# taz.de -- Wahlen in Estland: Zwischen Krieg und Inflation | |
> Die Partei der Regierungschefin liegt mit einem harten Kurs gegen Moskau | |
> vorn. Die russische Minderheit wollen andere Parteien für sich gewinnen. | |
Bild: Quo vadis Estland? Im Wahlkampf geht es auch um die Frage: pro-Europa ode… | |
TALLINN taz | In der estnischen Hauptstadt Tallinn ist Regierungschefin | |
Kaja Kallas dieser Tage präsenter denn je. „Ich verspreche, dass wir die | |
Unabhängigkeit und Freiheit Estlands niemals aufgeben werden“, steht auf | |
Plakaten, mit denen sie um die Gunst der Wähler*innen für die am Sonntag | |
stattfindenden Parlamentswahlen wirbt. | |
Dabei kann sich Kallas über mangelnde Beliebtheit nicht beklagen. Einer | |
aktuellen Umfrage des estnischen Consulting-Unternehmens Kantar Emor | |
zufolge wollen 40 Prozent der Wähler*innen die 45-Jährige, die seit 2021 | |
an der Spitze der Regierung steht, für weitere vier Jahre im Amt der | |
Ministerpräsidentin sehen – mit Abstand der höchste Wert aller | |
Spitzenkandidat*innen. | |
Doch ein Heimspiel dürfte die Parlamentswahl für Kallas trotzdem nicht | |
werden. Zwar scheint der Sieg ihrer Reformpartei offensichtlich zu sein, | |
was jedoch die Zusammensetzung der neuen Regierung angeht, stochern alle im | |
Nebel. | |
Insgesamt bewerben sich neun Parteien und zehn unabhängige | |
Kandidat*innen um die 101 Sitze im estnischen Parlament, genannt | |
Riigikogu. Als Wahlsiegerin wird die Reformpartei gehandelt, Anwärterin auf | |
den zweiten Platz mit prognostizierten Werten zwischen 14 und 22 Prozent | |
ist die rechtsnationalistische EKRE. Darüber hinaus dürften fünf weitere | |
Parteien die Fünfprozenthürde überwinden: Neben der Zentrumspartei, die von | |
2016 bis 2021 den Regierungschef stellte, sind dies die Sozialdemokraten | |
und die konservative Partei Isamaa (Vaterland) – seit einer | |
Regierungsumbildung im vergangenen Juli Kallas’ Juniorpartner im Kabinett. | |
Auch die 2018 gegründete liberale Gruppierung Eesti 200 (Estland 200) hat | |
gute Chancen, erstmals ins Parlament einzuziehen. | |
## Beherrschendes Wahlkampfthema: Der Krieg in der Ukraine | |
Die Est*innen konnten bereits seit Montag dieser Woche ihr Votum entweder | |
online oder in Wahllokalen abgeben. Bis zum Samstagabend hatten etwa 47 | |
Prozent der Wahlberechtigten von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht. | |
Eines der beherrschenden Themen des Wahlkampfes, der auch noch an diesem | |
Sonntag bis zur Schließung der Wahllokale um 20 Uhr Ortszeit weitergeht, | |
ist Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der baltische Staat, seit | |
2004 Mitglied der Nato, hat eine [1][284 Kilometer lange Grenze zu | |
Russland]. Von den rund 1,3 Millionen Einwohner*innen sprechen etwa 25 | |
Prozent Russisch als Muttersprache. Viele von ihnen sind keine estnischen | |
Staatsbürger*innen, sondern entweder staatenlos oder [2][haben die | |
russische Staatsbürgerschaft]. In der Grenzstadt Narva beispielsweise | |
trifft letzteres auf 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung zu. | |
Kallas ist eine der lautesten Stimmen in Europa, wenn es darum geht, | |
Russlands Feldzug gegen den Nachbarn zu verurteilen, sowie bei | |
Sanktionsverschärfungen und Waffenlieferungen Druck zu machen. Mit | |
Hilfsleistungen für die Ukraine in Höhe von etwas über einem Prozent des | |
BIP nimmt Estland einen Spitzenplatz ein. Schon kurz nach Kriegsbeginn | |
begann Tallinn Kyjiw Haubitzen, Munition sowie andere militärische | |
Ausrüstungsgegenstände zur Verfügung zu stellen. Zudem hat die Regierung | |
angekündigt, rund eine Milliarde Euro in die Aufrüstung der eigenen Armee | |
zu stecken. | |
Ginge es nach Lauri Hussar, Vorsitzender und Spitzenkandidat der Partei | |
„Eesti 200“, könnte es ruhig noch etwas mehr sein. „Wir haben Russland n… | |
unterschätzt und waren nie blauäugig. Aber jetzt ist eine reale Bedrohung | |
entstanden. Obwohl wir in der Nato sind, müssen wir alles für unsere | |
Sicherheit und Unabhängigkeit tun“, so Hussar gegenüber der taz. Der | |
Ukraine-Krieg berge jedoch auch eine Chance und könnte zu einer besseren | |
Integration der russischen Minderheit in die estnische Gesellschaft führen. | |
Schließlich fragten sich jetzt viele Russ*innen in Estland, wohin sie | |
gehörten. | |
## Angst vor der russischen Minderheit des Landes | |
Diesen Optimismus teilen nicht alle. Ängste vor einer wachsenden Bedrohung | |
durch Russland gehen einher mit einer gewissen Skepsis gegenüber | |
Angehörigen der russischen Minderheit. So brachte Kallas in dieser Woche | |
den Vorschlag ins Spiel, Russ*innen, die keinen estnischen Pass haben, aber | |
bis dato bei Kommunalwahlen abstimmen dürfen, dieses Recht für die Dauer | |
von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine zu entziehen. | |
Wie dünn das Eis ist, zeigten auch harte Auseinandersetzungen um einen | |
russischen, von ukrainischen Soldaten erbeuteten Panzer, der in dieser | |
Woche einige Tage lang auf dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum von Tallinn | |
ausgestellt worden war. Pläne, den Panzer auf eine Art Rundreise durch | |
Estland zu schicken, scheiterten am Widerstand der Gemeinden und wurden | |
verworfen. | |
Den Krieg in der Ukraine versucht sich auch die EKRE für ihre Ziele zunutze | |
zu machen. Die Partei geriert sich als euroskeptisch, antiglobalistisch | |
sowie als Hüterin der sogenannten traditionellen Familienwerte. | |
Einkommensschwache Schichten werden mit der Forderung nach einer Senkung | |
der Mehrwertsteuer für Lebensmittel bedient. Die Lebenshaltungskosten haben | |
sich stark erhöht, mit einer Inflationsrate von 18 Prozent nimmt Estland in | |
Europa einen Spitzenplatz ein. | |
Der Regierung wirft EKRE vor, durch ihr Engagement für die Ukraine die | |
eigene Verteidigungsfähigkeit zu gefährden. Und sie hetzt nicht nur gegen | |
Migrant*innen, sondern macht auch gegen ukrainische [3][Geflüchtete] mobil, | |
von denen Estland rund 50.000 aufgenommen hat. Beobachter*innen werten | |
dies als Versuch, auch unter Angehörigen der russischen Minderheit Stimmen | |
abzugreifen. | |
## Parteien werben um Stimmen der russischen Minderheit | |
Die ist auch die bevorzugte Klientel der Bewegung KOOS (Zusammen), die im | |
Verbund mit der Vereinigten Linkspartei bei der Wahl antritt. Einer der | |
beiden Chefs, Aivo Peterson, reiste unlängst zu einem Solidaritätsbesuch in | |
die von russischen Truppen besetzten Gebiete im Osten der Ukraine. Der | |
zweite Mann im Bunde, Oleg Iwanow, verbreitet Agit-Prop | |
(Agitations-Propaganda) des Kreml in Reinkultur. | |
An diesem Tag macht er Wahlkampf im Tallinner Stadtteil Lasnamäe – einer | |
tristen Plattenbausiedlung, wo die überwiegende Mehrheit der | |
Bewohner*innen Russischsprachige sind. Er und seine Bewegung seien für | |
Frieden, Neutralität, gute nachbarliche Beziehungen sowie gleiche Rechte | |
für alle Bürger*innen. Doch in Estland seien Russ*innen Bürger*innen | |
zweiter Klasse. Sie bekämen keine gute Ausbildung, sagt Iwanow. Damit | |
spielt er auf die [4][Bildungsreform] an. Am Ende eines mehrjährigen | |
Prozesses soll der Unterricht, angefangen von den Kindergärten, in allen | |
Klassenstufen allgemeinbildender Schulen ausschließlich auf Estnisch | |
erfolgen. | |
Auch was den Krieg angeht, ist Iwanows Sicht der Dinge eindeutig: „Alle | |
anderen Parteien sind Verräter. Sie wollen Estland in diesen Krieg | |
hineinziehen und in die Zerstörung führen“, sagt er. Um den Krieg zu | |
beenden, brauche es zwei Anrufe in Kyjiw – einen aus Washington, den | |
anderen aus Großbritannien. In Estland würden Menschen, die die KOOS | |
unterstützen, mit Kündigung bedroht. Dann richtet er noch eine Grußadresse | |
an die Linkspartei und die AfD. In Deutschland gebe es jetzt ja endlich | |
auch Demonstrationen für den Frieden. „Das sind mutige und kluge Leute“, | |
sagt Iwanow. | |
Jüngsten Prognosen zufolge kommen die KOOS/Vereinigte Linke auf gerade mal | |
zwei Prozent der Stimmen. „Diese Leute sind Clowns, eine komplett marginale | |
Gruppe. Sie sind das Einzige, was Russland erreichen konnte, ein | |
Misserfolg“, sagt Anvar Samost, Nachrichtenchef beim öffentlich-rechtlichen | |
Sender ERR. | |
Von der Wahl erwartet er keine Überraschungen. 60 Prozent der gewählten | |
Abgeordneten würden altbekannte Gesichter sein. Auch seien wieder, wie | |
bereits in der Legislaturperiode ab 2019, wechselnde Koalitionsregierungen | |
zu erwarten. | |
Den Vorwurf, die Integration der russischen Minderheit sei gescheitert, | |
will Samost nicht gelten lassen. „Viele haben mittlerweile gelernt, was | |
Kapitalismus und eine freie Gesellschaft bedeuten. Der Krieg gegen die | |
Ukraine wird ihren Blick abermals ändern.“ Alles in allem sei Estland auf | |
dem Weg der Normalisierung, sagt er. Und das ist an sich wohl schon eine | |
gute Nachricht. | |
5 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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