# taz.de -- Projekt zur Temporeduzierung: Kunst am Straßenrand hilft | |
> Künstlerische Installationen neben der Fahrbahn bewegen Autofahrer*innen, | |
> das Tempo zu drosseln. Das zeigt ein Pilotprojekt in Niedersachsen. | |
Bild: Runter vom Gas: Professor Michael Dörner und Künstlerin Kira Keune zeig… | |
OSNABRÜCK taz | Kunst will gesehen werden. Also zeigt sie sich da, wo viele | |
Menschen an ihr vorbeikommen. Besonders gern von ihr bevölkert: | |
Straßenränder. Man fährt Rad oder Auto, und da ist sie plötzlich: eine | |
Skulptur, ein Grafitto, ein Lichtobjekt. Alltag, nicht nur in Metropolen. | |
Aber Kunst, die auf Geschwindigkeitsverringerung zielt, ist selten. Die | |
kleinen niedersächsischen Gemeinden Ottersberg (Kreis Verden) und | |
Amelinghausen (Kreis Lüneburg) sind also etwas Besonderes: Ihre | |
Hauptdurchgangsstraßen sind zu Galerien geworden. Deren Kunst ist ein | |
Mittel angewandter Wissenschaft, ein Feldversuch des interdisziplinären | |
Grundlagenforschungs-Projekts „FairVerkehr. Entschleunigung des | |
innerörtlichen Straßenverkehrs durch künstlerische Installationen“. | |
[1][„FairVerkehr“] ist eine Kooperation des Instituts für Experimentelle | |
Wirtschaftspsychologie der Leuphana Universität Lüneburg, des Instituts für | |
Verkehrsplanung und Logistik der Technischen Universität Hamburg sowie von | |
Dozenten und Studierenden der Ottersberger [2][Hochschule für Künste im | |
Sozialen]. Beim aktuellen Projekt reicht die Brems-Kunst in Ottersberg von | |
Juran Landts „Texere“, einer Textschilderfolge, deren Botschaften Radfahrer | |
und Fußgänger verändern können, bis zu „Bunte Straße“ von Jingrui Zhan… | |
einer Bushaltestelle mit angemalten Sitzen, Farbstreifen auf dem Gehweg und | |
einer Beklebung durch bunte Folien. | |
In Amelinghausen umfasst die Bandbreite neben Michael Dörners „Airbugs“, | |
dönerhaften Figurativwesen aus Bauschaum und LKW-Planen in Alarm-Orange bis | |
Knallrot, auch „Don’t be afraid“ von Caroline Stöckel, von Passanten | |
verschiebbare Acrylglasscheiben, die, wenn Sonne hindurchscheint, die | |
Straße in Farben tauchen. | |
Das Projekt reicht bis [3][ins Jahr 2017 zurück]. Den größten Effekt hatte | |
in der Pilotphase Elisabeth Herwigs „Fülle“ am Straßenrand von Ottersberg, | |
ein Pferdeanhänger, aus dem eine rote Masse quoll, Eingeweiden gleich. „Das | |
hat die Autofahrer aber ein bisschen zu sehr abgelenkt“, sagt Professor | |
Rainer Höger, emeritierter Leuphana-Wirtschaftspsychologe und Koordinator | |
von „FairVerkehr“. In der Hauptphase, in Ottersberg ab Herbst 2020 und in | |
Amelinghausen ab Frühjahr 2021, wurden die Eyecatcher dann entspannter. | |
Der verkehrspolitische Hintergrund des Projekts: Ottersberg und | |
Amelinghausen haben ähnliche Probleme. In Ottersberg ist die Straße | |
schnurgerade, weit einsehbar, was zu hohen Geschwindigkeiten führt. In | |
Amelinghausen führt sie teils abschüssig in den Ort hinein, mit ähnlichen | |
Folgen. Und in beiden Orten ist das Verkehrsaufkommen hoch, stark geprägt | |
von Transitfahrten. | |
„Wir wollten untersuchen, ob wir die Geschwindigkeit durch [4][Kunst] | |
reduzieren können“, sagt Höger. „Durch eine Beeinflussung der | |
Ortsatmosphäre.“ Und dann zieht Höger einen Vergleich: „Nehmen wir einen | |
Weihnachtsmarkt. Auch da gibt es viel zu schauen. Auch da ist die | |
Aufenthaltsqualität hoch. Und weil das so ist, würde keiner auf die Idee | |
kommen, da mit dem Motorrad durchzubrettern.“ | |
Der Aufwand der drei Hochschulen war groß: Die Anwohner wurden zur | |
Partizipation eingeladen, zu [5][Verkehrslärm], Luftqualität, | |
Anmutungsqualität und Aufmerksamkeitsattraktion befragt. Radarmessgeräte | |
und Verkehrskameras wurden installiert, für Vorher-Nachher-Vergleiche. Dazu | |
kamen Blickfelduntersuchungen durch Eye-Tracking. Per Zufallsprinzip | |
ausgewählte Fahrzeuge wurden zudem Verfolgungsfahrten unterzogen, | |
Fahrerverhaltensanalysen mit GPS-Ortung folgten. Dazu kam die Kunst selbst. | |
Vom niedersächsischen Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und | |
Verbraucherschutz gab es für all das 115.000 Euro Fördermittel. | |
## Keine negativen Nebenwirkungen | |
Das Ergebnis: Die Kunst bremst tatsächlich, spürbar. Und sie hat keine | |
negativen Nebenwirkungen: Sie wird zwar, so der Abschlussbericht, | |
„substanziell mit Aufmerksamkeit belegt“, aber sie ist nicht | |
verkehrsgefährdend. | |
Ein Problem: Die Geschwindigkeitsreduktion tritt teils erst Richtung | |
Ortsmitte ein, mit Zeitverzug. „Natürlich wäre es besser, wenn das gleich | |
am Ortseingang geschähe“, sagt Höger. „Aber dazu hätten auch Kunstobjekte | |
im Vorfeld der Ortseinfahrt stehen müssen, und das ist verkehrsrechtlich | |
nicht erlaubt.“ Dass sich der Effekt innerorts verstärke, könne auch an der | |
Summe der Kunst-Eindrücke liegen. „Da wirkt dann nicht das einzelne Werk, | |
sondern die Kombination aller.“ | |
## Projekt mit Zukunftspotenzial | |
„FairVerkehr“, im Spätherbst 2022 abgeschlossen, hat Zukunftspotenzial. | |
Gerade im Ländlichen, wo die Verkehrsplanung oft das Auto begünstigt hat | |
und durch das sich plötzlich Schwerlastverkehre pflügen, auf dem Weg zu | |
neuen Gewerbegebieten, muss sich der Straßenraum wandeln – weg von der | |
Rennstrecke, hin zu mehr Anwohner-Lebensqualität. | |
Der Einsatz von Kunst, gleichzeitig potenziell eine lokale | |
Identitätsstiftung, ist ein Instrument. Auch Dialogdisplays zur gefahrenen | |
Geschwindigkeit helfen, neben zusätzlicher Begrünung und | |
verkehrsberuhigenden Baumaßnahmen. „Es ist ein Zusammenwirken“, sagt Höge… | |
Die Reaktion der Bürger war übrigens gemischt. „Einige fanden es notwendig, | |
dass was passiert“, sagt Höger. „Andere konnten mit Kunst nichts anfangen.… | |
Besonders beliebt sind übrigens die „Parasole“-Objekte von Kira Keune, | |
Sonnenschirme mit Alulamellen, von Pink bis Türkis. „Die sehen einfach nett | |
aus, haben Karibik-Feeling“, sagt Höger. „Die Leute stellen sich Stühle | |
drunter, unterhalten sich.“ Eine Fahrt nach Ottersberg und Amelinghausen | |
lohnt sich also. Eine der Erkenntnisse: Von der Geografie und der | |
Einwohnerzahl her sind beide Orte Provinz. Aber gedanklich können sie mit | |
einer Weltstadt wie London mithalten. Denn die Botschaft ihrer | |
Hauptdurchgangsstraßen erinnert an den Diversifikations-Raum der Exhibition | |
Road in South Kensington: Die Zeit, in der Autos hier das alleinige Sagen | |
hatten, ist vorbei. | |
17 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.leuphana.de/fileadmin/user_upload/Forschungseinrichtungen/ifewp… | |
[2] /Studienplaetze-fuer-Menschen-mit-Behinderung/!5917658 | |
[3] http://www.hks-freiebildendekunst.de/forschungsprojekt-fairverkehr/ | |
[4] /Kunst/!t5008134 | |
[5] /Strassenlaerm/!t5300057 | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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