# taz.de -- Reform des Wahlrechts: Ampel gegen Sachverstand | |
> Am Freitag beschließt der Bundestag wohl das umstrittene neue Wahlrecht. | |
> Die Ampel beruft sich auf den Rat von Sachverständigen. | |
Bild: Und raus bist du: Linke und CSU könnten ihre Sitze im Bundestag verlieren | |
BERLIN taz | Union und Linkspartei geben sich weiter empört, helfen wird es | |
ihnen aber kaum noch: Mit den Stimmen der Ampel-Fraktionen wird der | |
Bundestag am Freitag voraussichtlich das neue Wahlrecht beschließen. Teil | |
der Reform: Der bisher übliche Umweg um die 5-Prozent-Hürde herum wird | |
versperrt. Gestrichen wird die Grundmandatsklausel, durch die Parteien in | |
den Bundestag kommen, auch wenn sie bundesweit weniger als 5 Prozent der | |
Zweitstimmen erhalten – sofern in einzelnen Wahlkreisen ihre | |
Direktkandidat*innen die meisten Stimmen bekommen. | |
Künftig könnte es passieren, dass die CSU dutzende Wahlkreise in Bayern | |
gewinnt und [1][bei der Mandatsverteilung trotzdem leer ausgeht]. Hätten | |
die neuen Regeln schon bei der letzten Wahl gegolten, wäre schon jetzt die | |
Linke nicht mehr im Parlament. Erst am Montag hatten die | |
Regierungsfraktionen überraschend diese Änderung in ihrem ursprünglichen | |
Gesetzentwurf präsentiert. Zur Begründung verweisen sie seitdem immer | |
wieder auf eine [2][Sachverständigenanhörung im Innenausschuss], bei der im | |
Februar zehn Expert*innen vornehmlich aus der Rechtswissenschaft die | |
ursprünglichen Pläne bewerteten. | |
„Wir haben von Expert*innen bei der Anhörung die eindeutige Rückmeldung | |
erhalten, dass die Grundmandatsklausel systemwidrig ist“, sagte die | |
Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Katja Mast. Um die | |
Wahlrechtsreform verfassungsfest zu machen, sei es ratsam, die Klausel | |
abzuschaffen. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann sagte, die Regelung | |
wäre ein „Fremdkörper im System“ gewesen. „Das ist das, was bei der | |
Anhörung Thema war und was aufgegriffen wurde.“ Im Deutschlandfunk | |
behauptete auch FDP-Vize Johannes Vogel, die Streichung sei „eine Reaktion | |
auf die Anhörung“. | |
Doch taz-Recherchen zeigen: Das Stimmungsbild unter den Expert*innen war | |
in der Frage nicht nur während der Sitzung im Februar geteilt. Auf | |
Nachfrage spricht sich jetzt sogar eine Mehrheit der Sachverständigen gegen | |
die ersatzlose Streichung der Grundmandatsklausel aus. Würde der Bundestag | |
vor der Abstimmung eine neue Anhörung durchführen, wäre das Echo für die | |
Ampel-Fraktionen verheerend: Aus verschiedenen Gründen lehnen fast alle der | |
Sachverständigen die Reform in ihrer jetzigen Form ab. | |
## „Beibehaltung unabdingbar“ | |
In einem gemeinsamen Gutachten für die Anhörungen plädierten im Februar die | |
von der Ampel vorgeschlagenen Rechtwissenschaftler*innen Jelena von | |
Achenbach, Florian Meinel und Christoph Möllers dafür, die Klausel | |
beizubehalten, um die Chancengleichheit im politischen Wettbewerb zu | |
wahren. Die Beibehaltung sei für die Glaubwürdigkeit des Entwurfs | |
„unabdingbar“. Nur eine ergebnisneutrale Reform stelle sicher, dass die | |
zustimmenden Parteien nicht auch ihre eigenen politischen Interessen | |
verfolgten. Mit anderen Worten: Es läge sonst der Verdacht nahe, dass SPD, | |
Grüne und FDP eine Reform zum eigenen Vorteil durchpauken. | |
Den Einwand, dass die Grundmandatsklausel dem System der Verhältniswahl | |
widerspreche, ließ das Trio in seinem Gutachten nicht gelten. „Die | |
Fortschreibung der Grundmandatsklausel steht nicht im Widerspruch zum | |
System der Verhältniswahl“, heißt es dort. Sie sei „verfassungsrechtlich | |
auch künftig gut zu rechtfertigen“. | |
Fühlen sich die drei Jurist*innen übergangen, ist der Ampel-Verweis auf | |
die Sachverständigen nur vorgeschoben? Meinel möchte sich öffentlich nicht | |
äußern, Möller und von Achenbach verweisen auf das gemeinsame Gutachten. | |
Sie sehe keinen Anlass zur Änderung der damaligen Stellungnahme, so von | |
Achenbach gegenüber der taz. | |
## „Kein schöner Zug“ | |
Der Frankfurter Rechtswissenschaftler Uwe Volkmann, im Februar von den | |
Grünen geladen, hält es sogar für möglich, dass das neue Wahlrecht ohne die | |
Klausel vor dem Bundesverfassungsgericht scheitert. Eindeutig sei die Sache | |
zwar nicht, schreibt er in dieser Woche [3][in einem Beitrag für den | |
Verfassungsblog]. Aber: „Das Störgefühl, das viele hier empfinden werden, | |
hat das Verfassungsgericht in anderen Fällen ausgesprochen kreativ agieren | |
lassen.“ Argumente für die Verfassungswidrigkeit ließen sich finden. | |
Abgesehen von der Frage der Rechtmäßigkeit sei die Streichung „kein schöner | |
Zug, vielleicht nicht mal ein besonders kluger“. | |
## „Letztlich eine politische Entscheidung“ | |
Nicht juristisch bewerten will der von der SPD geladene Sachverständige | |
Friedrich Pukelsheim die Streichung. Er sei Mathematiker und konzentriere | |
sich „auf die Frage, ob die Systeme in sich schlüssig und verfahrensfest | |
sind“, sagt er auf Anfrage. In seinem Gutachten für die Februar-Anhörung | |
hatte er geschrieben, es spräche für „den fairen Kollegialitätssinn des | |
Ampelentwurfs, die Grundmandatsklausel in modifizierter Form | |
beizubehalten“. Ohne sie funktioniere das System aber auch, meint er jetzt. | |
Letztlich gehe es aber um eine politische Entscheidung, die „dann auch | |
politisch verantwortet werden muss“. | |
## „Keine Bedenken gegen die Beibehaltung“ | |
Die Linkspartei hatte den Berliner Rechtswissenschaftler Tarik Tabbara | |
geladen. Er hatte sich während der Anhörung auf ein von der Linken | |
gefordertes Ausländerwahlrecht konzentriert. Zur Grundmandatsklausel sagt | |
er jetzt, dass er „gegen die Beibehaltung keine verfassungsrechtlichen | |
Bedenken“ gehabt hätte. Die Klausel könne „problematische Aspekte der | |
Fünfprozenthürde etwas abmildern und ärgste Schlaglöcher in der | |
Repräsentation des regional ausdifferenzierten Wählerwillens vermeiden | |
helfen“. Und das Ampel-Argument der Systemwidrigkeit? „Die aktuelle Debatte | |
zeigt, dass hinter so neutral daherkommenden Argumenten politische | |
Interessen stehen können“, sagt er. | |
## „Höchst unplausibel“ | |
Der von der Union vorgeschlagene Jurist Bernd Grzeszick hält die | |
Ampel-Behauptung, dass die Anhörung im Februar zur Streichung geführt habe, | |
für „höchst unplausibel“. Kontrovers diskutiert worden sei die Klausel | |
schon bei vorherigen Anlässen. Das Thema kann den Fraktionen also nicht neu | |
gewesen sein. „Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Streichung | |
überhastet vorgenommen wurde, nun aber rechtliche und politische Probleme | |
bereitet und die Verantwortung dafür ein Stück weit gescheut wird“, sagt | |
Grzeszick. | |
Inhaltlich hätte er es zwar für verfassungsrechtlich problematisch | |
gehalten, wenn die Klausel unverändert erhalten geblieben wäre. Das gelte | |
aber auch für die vollständige Streichung. Als möglichen Ausgleich für die | |
Abschaffung schlägt er „die Absenkung der 5-Prozent-Hürde oder deren | |
Föderalisierung“ vor. | |
## „Vorschlag verfassungswidrig“ | |
Kritik an der Klausel kam während der Anhörung ironischerweise auch von | |
zwei weiteren von CDU und CSU vorgeschlagenen Expert*innen. Die Klausel sei | |
im neuen Wahlsystem „verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar“, schrieb | |
Philipp Austermann in seinem Gutachten. Sie lasse sich „rechtlich nicht | |
widerspruchsfrei begründen“, sagte Stefanie Schmahl. | |
Beide halten die Ampelpläne aber unabhängig davon für falsch, da | |
Wahlkreis-Sieger*innen auch dann ohne Mandat bleiben können, wenn ihre | |
Parteien die 5-Prozent-Hürde knacken. „Aus meiner Sicht ist bereits der | |
Grundansatz des Reformvorhabens problematisch, da es das Direktmandat | |
entwertet“, schreibt Schmahl auf Anfrage. Ähnlich formuliert es Austermann. | |
So bestehe „das zur Verfassungswidrigkeit des Vorschlages führende Problem | |
darin, dass alle Direktmandate künftig durch Zweitstimmen ‚gedeckt‘ sein | |
müssen. Dieser Gleichheitsverstoß macht den Vorschlag verfassungswidrig.“ | |
## „Passt zur Logik der Reform“ | |
Am Ende bleibt von zehn Sachverständigen nur noch eine übrig, die der | |
Wahlrechtsreform der Ampel vorbehaltlos ihren Segen gibt. Während der | |
Anhörung sagte die von der SPD nominierte Rechtswissenschaftlerin Sophie | |
Schönberger, sie hätte zwar „persönlich ein anderes Modell lieber gehabt�… | |
In der seit Jahren andauernden Reformdebatte durchschlage der Entwurf aber | |
einen „gordischen Knoten“ und „plausible Einwände“ sehe sie nicht. In … | |
Welt verteidigt sie jetzt auch den Wegfall der Grundmandatsklausel. „Er | |
passt zu der Logik der Reform, die den Übergang zum Verhältniswahlrecht | |
gemäß den Zweitstimmenanteilen vollzieht“, sagt sie dort. | |
Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Textes stand, auch die AfD | |
werde den Gesetzesentwurf ablehnen. Tatsächlich hatte sie aber angekündigt, | |
sich zu enthalten. | |
16 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Wahlrechtsreform-der-Ampelkoalition/!5918772 | |
[2] /Anhoerung-zur-Wahlrechtsreform/!5910745 | |
[3] https://verfassungsblog.de/kein-schoner-zug/ | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
Anna Lehmann | |
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