# taz.de -- Festivalleiter*innen über Freie Szene: „Existenzsorgen sind hind… | |
> Bei „Hauptsache frei“ stellt sich Hamburgs Theater- und Performance-Szene | |
> vor. Wie geht es Künstler*innen, wenn die Pandemie-Fördertöpfe leer sind? | |
Bild: Sinnbild für die freie Szene: Verena Brakoniers anti-klassistische Perfo… | |
taz: Christine Grosche, Jens Dietrich, es ist das letzte Festival | |
„Hauptsache frei“ unter Ihrer künstlerischen Leitung – die rotiert alle | |
drei Jahre. Gehen Sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge ab? | |
Jens Dietrich: Die Ambivalenz trifft es ganz gut. Wir haben die Hamburger | |
Szene in den letzten drei Jahren intensiv kennengelernt. Beim Kuratieren | |
war es uns wichtig, die Bandbreite und Vielfalt der Hamburger Produktionen | |
zu zeigen, was eine tolle Aufgabe ist. Jetzt freue ich mich dann aber | |
wieder darauf, wieder mehr Zeit für die künstlerische Arbeit in unserem | |
Musiktheaterkollektiv „Sounding Situations“ zu haben. | |
Christine Grosche: Unsere Leitung hat mit dem Beginn der Pandemie begonnen, | |
sodass auf uns noch mal ganz andere Herausforderungen zugekommen sind. Am | |
Anfang hat es viel Kraft und Energie gebraucht, das Festival nach unseren | |
Vorstellungen ins Laufen zu bringen. Jetzt, bei unserer dritten Ausgabe, | |
haben wir das Gefühl, dass sich mit dem Ende der Pandemie endlich auch mal | |
wieder Routinen einstellen können. | |
Tun sie das? | |
Grosche: Planungssicherheit schafft eine gute Basis, von der aus es sich | |
dann auch wieder kreativer arbeiten lässt. Außerdem sind wir als Team gut | |
zusammengewachsen. Es fällt uns also schon etwas schwer, diese Strukturen | |
nach nur drei Jahren wieder auflösen zu müssen. Wir sind aber auch sehr | |
gespannt darauf, was das nachfolgende Leitungsteam aus dem Festival macht. | |
Das Festival wurde und wird für die nächsten drei Jahre von der Hamburger | |
Kulturbehörde mit 375.000 Euro gefördert. [1][Auf Ihrer Website] listen Sie | |
weitere Förderer auf. Was kostet das Festival tatsächlich? | |
Dietrich: Die Behörde fördert das Festival jährlich mit 125.000 Euro. Durch | |
Bundesmittel über den Verbund „Festivalfriends“ und Stiftungen haben wir | |
dieses Jahr ein Budget von 259.000 Euro. Das reicht, um elf Produktionen zu | |
zeigen. | |
Können die Beteiligten davon leben? | |
Grosche: Niemand aus unserem Team kann allein von dem Honorar des Festivals | |
leben. Wir haben alle noch andere Projekte in der freien Szene oder auch | |
Jobs in anderen Bereichen außerhalb der Kunst. | |
Sollte man von der Kunst leben können? Ehrlich gesagt, vom freien | |
Kulturjournalismus kann ich selbst es nicht. | |
Dietrich: Unbedingt. Ich halte nichts von dem Narrativ, dass gute Kunst aus | |
einer prekären Situation entsteht. Gute Kunst entsteht meiner Erfahrung | |
nach aus einer Situation, in der Künstler*innen die Freiheit haben, sich | |
einem Thema zu widmen. Existenzsorgen sind da hinderlich. | |
Bis zum 29. April werden elf Produktionen zu sehen sein, sechs weniger als | |
im vergangenen Jahr. Eine künstlerische Entscheidung oder eine ökonomische? | |
Grosche: Eine ökonomische! Die Honoraruntergrenze von freischaffenden | |
Künstler*innen ist gestiegen, was sehr notwendig war. Das bedeutet, dass | |
die einzuladenden Produktionen teurer geworden sind und auch die Honorare | |
der Mitarbeitenden des Festivals gestiegen. | |
Was haben Sie in den vergangenen Jahren über die Hamburger freie Szene | |
gelernt? | |
Grosche: Wir konnten beobachten, dass es nicht nur mehr Stücke gibt, die | |
ihre Vielfalt abbilden, sondern darüber hinaus auch die Qualität der | |
künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten der Szene gestiegen ist. Dies hängt | |
sicher zum einen zusammen mit der Verdoppelung des Förderetats 2019/2020 | |
für die freien darstellenden Künste in Hamburg als auch mit den | |
dazugewonnenen Förderinstrumenten der Neustart- Kultur-Gelder: Die | |
ermöglichen intensivere Recherchen, längere Probenphasen und mehr | |
Kooperationen. | |
Diese zusätzlichen Instrumente gibt es nun nicht mehr: Einer für die | |
kommende Spielzeit beantragten Summe von 2.484.371,35 Euro – das sind alle | |
Anträge im Bereich Sprechtheater, Musiktheater, Performance – stehen | |
390.000 bewilligte Euro Förderung gegenüber. Das entspricht dem | |
Vor-Corona-Niveau. Wenn man der freien Szene den Puls misst, ist da noch | |
ein Herzschlag zu spüren? | |
Grosche: Nach dem anfänglichen Schock ist der Puls auf 180. Die freie Szene | |
kommt zusammen und plant viele Aktionen, um auf schwierige Situation zu | |
reagieren. | |
Jens Dietrich, Sie selbst sind im Vorstand des Dachverbands freie | |
darstellende [2][Künste Hamburg]. Wie viel Erste Hilfe kann der leisten? | |
Dietrich: Als Interessenvertretung mit mittlerweile mehr als 300 | |
Mitgliedern organisieren wir neben Fortbildungen Aktionen wie „Freie Szene | |
trifft Politik“. | |
Was passiert da genau? | |
Dietrich: Künstler*innen machen Abgeordneten deutlich, wie ihre Arbeit | |
aussieht und welchen Impact Kunst für die Gesellschaft haben kann. Solche | |
politischen Aktionen sind wichtig, um als Künstler*in in die | |
Handlungsfähigkeit zu kommen. | |
„Wir müssen miteinander eine Strategie entwickeln, wie wir begründen, | |
welche Förderinstrumente wir künftig brauchen, damit wir die Struktur- und | |
Professionalisierungseffekte fortsetzen können“: Das sagte Hamburgs | |
Kultursenator Carsten Brosda (SPD) Anfang Februar auf so einer | |
Veranstaltung. Warme Worte, solidarischer Schulterschluss – werden Taten | |
folgen? | |
Dietrich: Jetzt merken die Künstler*innen erst mal krass die | |
Abbruchkante der Förderungen in 2023/24. Die nächste Spielzeit wird hart. | |
Wir sehen die freie Szene als essenziellen Bestandteil der Kulturszene | |
Hamburgs und sind in Verhandlungen mit der Behörde über den Ausbau der | |
Förderinstrumente für den nächsten Doppelhaushalt. Da braucht es einen | |
signifikanten Aufwuchs, damit die Künstler*innen in Hamburg gehalten | |
werden können. | |
Die Fachjury im Bereich Sprechtheater, Musiktheater und Performance konnte | |
nicht einmal 20 Prozent der gestellten Förderanträge bewilligen. Welche | |
Auswirkungen hat das auf die nächste Ausgabe von „Hauptsache frei“ – dann | |
ja ohne Sie? | |
Grosche: Es wird schwer, weiterhin zu behaupten, das Festival sei das | |
„Schaufenster“ der freien Szene, wenn nur ein Bruchteil der vielen Ideen | |
und Konzepte umgesetzt werden können – und dementsprechend noch mal weniger | |
Stücke beim Festival gezeigt. | |
22 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.hauptsachefrei.de/de | |
[2] https://dfdk.de/ | |
## AUTOREN | |
Katrin Ullmann | |
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