# taz.de -- Ex-Minister über Georgiens EU-Kurs: „Viele wollen nach Europa“ | |
> Wohin steuert Georgien nach der Rücknahme des antidemokratischen | |
> „Agentengesetzes“? Ein Gespräch mit Ex-Minister und Konfliktforscher | |
> Zakareishvili. | |
Bild: Gerade junge Georgier*innen gingen Anfang März in Tbilisi auf die Straße | |
taz: Herr Zakareishvili, Sie waren bis 2016 vier Jahre lang Minister für | |
Versöhnung in Georgien. Es gibt Stimmen in Ihrem Land, die sagen: Georgien | |
könnte versuchen, die separatistischen Gebiete Abchasien und Südossetien | |
militärisch zurückzuholen. Halten Sie das für möglich? | |
Paata Zakareishvili: Das ist absolut ausgeschlossen. Keine politische | |
Partei im Parlament, einschließlich aller Oppositionsparteien, haben weder | |
gemeinsam noch für sich irgendeine Erklärung abgegeben, die vor dem | |
Hintergrund des Kriegs gegen die Ukraine einen Versuch fordert, unsere | |
territorialen Fragen militärisch zu lösen. Das fordert niemand. Die | |
Einzigen, die derartiges behaupten, sind die Propagandisten der georgischen | |
und der russischen Machthaber. Denn die suggerieren immer wieder, in | |
Georgien wolle man die Situation in der Ukraine nutzen und eine zweite | |
Front eröffnen. Niemand, wirklich niemand will das hier. | |
Anfang März gab es [1][erfolgreich Proteste gegen ein „Agentengesetz“], das | |
ausländische Organisationen gelistet hätte – ähnlich wie in Russland. | |
Könnte es in der georgischen Regierung zu anderen Machtverhältnissen | |
kommen, ist da etwas in Bewegung geraten? | |
Es wird keine grundlegenden Änderungen der Regierung geben. Die Regierung | |
sitzt fest im Sattel. Wir haben keine politische Krise. Im Parlament | |
regiert mit absoluter Mehrheit die Partei Georgischer Traum. Und diese | |
Partei entscheidet über den Haushalt. Sie bestimmt, wer in der Regierung | |
sitzt. Sie kontrolliert alles, leider, unter anderem auch die Gerichte, die | |
Staatsanwaltschaft und so weiter. Das ist alles nicht sehr demokratisch. | |
Aber wir haben hier keine Demokratie. Es ist eine Pseudodemokratie. Die | |
Geschicke des Landes liegen in der Hand dieser einen Partei. Und so fordern | |
die Demonstranten auch nicht andere Machtverhältnisse. Sie wollen nur kein | |
Gesetz zu sogenannten ausländischen Agenten. Und sie wollen, dass sich | |
Georgien auf die EU zubewegt. | |
Will wirklich niemand eine andere Regierung? | |
Nun, Wano Merabischwili, ein ehemaliger Innenminister unter Saakaschwili … | |
… der inhaftierte, gesundheitlich angeschlagene [2][Ex-Präsident Michail | |
Saakaschwili], dessen Haftbedingungen international kritisiert werden. | |
Wano Merabischwili hat kürzlich verlauten lassen, dass jetzt ein guter | |
Zeitpunkt für einen Machtwechsel wäre. Aber dieser Mann ist nicht beliebt. | |
Da stehen immer noch Anschuldigungen von Folter aus seiner Zeit als | |
Innenminister im Raum. | |
Als Minister waren Sie für Versöhnung zuständig. Hatten Sie direkten | |
Kontakt mit den von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannten | |
Republiken Abchasien und Südossetien? | |
Ja, ich hatte Kontakt. Als ich angefangen habe, war man in der Partei | |
Vereinte Nationale Bewegung, also der Partei von Saakaschwili, der | |
Auffassung: Es ist sinnlos, mit Suchumi (Hauptstadt von Abchasien, Anm. d. | |
Red.) oder mit Zchinwali (Hauptstadt von Südossetien, Anm. d. Red.) in | |
Kontakt zu treten. Die würden doch von Moskau aus gelenkt. Also, so die | |
Auffassung, müsse man alle Fragen mit Moskau regeln. Doch Moskau redete | |
nicht mit uns. Und so war man in einem Teufelskreis. Und ich dachte mir, | |
diesen Teufelskreis muss man durchbrechen. | |
Sie konnten also im Auftrag der georgischen Regierung mit den Separatisten | |
reden? | |
Ja. Mir war es wichtig, einen Kontakt zu Suchumi und zu Zchinwali | |
herzustellen. Und die Regierung hat mich das machen lassen. Etwas habe ich | |
auch erreicht. Ich habe sogar ein Buch geschrieben über diese Arbeit. Und | |
der Kontakt zu Suchumi und zu Zchinwali stand. Das hatte zur Folge, dass | |
der Einfluss Moskaus auf diese nicht anerkannten Republiken abgenommen | |
hatte. Dort hatte man verstanden, dass man auch Player in einem wichtigen | |
Spiel sein kann. Sie sahen, dass sie auch Konfliktpartei, | |
Verhandlungspartner sein konnten, und verstanden, dass sie im direkten | |
Kontakt mit Tbilisi auch ohne Moskau für ihre Interessen eintreten können. | |
Und genau die Arbeit an diesem Kontakt war mein Schwerpunkt. | |
Wie entwickelten sich die Kontakte zu den autonomen Regionen nach Ihrer | |
Amtszeit? | |
2016 musste ich gehen, weil die Partei, für die ich damals angetreten bin, | |
die Wahlen verloren hatte. Und dann wurde wieder alles so wie früher, es | |
gewannen altbekannte Narrative die Oberhand. Das ist bis heute so | |
geblieben. Das heißt, man sagt, es mache keinen Sinn, mit den Abchasen und | |
Osseten zu reden, sie seien doch gar keine Rechtssubjekte. Alle | |
Entscheidungen würden nun mal in Moskau getroffen. Man müsse also mit | |
Moskau reden – was sie aber gar nicht tun. Und wieder sind wir in diesem | |
bekannten Teufelskreis. Deswegen muss ich leider konstatieren, dass meine | |
vierjährige Zeit als Minister nicht von Erfolg gekrönt war. | |
Welche Rolle haben Sie, als bekannte Stimme in Georgien, bei den Protesten | |
gegen den zurückgezogenen „Agentengesetz“-Entwurf gespielt? | |
Ich bin unabhängig, neutral. Ich gehöre aktuell keiner Partei an und bin | |
als unabhängiger Experte immer wieder Interviewpartner. Ich war von Anfang | |
an, auch schon vor Beginn der Proteste, gegen dieses Gesetz zu den | |
sogenannten ausländischen Agenten. Ich habe dies offen gesagt, in | |
Fernsehinterviews und in der Öffentlichkeit. Man kann natürlich die | |
Transparenz der Zivilgesellschaft thematisieren. Nur: Die georgische | |
Zivilgesellschaft ist transparent. Die Geldgeber kontrollieren die | |
Ausgaben. Das Gleiche macht auch das Finanzministerium. Kurzum: Nichts in | |
Georgien ist so transparent wie die Zivilgesellschaft. Transparenzprobleme | |
gibt es dagegen umso mehr in anderen Bereichen von Politik und | |
Gesellschaft. Aber da fordert niemand mehr Transparenz. | |
Warum war dann den georgischen Machthabern dieser Gesetzentwurf so wichtig? | |
Georgiens Machthaber haben seit 2016, besonders aber in den letzten zwei | |
Jahren, sehr viel Wohlwollen gegenüber den russischen Machthabern gezeigt. | |
Besonders deutlich wurde das seit Russlands groß angelegter Aggression | |
gegen die Ukraine im Februar 2022. Zu diesem Überfall auf die Ukraine | |
haben die georgischen Machthaber viel geschwiegen. Und wenn sie etwas | |
gesagt haben, dann haben sie Russland Recht gegeben. Immer wieder hörte ich | |
von georgischen Regierungsvertretern, dass die Ukraine an diesem Krieg | |
schuld sei und dass man von einem Erfolg Russlands ausgehe. Ich könnte hier | |
nun jede Menge Zitate von Vertretern der georgischen Machthaber anführen, | |
die betonten, dass an all dem die Ukraine und deren Maidan-Bewegung schuld | |
sei. Sie sagten, dass es nicht zu einem Krieg gekommen wäre, wenn die | |
Demokratiebewegung nicht so aktiv gewesen wäre. | |
Der Gesetzentwurf zu den „ausländischen Agenten“ fügt sich ein in eine | |
gewisse Strategie? | |
Klar. Und dieser Gesetzentwurf war fast eine Kopie eines ähnlichen Gesetzes | |
in Russland. Demagogisch und propagandistisch wurde suggeriert, dass ein | |
US-amerikanisches Gesetz Vorbild von diesem Gesetz gewesen wäre. Das war | |
eine Lüge, und wir alle haben verstanden, dass es eine Lüge war. Wir | |
wussten ja, dass man auch in Russland versucht hat, den Menschen das Gesetz | |
gegen die sogenannten ausländischen Agenten schmackhaft zu machen, indem | |
man ihnen gesagt hatte, so etwas gäbe es auch in den USA. | |
Und warum hat die Gesellschaft in Georgien so emotional auf diesen | |
Gesetzentwurf der Regierung reagiert? | |
Man hat in unserer Gesellschaft begriffen, dass dieser Gesetzentwurf gegen | |
die Europäische Union gerichtet war. Insgesamt zwölf Punkte hat die | |
EU-Kommission formuliert, an denen Georgien bis zum Ende des Jahres | |
arbeiten müsse, um eine Empfehlung für den Status eines Beitrittskandidaten | |
zu erhalten. So wie ihn die Ukraine und Moldau erhalten haben. Und darauf | |
arbeitet die georgische Gesellschaft hin. Ich habe schon lange das Gefühl, | |
dass unsere Machthaber gar nicht wollen, dass wir Beitrittskandidat werden. | |
Und da passt es auch gut ins Bild, dass sie sich so eine Dummheit einfallen | |
ließen, mit der man wohl erreichen wollte, dass uns der | |
Beitrittskandidatenstatus verwehrt wird. | |
Sie meinen, es geht den Herrschenden in Georgien also gar nicht um mehr | |
Transparenz innerhalb der Zivilgesellschaft? | |
Nein, das war ein antiwestlicher, antidemokratischer, antieuropäischer | |
Gesetzentwurf. Und damit war er ein Schritt Richtung Russland und nicht | |
Richtung EU. Viele von denen, die bei uns auf die Straße gehen, sind weit | |
von der Politik entfernt. Viele junge Leute, die vielleicht noch nie das | |
Wort „Zivilgesellschaft“ gehört haben, waren auf der Straße. Sie sprechen | |
Englisch, sie wollen nach Europa, viele von ihnen haben in europäischen | |
Schulen und Universitäten studiert. Und sie wollen einfach nicht, dass sich | |
unser Land von der Außenwelt abkapselt, wie Russland das macht. | |
23 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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