| # taz.de -- LNG-Terminals in Deutschland: Rügen gegen RWE | |
| > Ein großes LNG-Terminal soll vor Rügen gebaut werden. Die Insel wehrt | |
| > sich. Ob das Terminal für die Gasversorgung benötigt wird, ist | |
| > umstritten. | |
| Bild: Ein LNG-Tanker und eine schwimmende Arbeitsplattform von RWE vor dem Osts… | |
| Binz taz | Nachts kann man es hören, dieses dumpfe Brummen. Wenn die | |
| Lichter an der Binzer Strandpromenade erloschen sind und das größte Seebad | |
| Rügens vor sich hin schlummert. Wer das Brummen sucht, muss raus aufs Meer. | |
| Auf der Seebrücke, wo einem der Wind mit Wucht ins Gesicht peitscht und die | |
| dunkle Ostsee wogt, ist es unüberhörbar. Für die Menschen auf der Insel ist | |
| das Brummen eine böse Vorahnung, was bald sein könnte. | |
| Am Samstagmorgen, dem 11. März, ist es still. Der Westwind hat den Himmel | |
| blau gefärbt. Nun sieht man, was letzte Nacht zu hören war. Fünf Schiffe | |
| haben wenige Kilometer vor Binz Anker geworfen. „Was wollen die Schiffe | |
| hier?“, wundert sich ein junges Paar am Strand. In diesen Tagen wird über | |
| kein anderes Thema auf der Insel gesprochen. | |
| Auf dem Rumpf der Schiffe steht in weißer Schrift „LNG“ – verflüssigtes | |
| Erdgas für die Energieversorgung. Ganz Deutschland diskutiert über Gas, | |
| hier kommt es an. Sie liefern es zu einem Terminal ins nahegelegene Lubmin, | |
| am Festland. | |
| Das Brummen ist nur der Anfang. In knapp zwei Monaten wird der | |
| Energiekonzern RWE auf die Insel kommen – mit Bohrplattformen, | |
| Schwimmbaggern und Verlegeschiffen. Sie kommen im Auftrag der | |
| Bundesregierung und werden das größte fossile Projekt Europas bauen: ein | |
| [1][LNG-Terminal für Rügen]. Im Meer, knapp fünf Kilometer vor den | |
| Sandstränden der Seebäder, soll es stehen. Von dort soll eine 38 Kilometer | |
| lange Pipeline nach Lubmin verlegt werden, wo das Gasnetz sich in den Rest | |
| der Republik erstreckt. | |
| Auf dem Binzer Kurplatz organisiert sich an diesem Samstag der | |
| [2][Widerstand]. 33 Bürgermeister:innen der Insel, die Gemeinden, | |
| Umweltverbände, Bürgerinitiativen – alle sind gemeinsam gegen den Bau. So | |
| eine Allianz gab es hier noch nie. Es ist noch früh, Kisten mit Aperol | |
| werden in die aufgestellten Buden geschleppt und Plakate bemalt. Rügen | |
| macht mobil. Unter dem Namen „Widerklang“ läuft das ganze Wochenende ein | |
| Festival. In wenigen Tagen organisierte die Gemeinde Reden, Musik, Flyer, | |
| rote „Kein LNG“-Mützen und eine Bundestagspetition. | |
| Den ganzen Tag kommen Menschen zu einem kleinen Stand an der Promenade. | |
| Dort liegen Bögen bereit, um die Petition zu unterschreiben. Eine | |
| juristische Lücke macht ihnen Hoffnung. Im LNG-Beschleunigungsgesetz der | |
| Ampelkoalition steht bislang nur der Standort Lubmin, von Rügen ist keine | |
| Rede. Das muss vom Parlament geändert werden, bevor RWE bauen kann. Gegen | |
| diese mögliche Änderung läuft die [3][Petition]. 50.000 Unterschriften | |
| braucht es, um vor dem Petitionsausschuss des Bundestags gehört zu werden. | |
| Knapp 10.000 haben sie, zwei Wochen verbleiben: Die Zeit drängt. | |
| Auch hinter der Festivalbühne kann man die LNG-Tanker sehen. Karsten | |
| Schneider, 59, blickt aufs Meer und sagt, ein paar Zwei- oder Dreimaster | |
| wären ihm lieber. Der Bürgermeister von Binz ist groß gewachsen, fester | |
| Händedruck, tiefe Stimme. Vermutlich braucht man die hier. Sonst hört einen | |
| niemand gegen den ganzen Wind. Seit fast 12 Jahren ist Schneider nun im | |
| Amt. | |
| Mit seinen goldverzierten weißen Villen wirkt Binz entweder zeitlos oder | |
| aus der Zeit gefallen. Nur 6.000 Menschen leben hier, bei | |
| Quadratmeterpreisen von bis zu 20.000 Euro versteht man, wieso. Es lebt | |
| sich ruhig hier, sagt Schneider. Vor zwei Monaten änderte sich das. | |
| Im Januar 2023 bekommt Karsten Schneider eine Mail von RWE mit der Bitte um | |
| ein Treffen. Schneider hatte zuvor noch nie mit dem deutschen | |
| Energiekonzern zu tun. Er macht zusammen mit seinem Stellvertreter und | |
| Kurdirektor Kai Gardeja einen Termin für die folgende Woche. Schneider | |
| erinnert sich genau. Am 24. Januar, einem Dienstag, um 10 Uhr, treffen | |
| Gardeja und er eine internationale Delegation von RWE in der Kurverwaltung. | |
| Sie kommen im Auftrag der Bundesregierung und haben eine Präsentation | |
| vorbereitet. | |
| Es geht schnell, sie erzählen von „einem Anlegetower für ein „FSRU-Schiff… | |
| vor Sellin im Südosten Rügens. Diese Spezialschiffe können flüssiges LNG | |
| aufnehmen, erwärmen und in Gas umwandeln. Sie sind knapp 300 Meter lang und | |
| 50 Meter hoch. Nach einer halben Stunde sind es schon zwei Anlegetower und | |
| vier Schiffe. Eine Stunde später spricht RWE über eine mögliche dritte | |
| Plattform. | |
| RWE ist nicht mit Fragen, sondern mit Antworten gekommen. Eine 38 Kilometer | |
| lange Pipeline soll das umgewandelte Gas aufs Festland nach Lubmin pumpen. | |
| Laut den Anträgen soll die Industrieanlage vor Rügen eine Kapazität von 38 | |
| Milliarden Kubikmeter Gas jährlich haben. Eine vergleichbar große Anlage | |
| gibt es in Europa nicht. Das Terminal in Lubmin schlägt aktuell nur 4,5 | |
| Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr um. | |
| Nach dreißig Folien ist es vorbei. Der Bürgermeister und sein Kurdirektor | |
| schauen sich an. Gardeja hatte Wuttränen in den Augen. Schneider sagt, er | |
| habe sich selten so erschrocken. Wie ein „Postmann, der ein Paket | |
| vorbeibringt“, sei RWE gekommen und habe ihnen das [4][größte fossile | |
| Bauvorhaben] Europas vor die Tür gesetzt. | |
| Als RWE dieselbe Präsentation später der Nachbargemeinde Baabe zeigte, | |
| haben sie scheinbar einige Zahlen geändert, erzählt Schneider. „Die wollen | |
| uns hier was unterjubeln“, sagt er und lehnt sich in seinem Sessel nach | |
| vorne. „Wir haben hier vier der fünf Ostseebäder, und davor wollen Bundes- | |
| und Landesregierung ein LNG-Terminal setzen?“ Schneider macht eine Pause, | |
| „man baut doch auch keine zehngeschossige Toilette vor den Bundestag“. | |
| Mitte Februar hat RWE die Dokumente für die Pipeline vorlegt, am 15. Mai | |
| wollen sie anfangen zu bauen. | |
| Es ist Mittag, und der Kurplatz hat sich inzwischen mit einigen hundert | |
| Menschen gefüllt. 3.500 Menschen kamen an diesem Samstag im März insgesamt, | |
| gibt die Gemeinde später bekannt. Manche haben Plakate vorbereitet. Der | |
| Bürgermeister ist noch nicht da, auf der Bühne liegt ein Mikrofon bereit. | |
| Stefanie Dobelstein, 48, macht den Anfang. Sie ist Sprecherin der | |
| Bürgerinitiative „Lebenswertes Rügen“. „Ein großer Teil von Rügens | |
| Bevölkerung ist nur noch fassungslos über das Ausmaß der geplanten | |
| Industrialisierung“, sagt sie. „Ausgerechnet vor der von unseren Gästen | |
| geliebten Bäderküste“. | |
| Die ganze Insel lebt vom Tourismus. Wenn die Betten leer blieben, wäre das | |
| eine finanzielle Katastrophe. „Wer kommt noch nach Rügen, um auf eine | |
| Industrieanlage zu gucken?“, fragt sich Dobelstein. Gemeinsam mit den | |
| Umweltorganisationen Nabu und WWF warnt die 48-Jährige vor unabsehbaren | |
| Folgen für Natur und Klima. Die geplante Pipeline soll durch den | |
| Greifswalder Bodden laufen, ein Natur-, Meeres- und Vogelschutzgebiet. | |
| Außerdem ziehen die ohnehin bedrohten Heringsschwärme zum Laichen durch das | |
| Baugebiet. | |
| Die Pipeline ist inzwischen im Genehmigungsverfahren. Knapp 600 | |
| Einwendungen gab es von Privatpersonen und Umweltverbänden. Das Bauamt | |
| Stralsund prüft diese nun. Manche munkeln, das Ding sei schon durch. Denn | |
| der Bund würde wohl kaum 38 Kilometer Pipeline bauen lassen, die vor Rügen | |
| ins Nichts läuft. Der kalte Wind knickt Dobelsteins Notizen in ihrer Hand | |
| um, sie stockt kurz. Stefanie Dobelstein ist eigentlich Grundschullehrerin, | |
| doch seit Kurzem auch Energieexpertin. Sie organisiert Demos, gibt | |
| Interviews und ist täglich in Kontakt mit Umweltverbänden. Auch sie hat | |
| eine Einwendung gegen den Pipelinebau geschrieben. Tausend Seiten | |
| Genehmigungsunterlagen, eine Woche Zeit. Manchmal fühlt sie sich wie im | |
| Schleudersitz. „Mit solchen beschleunigten Fristen schaffen wir unseren | |
| Rechtsstaat ab“, sagt Dobelstein. Nachts hat sie ihre Einwendung | |
| geschrieben, anders ging es nicht. Nach der Rede sagt sie: „Wenn ich schon | |
| nicht die Welt retten kann, dann wenigstens die Insel.“ | |
| Kurdirektor Kai Gardeja steht hinten in der Menge und hört aufmerksam zu. | |
| Er trägt eine dieser roten „Kein LNG“-Mützen, die es hier zu kaufen gibt, | |
| und hat auf seine Fragen keine Antworten bekommen, weder vom Bund noch von | |
| RWE. Zum einen ist da das Chlor. Für den Wärmeaustausch sollen die | |
| Regasifizierungsschiffe die Chemikalie zurück ins Meer leiten. Gardeja hat | |
| es in den Antragsunterlagen gelesen. Von [5][Flüssiggas] hatte Gardeja, | |
| bevor RWE kam, keine Ahnung. Er hat das Thema „volley genommen“, sich | |
| reingestürzt, sagt er. | |
| Der Bürgermeister eilt auf die Bühne. Er war noch auf einem | |
| Frühjahrsempfang in Putbus und stellt sich kurz vor, obwohl ihn hier alle | |
| kennen. Notizen hat er keine. „LNG – leider nicht geil“, hat Schneider auf | |
| der letzten Demonstration gesagt. Heute ergänzt er: „LNG – lieber nicht | |
| genehmigen“, und gibt das Mikrofon weiter. | |
| Widerstand gegen Energieinfrastruktur ist nicht neu in Deutschland. Auf | |
| Borkum will man die Offshore-Energieparks nicht, bayerische Gemeinden | |
| protestieren gegen die Abschaffung des Mindestabstands von Windrädern. Nun | |
| will Rügen nicht auf Schiffe gucken. Auch alternative Standorte für das | |
| Terminal wie den Industriehafen Mukran oder eine größere Entfernung zur | |
| Küste wollen die Bürgermeister:innen der Insel nicht. Entzieht man | |
| sich der gesellschaftlichen Verantwortung angesichts der Energiekrise, die | |
| durch den Ukrainekrieg ausgelöst wurde? | |
| Als es auf der Bühne um den Krieg geht, gibt es Zwischenrufe: „Wir leiden | |
| hier doch auch“. Dobelstein zieht die Augenbrauen hoch. Es sei der | |
| Bevölkerung nicht so leicht zu vermitteln, wieso das Gas nun teuer | |
| eingekauft wird, wenn man es doch vorher so günstig aus Russland bekam, | |
| erklärt Schneider im Gespräch. Wer mit den Menschen hier spricht, versteht, | |
| was er meint. Den Nord-Stream-Pipelines trauern einige Demonstranten | |
| hinterher. Die Angst vor dem kalten Winter haben viele vergessen. | |
| Dabei plante der Bund den Ausbau der Flüssiggas-Infrastruktur letztes Jahr | |
| in großer Dringlichkeit. Über die Hälfte des russischen Importgases brach | |
| nach Beginn des Angriffskrieges in der Ukraine weg. Noch im Juni 2022 | |
| forderte Schneider, gemeinsam mit weiteren Bürgermeistern der Insel, die | |
| Regierung auf, Nord Stream 2 offen zu lassen und mit Russland einen | |
| „diplomatischen Weg“ zu finden. Dafür gab es bundesweit wenig Beifall, | |
| außer von der AfD. Heute würde er das so nicht wieder machen, sagt er. Die | |
| Dauer des Krieges habe er unterschätzt, und Nord Stream sei ohnehin | |
| zerstört. | |
| Doch wie viel Energie Deutschland für den nächsten Winter 2023/24 braucht, | |
| ist umstritten. Nach dem ersten Winter ohne russisches Gas sind die | |
| Speicher so voll wie seit zehn Jahren nicht. Ein Bericht vom | |
| Bundeswirtschaftsministerium besagt, man habe den Energiebedarf mit den neu | |
| errichteten schwimmenden LNG-Terminals in Lubmin und Wilhelmshaven längst | |
| abgedeckt. | |
| Trotzdem will Deutschland die LNG-Kapazitäten vervielfachen und sich bis | |
| 2030 54 Milliarden Kubikmeter Gas liefern lassen, von denen 34,4 Milliarden | |
| gar nicht benötigt werden. Habecks Ministerium rechtfertigt das mit Risiken | |
| durch „Havarien, Sabotage oder andere exogene Ereignisse“. Das Deutsche | |
| Institut für Wirtschaftsforschung rechnete Habecks Zahlen durch und | |
| erklärte kürzlich den Bau fester LNG-Häfen an Nord- und Ostsee für unnötig. | |
| Auch bei der Kostenplanung zeigt Habecks Ministerium Rechenschwäche. Schon | |
| jetzt werden die LNG-Bauvorhaben um 1,6 Milliarden teurer als gedacht. Das | |
| Finanzministerium will das Flüssiggas-Budget nun auf insgesamt 10,5 | |
| Milliarden Euro anheben. Im Hintergrund soll der Kanzler Druck machen. | |
| ## Sorge vor Rechtsruck auf der Insel | |
| Zwanzig Jahre Betriebszeit, zum Großteil durch schmutziges Fracking-Gas aus | |
| den USA beliefert: Was der Ausbau der fossilen LNG-Terminals für | |
| Deutschlands Klimaziele heißt, weiß niemand so genau. Das letzte Wort hat | |
| der Bundeskanzler. Die Bürgermeister:innen der Insel haben Scholz und | |
| Wirtschaftsminister Habeck mehrere Briefe und Mails geschrieben. Bis heute | |
| haben sie keine Antwort bekommen. | |
| Auf der Bühne vor dem Hotel gehen die Reden weiter. Rügen sei ein „Schatz�… | |
| den man bewahren müsse, der „Inbegriff heiler Natur“. Dieser | |
| Inselpatriotismus zieht auch Rechte an. 120 von ihnen stehen jetzt nur | |
| hundert Meter vom Kurplatz-Festival entfernt, vor einer kleinen Bühne vor | |
| dem Seebrückenplatz. Auch sie hatten für Samstag eine Demonstration | |
| angemeldet. Das Widerklang-Festival wurde in großer Eile als Gegenmaßnahme | |
| organisiert. Mit ihren „Kein LNG vor Rügen“-Plakaten würden sie in der | |
| benachbarten Menge vor dem Kurplatz nicht auffallen. Dort will man sie | |
| nicht haben, denn die Organisatoren planen die Montagsdemos auf der Insel. | |
| Ein bekannter Verschwörungstheoretiker soll eine Rede halten. Die Gemeinde | |
| hat eine Securityfirma beauftragt, damit diesmal alles gut geht. | |
| Denn bei der letzten Demo Ende Februar wurde man „unterwandert“, erzählt | |
| Kurdirektor Gardeja. In Baabe hatten knapp 2.500 Menschen gegen LNG | |
| protestiert. Ein Moderator und Bühnentechniker sollen versucht haben, | |
| rechte Redner auf die Bühne zu schleusen. Ein ehemaliger AfD-Politiker | |
| gelangte schließlich in einer offenen Diskussionsrunde ans Mikrofron. Man | |
| drehte ihm den Ton ab. Am Morgen danach sind Gardejas Autoreifen | |
| aufgeschlitzt. | |
| Wenn der Eindruck entsteht, „die da oben“ regieren über die Köpfe des | |
| „Volkes“ hinweg, befeuert das die Stimmanteile der Rechtspopulisten. Die | |
| Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern hält sich bedeckt. Das Zahlenchaos | |
| aus Berlin hilft auch nicht weiter, die Kommunikation vor Ort hat man RWE | |
| überlassen. | |
| Bürgermeister Schneider macht sich Sorgen um die Demokratie. „Wenn das | |
| LNG-Vorhaben durchgeht, erleben wir nächstes Jahr bei der Kommunalwahl | |
| unser blaues Wunder“, sagt er. 35 oder 40 Prozent würden dann aus Protest | |
| AfD wählen, befürchtet er. Knapp 20 Prozent tun das auf Rügen jetzt schon. | |
| Bei der rechten Demo heute sind auch Schneider und der Kurdirektor | |
| eingeladen. Sie werden nicht kommen. Schneider hat deshalb am Vorabend eine | |
| Mail bekommen, ob er noch in den Spiegel schauen könne. Wenn die beiden | |
| hier auftauchen, will man sie verprügeln, sagt ein Redner vor der | |
| Seebrücke. | |
| In der Hotellobby des Kurhotels, hundert Meter weiter, lehnt sich Schneider | |
| zurück in den Sessel. Er will sich nicht einschüchtern lassen. Manchmal | |
| fragt er sich, was das mit ihm innerlich macht, erzählt er. Eine Antwort | |
| hat er noch nicht gefunden. Heute bleibt es ruhig. Als der Bürgermeister | |
| das Kurhotel verlässt, ist der Seebrückenplatz wieder leer. | |
| Ein paar Tage später, um 3.30 Uhr in der Nacht von Montag auf Dienstag, | |
| steigen der Bürgermeister und sein Kurdirektor ins Auto und fahren los. | |
| Wenn Habeck und Scholz nicht zu ihnen kommen, fahren sie eben nach Berlin. | |
| Sie laden zum parlamentarischen Frühstück ein. Schneider hat mehrere | |
| Nachrichten von Bürger:innen bekommen. Eine davon wird er später den | |
| Abgeordneten vorlesen: „Lieber Karsten, mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr | |
| morgen nach Berlin fahrt, ich drücke, wie viele andere Binzer übrigens | |
| auch, ganz fest die Daumen!“ Schneider ist gerührt. | |
| 35 Abgeordnete sind gekommen. Mit so viel Interesse haben sie nicht | |
| gerechnet: Stühle werden dazu gerückt, das Frühstück reicht nicht. | |
| Kurdirektor Gardeja zeigt eine Darstellung der geplanten Industrieanlage. | |
| Einige SPD-Abgeordnete sind empört, die Schiffe seien viel zu groß | |
| abgebildet. Man kann sich nicht einigen. | |
| Viele Abgeordnete fühlen sich über die LNG-Pläne der Bundesregierung nicht | |
| ausreichend informiert, erzählt Schneider später am Telefon. Er stockt | |
| kurz, bekommt eine aktuelle Meldung angezeigt: „Ministerpräsidentin Manuela | |
| Schwesig verkündet, das LNG-Terminal vor Sellin auf Rügen sei keine | |
| Option“. Dabei hatte Umweltminister Meyer das Projekt bereits Mitte Februar | |
| vorgestellt. | |
| Dem NDR zufolge haben sich Habeck und Schwesig sogar schon letzten Sommer | |
| auf das Rügen-Terminal geeinigt. Nun fordert Schwesig zwei Monate vor | |
| Baubeginn, alternative Standorte wie den Rügener Industriehafen Mukran zu | |
| prüfen oder die Entfernung zur Küste zu vergrößern. Ein Sprecher von RWE | |
| reagiert am Telefon überrascht, will sich aber offiziell nicht dazu äußern. | |
| Ist die Rückwärtsrolle der Landesregierung dennoch ein großer Erfolg für | |
| die Insel? Schneider seufzt und sagt, die Champagnerflaschen werde man erst | |
| öffnen, wenn Scholz das Ding persönlich absage. Vor Schneider und seinen | |
| Mitstreitern liegt ein langer Weg. Er hat gehört, dass RWE seine Anwälte | |
| ausgetauscht hat. Auch die Gegner des LNG vor Rügen haben längst | |
| Verfahrensanwälte beauftragt. Man hätte es auch hinnehmen und sich über | |
| die Millionen an Ausgleichszahlung freuen können. Doch für den | |
| Bürgermeister und seinen Kurdirektor ist das keine Option: „Wir wollen | |
| nicht in die Geschichtsbücher eingehen als die, die nicht alles versucht | |
| haben, um das zu verhindern“. | |
| Eine Woche später, am Samstagmorgen, dem 18. März, bewegt sich etwas vor | |
| der Insel. RWE schifft die Bauplattform JB119 an die Stelle, wo später das | |
| Terminal stehen soll. Das sei „schweres Gerät, mit dem Probebohrungen | |
| durchgeführt werden können“, sagt Constantin Zerger von der Deutschen | |
| Umwelthilfe. | |
| Dabei läuft das Genehmigungsverfahren noch, erst vor zwei Tagen hat die | |
| Landesregierung dem Standort eine Absage erteilt. Werden hier Tatsachen | |
| geschaffen? Das Bergamt Stralsund sagt auf Anfrage, das Umweltministerium | |
| Mecklenburg-Vorpommern sei zuständig, Umweltminister Meyer sagt, er wisse | |
| von nichts. Das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Ostsee hat den Vorgang | |
| genehmigt. Ob es dafür eine Rechtsgrundlage gibt, bleibt bislang ungeklärt. | |
| Das „Deutschlandtempo“ vom Kanzler lässt keine Zeit zum Prüfen. | |
| Nur einen Tag später ist die Plattform wieder weg. RWE schreibt auf | |
| Anfrage, „die Erkundungsplattform sei nach ihren Erkundungen | |
| zurückgekehrt“, und widerspricht einer „Baumaßnahme“. Zerger vermutet, … | |
| die geplanten Arbeiten gar nicht durchgeführt wurden. Es sei | |
| offensichtlich, dass RWE eine solche Plattform nicht am Wochenende an den | |
| Bauplatz schickt, um einfach mal nachzugucken. „Sie sind offenbar | |
| zurückgepfiffen worden“, schreibt Zerger per Mail. Ob am 15. Mai trotz des | |
| Protests der Landesregierung gebaut wird, will RWE auf Anfrage nicht | |
| beantworten. | |
| Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kündigte am Mittwoch an, | |
| dass er den Hafen Mukran als Alternativstandort prüfen will. Aus | |
| Unternehmenskreisen bei RWE heißt es, dass Mukran bereits letzten Sommer | |
| für das Bundeswirtschaftsministerium geprüft wurde. Das Projekt sei dort in | |
| dem von Habeck gewünschten Zeitraum nicht realisierbar. Will Habeck sich | |
| also nur Zeit verschaffen, während RWE bereits seine Bagger und Bohrer auf | |
| Erkundungstouren schickt? Die Inselbewohner auf Rügen wird der Vorschlag | |
| des Bundeswirtschaftsministers jedenfalls nicht besänftigen. Denn das Klima | |
| und der Tourismus werden auch ein paar Kilometer weiter unter dem Terminal | |
| leiden. | |
| 23 Mar 2023 | |
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