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# taz.de -- Rechte der Natur in Spanien: Das Mar Menor wehrt sich
> Die spanische Lagune wurde zur Rechtsperson erklärt und kann Verschmutzer
> dadurch verklagen. Teresa Vicente hat dafür gekämpft.
Bild: Das Mar Menor wurde als erstes Ökosystem in Europa zur juristischen Pers…
Neben Teresa Vicente fließt ein Bach, der keiner sein dürfte. Sie steht auf
einem sandigen Damm, neben der Hauptstraße, die Erde ist bröckelig hier in
[1][Murcia, der trockensten Gegend Spaniens]. „Eigentlich müsste die Rambla
um diese Jahreszeit völlig leer sein“, sagt die Professorin für
Rechtswissenschaften an der Universität in Murcia am ostspanischen
Mittelmeer.
Rambla nennen sie hier die Bäche, die nur Wasser führen, nachdem es einmal
geregnet hat. Vicente führt einen hierher, wenn sie gefragt wird, warum es
der Lagune [2][Mar Menor] schlecht geht. 70.000 Hektar Zi-trusfrüchte und
Gemüse werden rund um die Mittelmeerlagune mit Wasser, das per Pipeline aus
dem zentralspanischen Tajo kommt, versorgt. Das Restwasser bildet den Bach
und fließt in den Mar Menor. „Was hier ins Meer gelangt, ist sehr stark mit
Nitraten belastet“, erklärt Vicente. Die hochaufgewachsene, energetische
Frau ist in ihrem Thema. Sie erklärt die Folgen der intensiven
Landwirtschaft: Die Nitrate sorgen für Algenwachstum. Das eingespeiste
Süßwasser senkt den Salzgehalt. Die für das Mar Menor typische Meeresflora
und -fauna ist deshalb fast komplett abgestorben. Es kommt zu Fischsterben.
Dazu kommen die Abwässer der Landwirtschaft, die illegal bewässerten 7.000
Hektar, die über 80 illegalen Brunnen und selbst illegale
Wasserentsalzungsanlagen, Massentierhaltung, die riesigen Urlaubsresorts
mit künstlich bewässerten Golfplätzen, die künstlich aufgeschütteten
Strände, deren Sand in die Lagune gespült wird und sie so immer seichter
macht – kaum eine Umweltsünde wurde hier ausgelassen.
„Die Rechte des Mar Menor werden systematisch verletzt“, sagt Vicente, als
handele es sich bei der Lagune um eine Person. Und genau das ist die 170
Quadratkilometer und damit größte Salzwasserlagune Europas mittlerweile
tatsächlich – eine juristische Person. Als erstes Ökosystem in Europa bekam
das Mar Menor im September 2022 Rechte. Die gleichen Rechte wie die
Unternehmen, die es zerstören. Teresa Vicente steckt hinter der Bewegung,
die das erreichte.
Bekannt wurde die [3][Idee, Ökosysteme zu Rechtspersonen] zu machen, mit
dem US-Amerikaner Christopher Stone. Als der Walt Disney-Konzern 1972 ein
neues Resort in den Bergen Kaliforniens bauen wollte, fehlte dem
Umweltrechtler die Sicht des Betroffenen: der Natur. Also schlug er vor,
dem Tal, in das die Hotelanlage gebaut werden sollte, Rechte und damit eine
Stimme zu geben.
Seitdem werden Ökosysteme selten, aber immer wieder zur juristischen Person
erklärt: In Ecuador bewirkten indigene Aktivist:innen 2008, dass das
Recht der Natur in die Verfassung aufgenommen wurde. In indigenen
Traditionen hat diese Sichtweise eine lange Geschichte. Wenige Jahre später
erklärte Neuseeland einen Nationalpark, einen Berg und einen Fluss zur
Rechtsperson. Es folgten ähnliche Initiativen in Bolivien, Indien und
Kanada. In Europa tut sich nichts.
Professorin Vicente forscht seit ihrer Studienzeit zum Thema Rechte für die
Umwelt und steht seit Langem im internationalen Austausch. Als sie 2019 von
einem Studienaufenthalt zu verschiedenen Initiativen in Lateinamerika und
Neuseeland an der britischen Universität Reading zurückkam, war die Lagune
wieder einmal umgekippt. „Meine Studenten fragten mich, ob wir nicht etwas
tun könnten“, erinnert sie sich. Vicente begann an einem Gesetzestext zu
arbeiten.
Und der Vorschlag, der Lagune Rechte zu geben, fand Anhänger. Eine breite
Bürgerbewegung sammelte 639.826 Unterschriften. Die
Bürgergesetzesinitiative wurde im spanischen Parlament eingereicht und
schließlich von allen Parteien mit Ausnahme der [4][rechtsextremen VOX]
angenommen. „Das Mar Menor ist sowas wie ein Symbol unserer regionalen
Identität“, erklärt Vicente, warum so viele unterschrieben. Im August 2021,
als das Mar Menor zuletzt zur „grünen Suppe“ wurden, umringten 70.000
Menschen die Lagune an ihrer 73 Kilometer langen Küstenlinie. In nur einer
Woche kamen 100.000 Unterschriften zusammen.
Nun ist das Mar Menor eine Rechtsperson, ähnlich wie Unternehmen, Banken
oder Verbände. Im Gesetz ist festgeschrieben, dass es das Recht auf
„Schutz, Erhaltung, Instandhaltung und gegebenenfalls Restaurierung hat“.
Die gesetzliche Vormundschaft des Mar Menor übernehmen drei Kommissionen:
Das Repräsentantenkomitee, das aus drei Vertretern der Zentralregierung,
drei Vertretern der Regionalregierung und sieben Vertretern der
Zivilgesellschaft besteht. Hinzu kommt die Überwachungskommission aus
Gesandten der Gemeinden am Mar Menor sowie ein wissenschaftliches Komitee.
Sie können klagen und als Verteidiger des Mar Menor und seiner Interessen
auftreten, wo immer das nötig ist. Wie das genau funktioniert, wird sich
erst noch zeigen, das Gremium konstituiert sich gerade. „Das ist ein
kultureller und auch emotionaler Wandel in dem, wie die Natur gesehen und
behandelt wird“, sagt Vicente.
„Als ich Anfang der 1980er Jahre studierte, glaubten in der
Rechtswissenschaft viele, dass alles erreicht sei, was zu erreichen war“,
erinnert sich Vicente. Mit der französischen Revolution seien die liberalen
Bürgerrechte eingeführt worden, „wenn auch erst einmal nur für einige
Bürger, für weiße, reiche Männer.“ Auch die Rechtsperson für Unternehmen.
Dann seien in der Mitte des 20. Jahrhunderts soziale Rechte gekommen
abseits von Geschlecht, Hautfarbe, Religion. „Doch die Natur blieb außen
vor“, sagt Vicente. Angetrieben vom Umweltbewusstsein fand sie ihr Thema:
Den „universellen juristischen Paradigmenwechsel“, wie sie es nennt. „Weg
vom Anthropozentrismus hin zum Ökozentrismus“. Der Mensch soll nicht länger
im Zentrum stehen, sondern das Ökosystem, von dem wir nur ein Teil sind.
Drei intensive Jahre für den Schutz des Mar Menor liegen hinter Vicente.
„Ich habe Lust auszuruhen“, sagt sie auf der Rückfahrt in die Stadt. Doch
seit der Erklärung des Mar Menor zur Rechtsperson ist die Jura-Professorin
viel unterwegs. Sie hält Vorträge an Unis in Europa und Amerika. Sie
besucht andere Initiativen, die Ökosysteme zur Rechtsperson machen wollen –
[5][das Wattenmeer] in Holland, Deutschland und Dänemark, die Rhone in
Frankreich oder die Lagune von Venedig. Dieses Jahr soll sie die UNO
Versammlung zum Tag der Erde am 22. April eröffnen.
Vom Beifahrersitz aus lässt sie ihren Blick schweifen über die dicht
gebauten Ferienresorts und Folienzelten an der Talsenke der Lagune. Ein
brutales Bild, aber ihr Blick ist zuversichtlich. „Wir werden nicht mehr
miterleben, wie all das verschwindet“, sagt sie, „aber unsere Enkel schon.�…
1 Apr 2023
## LINKS
[1] /Winterduerre-in-Europa/!5916007
[2] /Spanischer-Meerbusen-wird-Rechtsperson/!5847235
[3] /Die-Natur-hat-Rechte/!5923733
[4] /Sanchez-bleibt-Spaniens-Regierungschef/!5923952
[5] /Genehmigung-fuer-20-Jahre/!5916391
## AUTOREN
Reiner Wandler
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