| # taz.de -- Streiks in Deutschland und Frankreich: Den Kapitalismus umkippen | |
| > Streiks machen Schlagzeilen in Deutschland wie in Frankreich. Doch | |
| > Tradition, Funktion und die Ziele könnten kaum unterschiedlicher sein. | |
| Bild: Der revolutionäre Geist von Streiks: ein Mythos | |
| Seit Anfang März sind die Straßen in mehreren Städten Frankreichs mit Müll | |
| übersät, Berge von Müllsäcken türmen sich mit ihrem Gestank auf, nach | |
| Angaben der Pariser Stadtverwaltung liegen mittlerweile fast 10.000 Tonnen | |
| nicht abgeholter Müll in der französischen Hauptstadt. Der Streik bei der | |
| Müllabfuhr ist Teil der aktuellen Proteste gegen die Rentenreform. In | |
| Deutschland höre ich häufig, dass Frankreich bei sozialen Protesten einen | |
| Vorsprung hätte und dass in meiner alten Heimat der Geist der Revolution | |
| noch herrschen würde. | |
| Nun möchte ich mit diesem Mythos aufräumen. Um zu verstehen, warum | |
| [1][Streiks und Demonstrationen in Frankreich] nicht wirklich einem | |
| „revolutionären Geist“ folgen, müssen wir uns anschauen, wie Gewerkschaft… | |
| im Unterschied zu Deutschland funktionieren und wie außerdem das | |
| präsidentiell-parlamentarische Regierungssystem in Frankreich mitunter | |
| einer „präsidentiellen Monarchie“ ähnelt. | |
| Zweifellos sind sowohl in Deutschland als in Frankreich Gewerkschaften | |
| legitime Organe zur Vertretung der Interessen von Arbeitnehmer:innen. | |
| Hinsichtlich der Organisationsformen wie auch der Ziele und Vorgehensweisen | |
| unterscheidet sich die Gewerkschaftsarbeit in den zwei Ländern. Der | |
| Politologe René Lasserre beschreibt in einer [2][Essaysammlung] die | |
| Entstehung und Methoden der Gewerkschaften auf beiden Seiten des Rheins. | |
| Der Kontrast sei so groß, dass man in vielerlei Hinsicht sagen könnte, dass | |
| es sich eigentlich um zwei gegensätzliche Modelle handelt. | |
| Seit ihren Ursprüngen am Ende des 19. Jahrhunderts steht die französische | |
| Gewerkschaftsbewegung unter dem Zeichen des Pluralismus: zum einen der | |
| Organisationsformen, darunter Berufssyndikalismus und | |
| Industriesyndikalismus; zum anderen der Ideologien, darunter | |
| Anarchist:innen, Marxist:innen, Sozialist:innen und | |
| Christ:innen. Die Folge der Zerstrittenheit unter den Gruppen waren | |
| zahlenmäßig schwache Organisationen. | |
| ## Wenig kompromissbereit | |
| Laut einer vom französischen Arbeitsministerium veröffentlichten | |
| [3][Studie] lag im Jahr 2019 der gewerkschaftliche Organisationsgrad | |
| insgesamt – im öffentlichen und privaten Sektor zusammen – bei 10,3 | |
| Prozent. In gewisser Weise sind französische Gewerkschaften eine | |
| Minderheitsbewegung. | |
| Dazu kommt nun der vielleicht wichtigste Punkt: Der Syndikalismus in | |
| Frankreich ist stark geprägt von einer Tradition des Protests gegen die | |
| soziale Ordnung. Im Grunde sind französische Gewerkschaften nicht so sehr | |
| ein Mittel zur Verteidigung der Interessen der Arbeiter:innen, sondern sie | |
| verstehen sich vielmehr als Instrument zur Umgestaltung des | |
| kapitalistischen Systems. | |
| Obwohl sich heute die Gewerkschaften in der Grande Nation nicht mehr auf | |
| den revolutionären Syndikalismus der direkten Aktion berufen würden, | |
| sondern sich in vielfältiger Form am wirtschaftlichen und sozialen Leben | |
| beteiligen, bleiben sie dem sozialen Dialog gegenüber misstrauisch. Sie | |
| sind weitgehend auf Konfrontation eingestellt, anstatt auf Engagement oder | |
| Teilhabe, die ihre Autonomie einschränken könnte. | |
| Insbesondere lehnen sie jede Form der Zusammenarbeit mit den | |
| Arbeitgeber:innen oder dem Staat ab, auch wenn diese Zusammenarbeit | |
| konstruktiv sein könnte. Das zeigt sich auch darin, dass in Frankreich die | |
| meisten Beamt:innen streiken dürfen. Im Gegensatz dazu haben sich die | |
| deutschen Gewerkschaften im Zuge der Sozialdemokratie von Anfang an als | |
| eine relativ homogene Massenbewegung entwickelt. | |
| ## Fatale Rivalitäten | |
| Nach der Aufhebung des Bismarck’schen Verbots im Jahr 1890 und infolge der | |
| Industrialisierung Deutschlands bevorzugte man die moderne Form der | |
| Industriegewerkschaft. Ab 1914 wurden mächtige und effiziente | |
| Organisationen gegründet. Und nun kommt der vielleicht wichtigste Punkt: Am | |
| Ende der Weimarer Republik und während der großen Wirtschaftskrise der | |
| dreißiger Jahre führten Meinungsverschiedenheiten zwischen | |
| Sozialdemokrat:innen und Kommunist:innen sowie die Rivalitäten | |
| mit den christlichen Gewerkschaften zu einer Schwächung der | |
| Gewerkschaftsbewegung und schließlich zu ihrer Kapitulation vor den Nazis. | |
| Wie so oft zog Deutschland dann die Lehre aus der Geschichte: Nie wieder | |
| schwache Gewerkschaften, die vor dem Staat kapitulieren. So wurde in der | |
| Nachkriegszeit die Gewerkschaftsbewegung auf der Grundlage der | |
| parteipolitischen Neutralität wiederaufgebaut. Es entstand eine quasi | |
| einheitliche Gewerkschaftsbewegung, in der ein großer Mehrheitsverband, der | |
| DGB, heute [4][knapp 6 Millionen Mitglieder] vereint. Die Tendenz ist | |
| sinkend, trotzdem liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad insgesamt | |
| in Deutschland entscheidend höher als in Frankreich. | |
| Während deutsche Gewerkschaften nun versuchen, die unmittelbare Lage der | |
| Arbeiter:innen durch Tarifverhandlungen im Rahmen der bestehenden | |
| Gesellschaft zu verbessern, lehnen die französischen Gewerkschaften | |
| Kompromisse im Namen einer utopischen Zukunft ab. Wer will, mag hier den | |
| revolutionären Geist Frankreichs spüren, in der Sache ist das aber eher | |
| kontraproduktiv. | |
| Die Schwäche der Gewerkschaften in Frankreich, ihr Widerwille, Kompromisse | |
| einzugehen und damit einhergehende Verpflichtungen anzunehmen, hindert sie | |
| daran, eine reale soziale Aufgabe zu übernehmen. Dem Dialog abgeneigt, | |
| stellen sie den Konflikt in den Vordergrund: Mit Demonstrationen und | |
| Generalstreiks wollen sie den Kapitalismus zum Kippen bringen. Die | |
| deutschen Gewerkschaften sind da realistischer. So ist es kein Zufall, dass | |
| die wirtschaftliche und industrielle Situation Frankreichs heute so | |
| miserabel ausschaut. | |
| ## Streik als letztes Mittel | |
| Während die deutsche Wirtschaft ihr Wachstumsmodell auf die | |
| Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und den Export stützt, setzt die | |
| Wirtschaftspolitik in Frankreich auf den Konsum und die Kaufkraft der | |
| Haushalte. Der Politikwissenschaftler [5][Felix Syrovatka] hält das für den | |
| Grund, warum die Deutschen die Rentenreformen besser akzeptiert hätten. | |
| Weil für eine Wirtschaft, die auf der Wettbewerbsfähigkeit von Exporten | |
| beruht, die Senkung der Lohnkosten wichtiger sei als der Erhalt der | |
| Kaufkraft der Rentner:innen. | |
| Aber könnte der starke Rückgang der Industrie in den letzten zwanzig Jahren | |
| in Frankreich auch auf die Vorgehensweise der Gewerkschaften zurückzuführen | |
| sein? Regelmäßig wird das Land ja für Tage, Wochen oder Monate buchstäblich | |
| blockiert. Wir erinnern uns an die [6][Gelbwesten-Bewegung]: Drei Jahre | |
| später ist es wieder so weit. Wieder wird das öffentliche Leben in | |
| Frankreich durch landesweite Proteste eingeschränkt – diesmal gegen die | |
| Rentenreform. | |
| Stilllegung der wichtigsten Raffinerien, Streik der Müllabfuhr, Ausfälle im | |
| Zug- und Flugverkehr, Streik an Schulen, Demonstrationen mit | |
| Ausschreitungen und Zusammenstößen mit der Polizei, Bushaltestellen | |
| verwüstet und Mülltonnen angezündet – womit das erwähnte Abfallproblem | |
| teilweise gelöst ist. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die | |
| französischen Gewerkschaftsführungen in Wirklichkeit wenig | |
| Gestaltungsfreiraum haben. | |
| In Deutschland ist [7][ein Streik] nur das letzte Mittel – in Frankreich | |
| ist er gewissermaßen eine Vorstufe zu jeglichen Verhandlungen. Gemäß René | |
| Lasserre ist die Abneigung gegen den sozialen Dialog in Frankreich nicht | |
| nur auf die Gewerkschaften zurückzuführen, sondern sie wird auch von einem | |
| nicht unerheblichen Teil der Arbeitgeber:innen geteilt, insbesondere | |
| in den kleinen und mittleren Unternehmen. Dies bleibt nicht ohne Folgen. | |
| Denn das erfordert das ständige Eingreifen des Staates, der in der Tat der | |
| eigentliche Regulierer und Schiedsrichter der gesellschaftlichen | |
| Verhältnisse ist. | |
| Am Parlament vorbei | |
| Anders als in Deutschland, wo sich der Staat auf die Festlegung von | |
| Mindestarbeitsbedingungen beschränkt, greift der Staat in Frankreich in | |
| vielfältiger Weise in die vertraglichen Beziehungen ein und verabschiedet | |
| Gesetze zu allen wesentlichen Bereichen des Arbeitslebens. Ironischerweise | |
| führt der sogenannte revolutionäre Geist in Frankreich also dazu, dass | |
| Gewerkschaften und Unternehmen auf den Staat angewiesen sind, um den | |
| sozialen Fortschritt zu sichern. | |
| Schließlich kommt ein letzter, wichtiger Punkt dazu: Die französische | |
| Regierung kann Gesetzestexte am Parlament vorbei verabschieden. Wenn sie | |
| nicht über eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verfügt, kann | |
| die Regierung den Absatz 49.3 der Verfassung herausholen, ihren Joker, um | |
| die direkte Verabschiedung des Gesetzesvorhabens ohne parlamentarisch | |
| Abstimmung durchzubringen. Genau das tut Emmanuel Macron, um die | |
| Rentenreform durchzusetzen. | |
| Wenn der Regierungschef dieses Verfahren einleitet, haben die Abgeordneten | |
| nur noch die Möglichkeit, innerhalb von 24 Stunden ein Misstrauensvotum zu | |
| beantragen. Ein solcher Vorstoß des rechtsnationalen Rassemblement National | |
| (RN) scheiterte in der Nationalversammlung knapp. Elf Mal schon kam im | |
| Kabinett von [8][Élisabeth Borne] der Artikel 49.3 zur Anwendung, in nicht | |
| einmal einem Jahr – und hundert Mal seit Beginn der Fünften Republik. | |
| Einige sagen sarkastisch, dass in Marseille die Mülltonnen auch ohne Streik | |
| überlaufen. Die sozialen Proteste in Frankreich sind nicht nur eine | |
| revolutionäre Form der demokratischen Teilhabe. Sie sind auch und vor allem | |
| eine unglückliche und erzwungene Form aufgrund der gewerkschaftlichen | |
| Tradition des Protests gegen die soziale Ordnung auf der einen Seite und | |
| des Regierungssystems auf der anderen Seite, in dem der Präsident Gesetze | |
| am Parlament vorbei durchsetzen kann, womit er allerdings stets den Zorn | |
| der Bevölkerung riskiert. Schon rufen die Gewerkschaften für den 6. April | |
| erneut zum großen Streiktag auf. | |
| 1 Apr 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Massenproteste-in-Frankreich/!5920477 | |
| [2] https://www.actes-sud.fr/node/15117 | |
| [3] https://dares.travail-emploi.gouv.fr/donnees/la-syndicalisation | |
| [4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/3266/umfrage/mitgliedszahlen… | |
| [5] https://www.lemonde.fr/en/opinion/article/2023/03/04/french-pension-reform-… | |
| [6] /Ein-Jahr-Gelbwesten/!5640100 | |
| [7] /Streik-in-Deutschland/!5922010 | |
| [8] /Neue-Regierungschefin-in-Frankreich/!5855447 | |
| ## AUTOREN | |
| Jayrôme C. Robinet | |
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