# taz.de -- Außenministerin Baerbock in Georgien: Zwischen Hoffnung und Machte… | |
> Annalena Baerbock bestärkt Georgien, an einem pro-europäischen Kurs | |
> festzuhalten. Doch der russische Einfluss auf das Land ist weiterhin | |
> enorm. | |
Bild: Komplizierte Aussichten in Georgien: Außenministerin Annalena Baerbock | |
TBLISI taz | Was Krise im Dauerzustand in Georgien bedeutet, wird für | |
Außenministerin Annalena Baerbock spätestens im Gebiet zu Südossetien klar. | |
Rund 70 Kilometer nördlich von der Hauptstadt Tblisi entfernt steht die | |
Grünen-Politikerin auf einem Hügel – am Beobachtungspunkt Nummer 5 bei | |
Odzisi – und blickt durch einen Feldstecher auf eine russische | |
Militärbasis. Die Station liegt nahe der sogenannten Verwaltungslinie, | |
beobachtet wird diese von der EU-Mission EUMM (European Union Monitoring | |
Mission). Rund 250 Beobachter:innen hat die Europäische Union dorthin | |
entsendet, 28 kommen aus Deutschland. | |
Ihre Aufgabe ist es, nach dem Ende der Kämpfe zwischen Russland und | |
Georgien 2008 die [1][Einhaltung der Waffenstillstandsvereinbarungen] zu | |
überwachen. Die Beobachter:innen sollen für Stabilität sorgen und | |
Vertrauen schaffen. Beides ist mühsam. Einer der diese Basisarbeit der | |
EU-Mission seit rund einem Jahr leistet, ist Sebastian Hulde. Der | |
43-Jährige zeigt der deutschen Außenministerin bei ihrem Besuch die | |
Hotspots an der Verwaltungslinie, Karten, Fotos und Stellungen der | |
Grenzschutzposten. Insgesamt 19 soll es von russischer Seite geben, bis zu | |
30 Soldat:innen hat Russland dort stationiert. | |
Hulde, wie alle EU-Beobachter:innen, ist unbewaffnet, trägt eine blaue | |
Weste mit der EU-Flagge. Er könnte auch ein Ranger in einem Nationalpark | |
sein. Doch sein Job ist es, dafür zu sorgen, dass die Kommunikation | |
zwischen den Konfliktparteien Russland und Georgien aufrechterhalten | |
bleibt. Direkt gesprochen wird nicht, sondern nur über die | |
Vermittler:innen. Existenziell wird das an vielen Tagen im Jahr, wenn | |
Menschen aus der Region die Verwaltungslinie übertreten. Und das aus ganz | |
praktischen Gründen. Zum Beispiel, wenn Kühe ausbrechen oder die | |
Wasserversorgung zu knapp wird. Rund um die Uhr ist eine Hotline | |
geschaltet, über die die EU-Beobachter:innen die Grenzgänger:innen | |
ankündigen. Gibt es keine Vermittlung und Anmeldung, kann das Festnahmen | |
und Haft von bis zu zwei Jahren bedeuten. | |
Auf dem Weg zum EU-Beobachtungspunkt Nummer 5 fährt Annalena Baerbock über | |
holprige Pisten, vorbei an baufälligen Häusern mit bröckelnden Fassaden, | |
zusammengestückelten Schuppen und Hütten. Wenige Hundert Menschen leben in | |
der ärmlichen Region, viele arbeiten auf den Feldern. Das Leben ist | |
beschwerlich und der Krieg von 2008 mit seinen Folgen nach wie vor | |
sichtbar. In der Nacht vom 7. auf den 8. August nahmen damals georgische | |
Truppen die südossetische Hauptstadt Zchinwali unter Beschuss. | |
Der amtierende georgische Staatspräsident Michail Saakaschwili glaubte zu | |
diesem Zeitpunkt, die abtrünnige Region Südossetien schnell wieder unter | |
Kontrolle zu bringen. Er schätzte dies falsch ein, denn Moskau mischte sich | |
ein, und russische Truppen drangen weit auf georgisches Territorium vor. | |
Durch die Vermittlung Frankreichs unter dem Mandat der | |
EU-Ratspräsidentschaft konnte der Krieg vier Tage später beendet werden. | |
## Binnengeflüchtete suchen Perspektive | |
Die Verluste waren bitter: etwa 850 Tote, Tausende Verletzte und rund | |
100.000 Menschen, die zu Binnengeflüchteten wurden. An diesem Freitag | |
trifft die deutsche Außenministerin auf dem Hügel der | |
EU-Beobachtungsmission auch zwei junge Frauen, deren Familien geflohen | |
sind. 2008 waren die beiden 4 und 5 Jahre alt. Vom Hügel sei sogar zu | |
sehen, wo sich das Dorf auf südossetischer Seite befindet, sagen sie und | |
zeigen in die Richtung eines Waldgebietes. Heute würden nur noch eine | |
Handvoll Familien dort leben, berichten sie. Und: Für sich und ihre engsten | |
Angehörigen sehen sie dort keine Perspektive. | |
Beide erzählen davon, dass sie versuchen, junge Menschen in der Region | |
zusammenzubringen. Sie organisieren Filmabende, Kunstprojekte. Die | |
Aktivitäten wirken klein im offenbar unlösbaren und schwellenden | |
Dauerkonflikt. Aber sie milderten ein wenig den Schmerz, sagt eine der | |
beiden. Der Besuch an der Station der EU-Beobachtungsmission, von der sie | |
auf ihre Heimat blicken können, sei sehr emotional. Es sind Worte, auf die | |
Baerbock keine richtige Antwort geben kann, sie kann nur zuhören. Und zum | |
Abschied mit den beiden Frauen ein Selfie machen. Die Beziehungen Georgiens | |
zu dem autonom verwalteten Gebiet im Norden des Landes sind schwierig. | |
[2][Angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine] geht hier | |
keiner davon aus, dass sich die Lage vor Ort demnächst entspannt. | |
Und jetzt? Junge Leute bei der Stange halten, Frust abbauen und eine | |
Perspektive geben, das sieht Baerbock als ihre Mission in Georgien an. Nach | |
dem Besuch am Beobachtungspunkt Nummer 5 geht es für sie zurück in die | |
Hauptstadt an die Ilia-Universität. Rund 30 Studierende wollen dort mit ihr | |
über die [3][Chancen Georgiens auf einen EU-Beitritt] diskutieren. Wie groß | |
die Hoffnung in die EU ist, zeigt sich schon am Eingang der Universität: An | |
der Außenfassade hängen die georgische und die europäische Flagge. Es geht | |
den Studierenden nicht nur um Jobs, sondern um eine gute Ausbildung, um | |
eine bessere Gesundheitsversorgung, um Meinungsfreiheit, um | |
Geschlechtergerechtigkeit. Alles Themen, in denen Baerbock zu Hause ist. | |
## Georgische Studierende: Lasst uns nicht allein! | |
Die EU hatte die Ukraine und die benachbarte Republik Moldau im Juni 2022 | |
zu Beitrittskandidaten gemacht. [4][Georgien wurde dieser Status in | |
Aussicht gestellt,] allerdings unter der Bedingung, dass ein 12-Punkte-Plan | |
umgesetzt wird. Dazu zählt etwa der Kampf gegen Korruption, | |
Rechtsstaatlichkeit, die Wahrung der Presse- und Meinungsfreiheit – und | |
eine sogenannte De-Oligarchisierung. [5][Anfang März gab es tagelang | |
Demonstrationen] mit Tausenden Teilnehmer:innen gegen einen | |
umstrittenen Gesetzentwurf für ein „Agenten-Gesetz“. Die Regierung unter | |
Ministerpräsident Irakli Garibaschwili ging teilweise mit Wasserwerfern und | |
Tränengas gegen die Protestierenden vor. International sorgten die Bilder | |
von Menschen, die den Beitritt Georgiens zur EU verteidigten und sich gegen | |
den georgischen Polizeiapparat stellten, für enorme Aufmerksamkeit. | |
Fast alle Studierenden, die an diesem Tag die deutsche Außenministerin von | |
ihrer Haltung zur EU überzeugen wollen, waren bei den Protesten dabei. | |
„Lasst uns nicht allein“, ist ihre Botschaft an Baerbock. Sie beteuert, | |
dass sie und Deutschland als Freunde nach Georgien gekommen sind, die die | |
Kaukasusrepublik in der EU haben wollen. Für viele aus der vor allem jungen | |
Bevölkerung ist das aber mit der derzeitigen Regierung unter | |
Ministerpräsident Irakli Garibaschwili nicht machbar. Zu russlandfreundlich | |
schätzen sie diese ein, zu sehr vom Machtgebaren des Oligarchentums | |
durchdrungen. Baerbock sagt das, was eine Diplomatin sagen muss: Die | |
Regierung braucht die Zivilgesellschaft und die Zivilgesellschaft braucht | |
die Regierung, um den EU-Beitritt voranzutreiben. | |
Mit diesem Grundsatz kam sie bereits [6][bei einem Treffen mit vier | |
Vertreter:innen georgischer Nichtregierungsorganisationen] nicht | |
weiter. Die Botschaft der vier Frauen an Baerbock: Sprechen Sie klare | |
Worte. Und: Vertrauen Sie nicht dieser Regierung. [7][Das „Agenten-Gesetz“ | |
wurde zwar zurückgenommen.] Aber: Alle vier Frauen sind sich einig, dass | |
[8][die derzeitige Führung unter der Regierungspartei Georgischer Traum] | |
weitere Versuche unternehmen wird, ihren russlandfreundlichen Kurs | |
fortzuführen. Auch von einer Wiederauflage des „Agenten-Gesetzes“ gehen sie | |
aus. | |
Kritische Medien, Rechte für LGBTIQ- Gruppen, die regierungskritische | |
Arbeit der Zivilgesellschaft – all dies sehen sie bedroht, wenn die | |
amtierende Regierung weitere anti-europäische Gesetze auf den Weg bringen | |
und einen pro-russischen Kurs verfolgen wird. Dass es hier noch enorme | |
Lücken gibt, das macht Baerbock auch klar. Ihr Angebot: Unterstützung über | |
deutsche politische Stiftungen, das Goethe-Institut und auf diplomatischer | |
Ebene. Und sie beteuert: Wir, die EU, haben großen Respekt vor eurer | |
Leidenschaft für einen Beitritt zur Europäischen Union. Um die 12 Punkte | |
umzusetzen, wolle man „diesen letzten Schritt jetzt gemeinsam gehen“, sagt | |
Baerbock im Anschluss an ein Treffen mit ihrem georgischen Amtskollegen | |
Ilia Dartschiaschwili. | |
## Zu viele Störfeuer in Georgien | |
Am Donnerstag hatte [9][Baerbock in Nordmazedonien] leichteres Spiel: Mit | |
Leidenschaft warb sie für das Projekt EU und wollte in einer ungewöhnlich | |
langen Pressekonferenz vor mazedonischen und deutschen Journalist:innen | |
alle Parteien zu einem Kompromiss für eine Verfassungsänderung bewegen. Mit | |
Emotionen allein kommt sie in Georgien aber nicht weiter. | |
Es sind schlicht zu viele Störfeuer, wie sich bereits bei der Ankunft in | |
der Kaukasusrepublik zeigt. Wie alle Reisen der Bundesaußenministerin ist | |
auch diese genau durchgetaktet. Alle Programmpunkte sind auf Perfektion | |
ausgerichtet, ganz glatt läuft es aber nicht. Schon die Ankunft des | |
Fliegers der Außenministerin gestaltet sich holprig. Kurz vor dem | |
Landeanflug muss der Pilot noch mal durchstarten. Ob nun Standardsituation | |
oder außergewöhnlicher Fall – wie es dazu kam, ist bis zum Ende der Reise | |
nicht ganz klar. | |
Jede Verzögerung und Störung sorgt für Aufregung in einer ohnehin schon | |
komplexen Lage. Rund 3,7 Millionen Menschen leben in Georgien, dem Land am | |
Schwarzen Meer. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion steht die Republik | |
unter enormem Einfluss und Druck Russlands. Die abtrünnigen Gebiete | |
Südossetien und Abchasien werden von Russland unterstützt, russische | |
Truppen sind in der Region stationiert. 20 Prozent des Staatsgebietes | |
werden von Russland besetzt. Georgien ist zum Spielball geostrategischer | |
Planspiele geworden. | |
Weit über 80 Prozent der georgischen Bevölkerung wollen, dass ihr Land der | |
EU beitritt – und auch der Nato. Aber mit Beginn des russischen | |
Angriffskriegs auf die Ukraine wächst die Angst im Land, dass Georgien zum | |
nächsten Krisenherd werden könnte. [10][International hat sich die | |
Südkaukasusrepublik nur halbherzig an der Seite der Ukraine positioniert], | |
sich jedoch mehrfach UN-Resolutionen angeschlossen, die den Krieg und | |
Russland verurteilen. Wenn man in die EU wolle, gehöre dazu auch die Außen- | |
und Sicherheitspolitik, sagt Baerbock. | |
Deshalb dürften auch Direktflüge von Tbilisi nach Moskau nicht wieder | |
aufgenommen werden. Diese Möglichkeit wird bereits seit Wochen diskutiert. | |
Zuletzt hatte sich auch der Bürgermeister von Tbilisi, Kacha Kaladze, dafür | |
ausgesprochen. Das georgische Außenministerium hält sich dagegen bedeckt. | |
Dartschiaschwili betonte, dass die Beziehungen zwischen Russland und | |
Georgien sich lediglich auf das Waffenstillstandsabkommen bezögen und auf | |
„internationalen Plattformen“ stattfänden. | |
## Druck von allen Seiten | |
Die Solidarität mit der Ukraine ist in den Straßen Tbilisis sichtbar. Neben | |
der EU-Flagge hängt an vielen Stellen die blau-gelbe ukrainische Flagge. | |
Künstler:innen veranstalten Soli-Konzerte, um Geld für die Geflüchteten | |
zu sammeln. „Dass ihr euch auch mit eurem Hintergrund an die Seite der | |
Ukraine stellt, zeigt klar, welche Werte ihr teilt“, wird Baerbock nicht | |
müde zu beteuern. | |
Müde wirken auch die vier Frauen im Büro der NGO in der Altstadt von Tblisi | |
wahrlich nicht. Hoffnung gebe es noch, aber der Druck nehme zu. Wie sehr | |
die Vertreter:innen der Zivilgesellschaft angefeindet werden, das | |
vermitteln sie der deutschen Außenministerin sehr deutlich. Hass in | |
sozialen Medien gegen die eigene Person, das kennt auch Annalena Baerbock | |
zu Genüge. In Georgien schwappte der bereits in die reale Welt. Die | |
Gesichter der Anführer:innen des Protests landeten auf Plakaten, auf | |
denen sie selbst als Agent:innen diffamiert werden. Die Poster wurden in | |
der ganzen Stadt verteilt. | |
Es wird sicher nicht der letzte Besuch Baerbocks in der geopolitisch | |
wichtigen Region gewesen sein. Im kommenden Jahr finden Parlamentswahlen in | |
Georgien statt – eine Richtungsentscheidung für den zukünftigen Kurs des | |
Landes. Die Pro-EU-Protestbewegung will durchhalten, die | |
russlandfreundliche Regierung ebenso. | |
25 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tanja Tricarico | |
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