treffen. Sie leben von ihm und schützen ihn. Zudem ist fast jede
dritte Tier- und Pflanzenart der Welt in Amazonien heimisch: vom 15
Zentimeter kleinen Zwergseidenäffchen bis zum fast drei Meter großen
Arapaima.
Aber auch für den Rest der Welt wären die Folgen spürbar: Würgefeigen,
Paranussbäume oder Palisander, bis zu 60 Meter hoch, erzeugen Niederschlag,
der nach Nordamerika bis in die Sierra Nevada und die Rocky Mountains
getragen wird. Sterben die Bäume, regnet es dort seltener und
unregelmäßiger. Der Wald speichert zudem so viel CO2, wie die Menschheit in
[2][vier bis fünf Jahren] in die Luft bläst. Die zusätzlichen Emissionen
könnten das weltweite Klima aus dem Gleichgewicht bringen. Noch stärker als
ohnehin schon.
Dass bei mehr als drei Viertel der Fläche des brasilianischen Regenwaldes
die Widerstandsfähigkeit abnehme, sei ein deutliches Frühwarnsignal,
erklärt Chris Boulton von der University of Exeter. Boulton ist
Mathematiker und forscht seit mehr als zehn Jahren zu „[3][Kipppunkten]“.
Das sind Meeres- und Luftströmungen, Gletscher oder Ökosysteme, die mit
fortschreitender Erderhitzung aus dem Gleichgewicht fallen und die
Erderhitzung unumkehrbar beschleunigen. Je heißer es wird, desto mehr der
rund 16 Kipppunkte werden ausgelöst. Dazu zählt auch der
Amazonas-Regenwald. Kippt er, wird der [4][Regenwald zur Savanne]. Das kann
man sich wie beim Jenga-Spiel vorstellen: Nimmt man ihm zu viel Holz weg,
beginnt er irgendwann zu wackeln und bricht zusammen.
## Wie schlimm ist die Lage?
Wie groß ist das Risiko, dass der Wald tatsächlich kippt? „Wir befinden uns
am Rande des Abgrunds“, sagt der Regenwaldexperte Carlos Nobre. Er ist ein
enger Berater der brasilianischen Regierung unter Präsident Luiz Inácio
Lula Da Silva, genannt Lula, und forscht an der Universität von São Paulo.
Vor mehr als 30 Jahren warnte Nobre, als einer der ersten, dass es wegen
der hohen Abholzung bald keinen Wald mehr geben werde.
Zu Beginn dieses Jahres sind rund 18 Prozent des ursprünglichen Regenwaldes
abgeholzt. Etwa ein Drittel der verbliebenen Waldfläche ist zudem
[5][degradiert]. Das ist doppelt so viel wie bisher angenommen. An diesen
Stellen ist der Wald ausgedünnt, trockener und leichter entflammbar,
weshalb Forscher:innen vor „Megabränden“ warnen.
Der Kipppunkt ist damit näher gerückt, als selbst Nobre damals dachte:
„Wenn die Abholzung 20 bis 25 Prozent übersteigt und sich das Klima um 2,5
Grad erhitzt, beginnt der Wald zu kippen“, sagt der Klimaforscher
mittlerweile. Weil die Abholzung schon weit fortgeschritten ist, warnte er
gemeinsam mit dem kürzlich verstorbenen Thomas E. Lovejoy [6][2018 im
Fachmagazin Science Advances]erneut vor dem Kipppunkt; und [7][auch 2019].
Doch bisher halfen die Warnungen wenig. Im Februar 2023 wurden in Brasilien
über 300 Quadratkilometer Regenwald zerstört – eine Fläche größer als
München.
## Die Rolle des Klimawandels
Nicht nur die extrem hohe Abholzung, sondern auch der Klimawandel setzt dem
Regenwald stark zu. Das Amazonasgebiet ist bereits um 2 Grad heißer
geworden. Und es regnet seltener: „Heute ist die Trockenzeit vier bis fünf
Wochen länger als vor vierzig Jahren. Jedes Jahrzehnt wird sie eine Woche
länger“, sagt Nobre. Mittlerweile dauere es vier bis fünf Monate, bis der
Regen komme.
Zudem häufen und verstärken sich Wetterextreme: „Früher gab es eine schwere
Dürre alle 15 bis 20 Jahre“, sagt der Klimaforscher. „Heute sind es zwei
schwere Dürren alle zehn Jahre: 2005, 2010, 2015 bis 2016 und 2020.“ An
eine längere Trockenzeit seien die meisten Bäume aber nicht angepasst.
Derzeit steuert die Welt auf 2,7 Grad Erderhitzung zu. Diese Zahl beruhe
aber auf politischen Versprechen und ignoriere den Hitzefaktor Kipppunkte,
erklärt Carlos Nobre. Ein sterbender Amazonas-Regenwald würde bis zu
[8][200 Milliarden Tonnen CO2] zusätzlich freisetzen. Schon heute sei der
Regenwald in manchen Jahren eine CO2-Quelle. Er stieß etwa 2019 und 2020
mehr Kohlenstoffdioxid aus, als er speicherte.
Marina Hirota ist weniger pessimistisch. Sie forscht wie der Mathematiker
Boulton und der Klimaforscher Nobre zum Amazonas-Kipppunkt. „Ich habe unter
Carlos Nobre promoviert, aber wir sind nicht in allen Punkten einer
Meinung“, sagt Hirota. Für sie deute aus den Forschungsdaten wenig darauf
hin, dass der ganze Regenwald zur Savanne werde. Noch könne er sich gut
selbst erhalten: Die Bäume, Lianen und Sträucher produzieren die Hälfte des
Niederschlags selbst. Sie recyceln dafür fünf- bis sechsmal das Wasser aus
den Luftmassen, die vom Atlantik über das Amazonasgebiet nach Westen
ziehen.
## Eingeschränkter Optimismus
Eine Entwarnung also? Nein: „Ob der Wald nun kippt oder nicht, er verändert
sich bereits und wird immer schwächer“, sagt Hirota.
Präsident Lula, der den Rechtsextremen Jair Bolsonaro ablöste, gibt Hirota
und Nobre aber Hoffnung. „Lula setzt sich für ein Ende der Abholzung ein“,
erklärt Nobre, der die Regierung zum Umgang mit dem Regenwald berät.
Allerdings brauche es alle neun Amazonas-Staaten, um die Abholzung effektiv
zu stoppen. Zumindest Gustavo Petro, Präsident Kolumbiens, wo 13 Prozent
des Waldes liegen, setzt sich auch dafür ein.
Auf der Weltklimakonferenz in Ägypten im November 2022 [9][forderte Lula],
dass die Industrienationen jährlich 100 Milliarden US-Dollar an Staaten des
Globalen Südens zahlen sollten. Seit 2009 liegt das
100-Milliarden-Dollar-Versprechen auf dem Tisch – bis jetzt aber unerfüllt.
Mit seinem Anteil möchte Lula die Abholzung in Brasilien bekämpfen. Zudem
kündigte er an, die Weltklimakonferenz 2025 im Amazonasgebiet abzuhalten.
Bis dahin zeigt sich, ob Lulas „Null-Abholzung“-Versprechen eine Utopie
bleibt oder zur Realität wird.
16 Apr 2023
## LINKS
[1] /Studie-zur-Klimakrise/!5839664
[2] https://www.piqd.de/klimawandel/der-amazonas-kippt
[3] /Klimaforscherin-ueber-Kipppunkte/!5904202
[4] /Amazonas-vor-dem-Kipppunkt/!5718841
[5] https://www.science.org/doi/10.1126/science.abp8622
[6] https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.aat2340
[7] https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.aba2949
[8] https://iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-9326/2/4/045023
[9] /COP27-und-Brasilien/!5896079
## AUTOREN
Lukas Bayer
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