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# taz.de -- Cohn-Bendit über Proteste in Frankreich: „Präsidentschaft in Tr…
> Schuld an den Protesten sei Macron mit seinem Hang zur Basta-Politik,
> sagt Daniel Cohn-Bendit. Dabei war er einst Fan des französischen
> Präsidenten.
Bild: Bleibt standhaft, aber zu welchem Preis? Emmanuel Macron
wochentaz: Daniel Cohn-Bendit, geht es [1][bei den Protesten in Frankreich]
wirklich nur um die Rente?
Daniel Cohn-Bendit: Nein. Was sich bei den Demonstrationen in Paris, in
allen großen Städten, diese Woche auch im Parlament zeigt, ist ein starkes
Unbehagen überhaupt – gegen Präsident Emmanuel Macron. 70 Prozent der
Franzosen sind gegen diese Reform. Und Macron zieht sein Ding
technokratisch trotzdem durch.
Wofür steht denn das Thema Rente? Sogar junge Menschen sind an den
Protesten innig beteiligt – dabei ist die Altersversorgung nicht gerade ein
jugendtypisches Anliegen.
Die Rente wird zur Fata Morgana. Mit einer Stimmung, die da sagt: Wenn ich
in Rente bin, das ist der Sozialismus, mein Sozialismus, Rente bedeutet
Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben. Endlich so leben können, wie ich
will. Und Macron, so wird es empfunden, raubt mir von dieser Vorstellung
zwei Jahre der „Freiheit“.
Aus deutscher Perspektive mutet es komisch an: Von 62 Jahren auf 64 Jahre –
hierzulande geht’s erst mit 67 in die volle Rente.
Die Auseinandersetzung ist nicht wirklich rational. Aber man kann sie
emotional total nachvollziehen. Gerade für Frauen, die den ganzen
Coronastress auch in ihren Familien überwiegend zu tragen hatten, ist es
eine Horrorvorstellung, zwei Jahre länger arbeiten zu müssen, da eh ihre
Renten niedriger sind als die der Männer. Es geht beim Thema Rente aber
ohnehin um eine inzwischen kollektive Wunschvorstellung: Wir wollen so
schnell wie möglich frei sein, und frei sein ist die Rente. Der Sozialismus
ist kein Projekt mehr, und der christliche Glaube, nach dem das eigentliche
Leben nach dem Tode anfängt, ist auch perdu. So ist die Rente ein
Freiheitsversprechen.
Rentendebatten gibt es auch in anderen Ländern – etwa in Deutschland. Warum
fällt der Protest in Frankreich so harsch aus?
Ein französischer Präsident – wie aktuell Emmanuel Macron – ist ein
republikanischer König. Die Franzosen brauchen einen „König“, um ihn, wenn
ihnen danach dünkt, köpfen zu können. Das war bei François Hollande der
Fall, bei Nicolas Sarkozy und Charles de Gaulle, links oder rechts: Das ist
immer so.
Was ist bei Macron politisch schiefgelaufen?
Macron und seine Regierung haben die Stimmung in der französischen
Gesellschaft nicht gewittert. Sie hätten zuerst die Arbeitsverhältnisse
problematisieren müssen, auch über die geringeren Löhne sprechen und die
Unternehmen zwingen, die ältere Arbeiterschaft nicht nur als Kostenfaktoren
zu sehen – denn die Unternehmen wälzen auf die Allgemeinheit ihre Kosten
ab.
Im [2][TV-Gespräch vorigen Mittwoch] sprach Macron davon, dass er und seine
Regierung nicht einknicken werde.
Das war und ist eine sehr unglückliche Kommunikation, um das Mindeste zu
sagen. Er will standhaft bleiben, aber zu welchem Preis?
Das müssen Sie wissen. Sie haben sich für Emmanuel Macron auch schon vor
dessen erster Wahl eingesetzt, Sie zählten mit zu seinen Beratern und
gesuchten Gesprächspartnern. Hat er sich im Laufe der Jahre immer mehr
verändert?
Ich erlag der Faszination seiner Intelligenz und seiner anfänglichen
politischen Offenheit jenseits ideologischer Festlegungen. Er wollte weder
links noch rechts sein, sondern stand für eine europäisch gesinnte liberale
Demokratie. Leider ist er, meiner Meinung nach, der Versuchung der Fünften
Republik erlegen.
Was heißt das?
Der republikanische Präsident wird zum republikanischen König – und er
gefiel sich in dieser Rolle immer mehr. Und wollte immer weniger von Leuten
– wie mir oder auch anderen – intellektuell herausgefordert werden: Mein
Pochen auf ein Neudenken sozialökologischer Entscheidungsfähigkeit muss ihn
irgendwann genervt haben, er wollte ungestört seine von ihm definierte
Verortung beibehalten. Ihm war es egal, dass er nur noch als Präsident der
Wohlhabenden wahrgenommen wird.
Er war mal ein sehr populärer, hoffnungsstiftender Präsident. Nun liegt
seine Präsidentschaft in Trümmern – dabei hat er noch fünf Jahre Amtszeit,
und [3][das ohne parlamentarische Mehrheit].
Macron hat zweimal die Präsidentschaftswahl gewonnen, ja, aber er hat dies
gegen die Rechtspopulisten von Marine Le Pen geschafft. In den ersten
Wahlgängen, 2017 und 2022, hatte er lediglich gut ein Viertel der Stimmen.
Das ist die wirkliche Basis seiner Präsidentschaft: Dass die Wähler und
Wählerinnen viel mehr als ihn vor allem Marine Le Pen nicht wollten.
Die letzten Jahre Emmanuel Macrons bis 2027 – wie sollen die bei fehlender
parlamentarischer Mehrheit seiner Partei funktionieren?
Nicht nur die Präsidentschaft Macrons liegt in Trümmern, sondern die
gesamte Architektur der Fünften Republik samt ihres Wahlsystems.
Inwiefern?
Es gilt auf nationaler Ebene, und auf die kommt es an, das
Mehrheitswahlrecht, the winner takes it all. Nicht wie in Deutschland das
Verhältniswahlrecht, wo normalerweise keine Partei die absolute Mehrheit
gewinnt – und man immer auf Kompromisse setzen muss. In Frankreich ist der
Begriff Kompromiss gleichbedeutend mit „kompromittieren“.
Emmanuel Macron gilt als Technokrat, als ein Präsident, der die
gesellschaftliche Stimmung nicht wahrnimmt.
Ich verstehe ihn nicht. Er geht nicht in den Austausch, er weiß selbst
immer am besten, was richtig ist, was gut ist und zu gelten hat. Dieses
Technokratische, das sich in Sätzen artikuliert wie „Ich habe
durchgerechnet“, „Ich habe recht“, „Ich weiß, wie das geht“, das mac…
Menschen aber aggressiv. Er hatte einerseits verstanden, damals, als er
Präsident wurde, dass man anders Politik machen kann und sollte. Aber
gleichzeitig hat er den Hang zur Basta-Politik Gerhard Schröders.
Er wirkt abgehoben, heißt es in französischen Medien.
Jeder französische Staatspräsident ist abgehoben. Das ist die Institution
selbst, die Präsidentschaft, das verlangt die Wählerschaft: Frankreich will
einen abgehobenen Präsidenten. Einer wie François Hollande, der sagt, ich
will ein normaler Präsident sein, ist krachend gescheitert. Der Präsident
ist der König, den es nicht mehr gibt – und der Élysée-Palast ist das
Schloss. Aber das Volk, wenn man so will, möchte, dass er mitbekommt, wie
ein normaler Bürger lebt und was ihn oder sie sorgt. Die Proteste jetzt
richten sich auch an Macron: Wir sind in Not, lass uns nicht im Stich.
Zweimal ist Marine Le Pen Macron in den Stichwahlen unterlegen – müssen wir
sie und ihre Rechtspopulisten beim nächsten Mal als siegreich befürchten?
Ja, das kann so sein. Sie bleibt jetzt im Streit um die Rente ganz kühl,
ruhig – sodass sie fast wie eine Moderatorin, jedenfalls nicht wie eine
Aufheizerin wirkt. Das bringt ihr im Hinblick auf die nächsten
Präsidentschaftswahlen viel Kapital. Die Mehrheit der Franzosen und
Französinnen will keine Revolution, kein Chaos. Sondern Ruhe und Schutz.
Und die Linke, die sich im Parlament am lautstärksten als Stimme des
Protests hervortut?
Sie hat keine Chance, null. Von ihr gehen keine good vibrations aus, im
Gegenteil. Es ist vielfach Geschrei. Sie ist deshalb so vernehmlich, weil
sie mit den Protesten ihre eigene Wählerschaft mobilisiert – aber Jean-Luc
Mélenchon ist nicht mehrheitsfähig. In einer Stichwahl mit Le Pen würde er
krass verlieren.
Linker Protest wie im Mai 1968, an dem Sie maßgeblich beteiligt waren, hat
doch ein ganzes Land aufgerüttelt.
Das war eine andere Zeit. Die 68er-Proteste gegen Charles de Gaulle waren
ein mächtiger Aufstand für die Modernisierung des Landes – Frankreich hatte
bis dahin das größte Wirtschaftswachstum seiner Geschichte erlebt, mit
massivem Anwachsen des Lebensstandards aller. Der revolutionäre Protest war
zu Ende, als nach dem Generalstreik die Gewerkschaften mit der Regierung
und dem Präsidenten eine riesige und nötige Anhebung der Löhne und eine
Modernisierung der Sozialpartnerschaft verabredeten. Übrig blieb bis heute
eine positive Vorstellung, ja Utopie eines anderen Lebens.
Was wäre zu tun, um eine Machtübernahme der Rechtspopulisten 2027 zu
verhindern?
Es muss eine Alternative her, eine sozialökologische.
Und eine zum grassierenden Rassismus.
Es reicht nicht, nur gegen rechts zu sein und gegen Rassismus. Gegen die
allgemeine Verunsicherung braucht es einen positiven Entwurf, der nicht nur
von Aufruhr und Kampf träumt, sondern die Angst vor der Zukunft lindert.
Einer der jetzigen Anführer der reformistischen Gewerkschaften, Laurent
Berger, wäre ein Kandidat für eine linke und liberale Alternative zu Le
Pen. Aber er will nicht in die Politik – auch er will in Rente gehen und
seine Freiheit genießen.
25 Mar 2023
## LINKS
[1] /Massenproteste-in-Frankreich/!5920477
[2] /Streit-um-Rentenreform-in-Frankreich/!5920324
[3] /Parlamentswahlen-in-Frankreich/!5859486
## AUTOREN
Jan Feddersen
Daniel Cohn-Bendit
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