# taz.de -- Gewalt gegen Frauen in der Türkei: Wo der Staat den Schutz verweig… | |
> Vor zwei Jahren trat die Türkei aus der Istanbul-Konvention aus. Doch | |
> ernst gemeint hat das Land es nie damit, Frauen vor Gewalt zu schützen. | |
Bild: Demonstrierende am Internationalen Frauentag in Istanbul | |
Es ist tragisch: Dass der Europarat heute ein „Übereinkommen zur Verhütung | |
und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“ hat, ist auch den Frauen in der | |
Türkei zu verdanken. Das Übereinkommen heißt im allgemeinen Sprachgebrauch | |
[1][„Istanbul-Konvention“]. Und dennoch ist die Türkei vor zwei Jahren aus | |
der Istanbul-Konvention ausgetreten – während Männer im Land im Schnitt | |
jeden Tag einen Femizid begehen. | |
Um zu verstehen, wie das passieren konnte, lohnt sich ein Blick auf die | |
Geschichte der Konvention. Die Türkei war 2011 Erstunterzeichnerin und | |
hatte sogar erreicht, die Unterzeichnung in Istanbul stattfinden zu lassen. | |
Das war kein Zufall. Denn einer der [2][Gründe für das Zustandekommen des | |
Übereinkommens war ein Fall aus der Türkei]. | |
Am 9. Juni 2009 [3][urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte | |
(EGMR) im Fall Nahide Akgün]. Seit den 1990er Jahren hatte sie, damals noch | |
mit Nachnamen Opuz, immer wieder Anzeige gegen ihren Mann erstattet – | |
insgesamt 36-mal. Trotzdem war Akgün weiter seiner systematischen Gewalt | |
ausgesetzt. | |
Hüseyin Opuz bedrohte sie mit dem Tod, fuhr sie mit seinem Auto an, stach | |
auf sie ein. Nur zweimal wurde er zu vergleichsweise geringen Strafen | |
verurteilt. Mehrfach wurden die Anzeigen wegen Mangels an Beweisen | |
fallengelassen. 2002 beschloss Akgüns Mutter Minteha Beybur, mit ihr nach | |
Izmir umzuziehen. Doch Hüseyin Opuz verfolgte den Möbeltransporter und | |
erschoss Beybur auf dem Beifahrersitz. | |
## Nicht ausreichend geschützt | |
Im Jahr 2008 wurde Hüseyin Opuz zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt. | |
Doch das Gericht reduzierte seine Strafe auf 15 Jahre und 10 Monate sowie | |
eine Geldstrafe von 180 Lira. Der Grund: Opuz’ Handeln sei das „Resultat | |
von Provokation“ gewesen, zudem habe er vor Gericht gute Führung gezeigt. | |
Wegen der bereits in Untersuchungshaft verbrachten Zeit und seiner | |
eingelegten Berufung wurde Opuz auf freien Fuß gesetzt. | |
Der türkische Staat hatte Akgün nicht ausreichend geschützt. Zu diesem | |
Schluss kam der EGMR und sprach damit erstmals einen Staat schuldig, und | |
zwar wegen mangelnden Einsatzes zur Eindämmung häuslicher Gewalt. Ebenfalls | |
zum allerersten Mal urteilte der Gerichtshof, dass geschlechtsspezifische | |
Gewalt gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Form von | |
Diskriminierung ist. Die türkische Regierung musste Nadihe Akgün 36.500 | |
Euro zahlen. | |
Dieses Urteil sorgte für Aufruhr. Wenig verwunderlich, dass der Türkei | |
daran gelegen war, sich im eigenen Land wie auch international wieder in | |
ein positiveres Licht zu rücken. Doch eine echte Umsetzung des | |
Gewaltschutzes hat es nie gegeben. Das zeigt schon die Anzahl der Femizide | |
im Land – also der Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Einzig und allein | |
im Unterzeichnungsjahr 2011 ging die Zahl zurück. | |
## Gewalt nimmt rapide zu | |
So lückenhaft der Schutz auch war: Ohne ihn nimmt die Gewalt noch viel | |
rapider zu. Im Jahr des Austritts 2021 wurden nach Angaben der | |
[4][Plattform „Wir werden Femizide stoppen“] 280 Frauen von Männern | |
ermordet. Bei weiteren 271 Todesfälle stand der Verdacht im Raum, dass es | |
sich um Femizide handelte – etwa, wenn Frauen während eines Streits mit dem | |
Partner angeblich „plötzlich“ vom Balkon gesprungen sein sollen. | |
Nur ein Jahr später waren es bereits 334 Femizide und 245 Verdachtsfälle. | |
Viele dieser ermordeten Frauen wurden von ihren Partnern in ihrem Zuhause | |
getötet, obwohl sie zuvor versucht hatten, Schutz zu bekommen. All diesen | |
Realitäten zum Trotz erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan: | |
„Unser Kampf gegen Gewalt an Frauen hat nicht mit der Istanbul-Konvention | |
angefangen und endet auch nicht mit dem Rückzug aus dieser Konvention.“ | |
## Schulterschluss mit Radikalen | |
Der Istanbul-Konvention beizutreten war vor allem ein symbolischer Akt. | |
[5][Und so war der Austritt letztlich nur konsequent]. Erdoğan gibt | |
inzwischen wenig auf die Zustimmung der Menschen. Immerhin waren 84 Prozent | |
der Bevölkerung gegen den Rückzug aus dem Übereinkommen, darunter auch | |
viele konservative Frauen. | |
Wichtiger ist der Regierung offenbar der Schulterschluss mit radikalen | |
religiösen und auch nationalistischen Kräften, für die die | |
Gleichberechtigung von Frauen vor allem eine Bedrohung der traditionellen | |
Familie bedeutet. Und nicht zuletzt war der Schritt für Erdoğan eine | |
weitere Machtdemonstration gegenüber einer demokratischen | |
Zivilgesellschaft. | |
Der türkische Rückzug aus dem Übereinkommen wurde von vielen | |
Demonstrationen flankiert. Die Plattform „Wir werden Femizide stoppen“ | |
stellt klar: „Wir kämpfen für eine Zukunft, in der die Gewalt nicht | |
zunimmt, sondern verschwunden sein wird und in der Frauen frei leben | |
können. Wir werden die Istanbul-Konvention Wirklichkeit werden lassen.“ | |
Doch angesichts der bestehenden Machtverhältnisse ist diese Zukunft in | |
weiter Ferne. Die [6][kommende Präsidentschaftswahl] ist somit auch eine | |
über die Rechte von Frauen. | |
9 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Fuenf-Jahre-Istanbul-Konvention/!5912016 | |
[2] https://www.coe.int/de/web/impact-convention-human-rights/-/the-landmark-ju… | |
[3] https://hudoc.echr.coe.int/fre#%7B%22itemid%22:%5B%22001-92945%22%5D%7D | |
[4] /NGOs-in-der-Tuerkei/!5846593 | |
[5] /Tuerkei-tritt-aus-der-Istanbul-Konvention-aus/!5759872 | |
[6] /Wahlen-in-der-Tuerkei-2023/!t5908345 | |
## AUTOREN | |
Gamze Kafar | |
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