# taz.de -- Tragikomödie „The Ordinaries“ im Kino: Schöne neue Filmwelt | |
> Im Debütfilm von Sophie Linnenbaum stehen Hauptfiguren oben, Outtakes | |
> unten in der Rangordnung. Es ist eine Parabel auf soziale Ungleichheit. | |
Bild: Hauptrollenanwärterin Paula (Fine Sendel) und Fehlbesetzung Hilde (Henni… | |
Wer gewöhnlich ist, ist gescheitert. Daran, sich das Eigene zu erhalten und | |
ein individuelles Leben zu führen. Zumindest wenn man es mit dem | |
Philosophen Max Stirner hält, demzufolge alle Menschen als Original geboren | |
werden, die meisten jedoch als Kopie sterben, hat jeder die Einzigartigkeit | |
bereits in sich. Wer gewöhnlich ist, hat sich dieser also berauben lassen. | |
Anders ausgedrückt: hat sich zum austauschbaren Statisten herabsetzen | |
lassen, anstatt als Protagonist durch das eigene Leben zu gehen. | |
In der Welt, die Sophie Linnenbaum in ihrem Debütfilm entwirft, | |
funktioniert das mit der Individualität anscheinend etwas anders: Wer | |
Hauptfigur sein will, muss sich erst zu einer solchen ausbilden lassen. Und | |
das nicht im übertragenen Sinne. | |
In „The Ordinaries“ ist die Gesellschaft in drei Schichten eingeteilt: Ganz | |
oben stehen die Hauptfiguren, die eine eigene Storyline besitzen und über | |
ein vielschichtiges Repertoire an Dialogzeilen sowie, vor allem, Emotionen | |
verfügen. Unter ihnen sind die gesichtslosen Nebenfiguren, deren | |
Sprachschatz sich auf wenige Sätze beschränkt und die nur zum Handeln fähig | |
sind, wenn sich eine Hauptfigur in ihrer Nähe befindet. Eigene Szenen | |
besitzen sie nicht, sie dienen lediglich als Staffage. | |
Den Bodensatz, der vom Rest gemieden wird, als handele es sich um eine | |
Krankheit – unter den Bessergestellten hält sich hartnäckig das Vorurteil, | |
dass ihr Zustand tatsächlich „ansteckend“ sei –, bilden die sogenannten | |
„Outtakes“. Sie haben Schnittprobleme, sind Fehlbesetzungen und | |
Überzeichnungen. Im schlimmsten Falle sind sie schlicht „schwarz-weiß“, | |
Überkommene aus der Stummfilmzeit, die es gar nicht mehr geben dürfte. | |
Meist arbeiten sie in Fabriken, etwa für Soundeffekte. Die 16-jährige Paula | |
(Fine Sendel) im Zentrum der Handlung möchte sich denkbar weit von ihnen | |
abgrenzen und nach ganz oben. Gute Voraussetzungen dafür bringt sie mit. | |
## Schon der Vater war Hauptfigur | |
Sie besucht die Hauptfigurenschule, ist Klassenbeste im „Panischen | |
Schreien“ und glänzt im Fach „emotionaler Monolog“. Dass ihr Letzterer | |
derart gut gelingt, liegt an ihrem biografischen Hintergrund: Sie richtet | |
ihre Worte an ihren Vater, der ihres Wissens eine rühmliche Hauptfigur war | |
und bei einem Massaker, angeblich verübt durch aufständische „Outtakes“, … | |
Tode kam. Damit fügt Linnenbaum, die das Drehbuch mit Michael Fetter | |
Nathansky verfasste, dem Szenario einen Aspekt hinzu, der „The Ordinaries“ | |
zu mehr als einer Parabel über Klassismus allein macht. | |
Nicht nur die sozial-ökonomische Herkunft, auch die biologische Abstammung | |
ist von Belang, wenn es darum geht, wo man in der Hierarchie verortet wird | |
und ob man sich zum Aufstieg qualifiziert. Weil ihre Mutter (Jule Böwe) | |
lediglich eine Nebenfigur ist, sind die väterlichen Wurzeln besonders | |
wichtig. Ausgerechnet die Symbolik, die zur Verdeutlichung rassistischer | |
Ausgrenzung genutzt wird, ist allerdings ziemlich plump geraten. | |
Während „The Ordinaries“ gerade durch die Originalität seiner Metaphern | |
besticht, ebenso durch ihre reizvolle Doppeldeutigkeit – schließlich | |
funktionieren sie sowohl als Kritik an gesellschaftlicher Ungleichheit als | |
auch an der snobistischen Rangordnung zwischen den verschiedenen kreativen | |
Bereichen innerhalb der Filmwelt –, verlässt man sich auf schablonenhafte | |
historische Bildverweise und trägt unnötig zu ihrer Abnutzung bei. Etwa | |
wenn Outtakes dazu gezwungen werden, sich in den hinteren Teil des Busses | |
zu setzen oder in einer Art abgeriegeltem Getto untergebracht sind. | |
Paula taucht in ihre Schattenwelt ein, als sie feststellt, dass das Archiv | |
des mächtigen Instituts, das streng über die soziale Ordnung herrscht, über | |
keinerlei „Flashbacks“, und damit Erinnerungen, an ihren Vater verfügt. | |
Hilde (Henning Peker) – Hausmädchen der regelmäßig in pathetische | |
Musical-Einlagen ausbrechenden [1][„Golden Age of Hollywood“]-Familie ihrer | |
besten Freundin Hannah (Sira-Anna Faal) – verschafft ihr als klassische | |
„Fehlbesetzung“ Zugang, um dort mehr über ihren Vater herauszufinden. | |
## „Herzleser“ für die passende musikalische Untermalung | |
Vor allem visuell weiß „The Ordinaries“ bei der Suche seiner Protagonistin, | |
in deren Rahmen vermeintliche Gewissheiten über ihre eigene Herkunft und | |
die angebliche Gefährlichkeit der „Outtakes“ hinterfragt werden, zu | |
beeindrucken. Die Detailverliebtheit des Szenenbilds von Max-Josef | |
Schönborn überrascht umso mehr, da es sich um einen Abschlussfilm handelt, | |
mit dem Linnenbaum ihr Studium an der Filmuniversität Babelsberg beendet. | |
Auch Einfälle wie der „Herzleser“, eine über der Brust angebrachte | |
Apparatur, über die nur Hauptfiguren verfügen dürfen, die ihre Stimmung in | |
die passende musikalische Untermalung ihrer Szenen übersetzt, sind überaus | |
charmant. Umso bedauerlicher ist es, dass sich das Drama mit Voranschreiten | |
der zweistündigen Spielzeit immer weiter selbst vereindeutigt und | |
schließlich in eine melodramatische Auflösung mündet, deren Aussage nicht | |
über Gemeinplätze hinausgeht. Bei ihrer Abschlussprüfung klingt aus Paula | |
grandiose Musik, obwohl sie das, wie der Zuschauer dann weiß, gar nicht | |
dürfte. | |
Damit ist „The Ordinaries“ am Ende ein klares Plädoyer gegen jede Form der | |
Diskriminierung, das aber zu forciert daherkommt, um tatsächlich zu | |
berühren. Letztlich ist man so doch bei einer simplen Wohlfühl-Variante von | |
Max Stirners eher offensiv-aufklärerischer Mahnung angelangt, die den | |
Einzelnen zu sehr aus der Verantwortung entlässt: Wir alle sind | |
Hauptfiguren. Auf dass uns nur niemand das Gegenteil einrede! | |
30 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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