Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Pfeilscharf am Punkt vorbei
> Ein neuer Trend erobert Deutschlands Küchen – oder sind es nur
> Identitätspolitik und Gender-Ideologie, die alle zum Kochen bringen?
Bild: Noch messerscharf auf den Garpunkt gebracht: lecker Schweinshaxe, fettrei…
Völlig gleich, ob knapp verfehlt oder weiträumig drumherum gekurvt:
Hauptsache, am Punkt vorbei gegart! Dieser neue kulinarische Trend, der
gerade die Restaurantküchen landauf wie landab erobert, mag übergeschnappt
klingen. Doch er entspricht nur der gastronomischen Tendenz der vergangenen
Jahre, den Gästen immer wieder radikal ungewöhnliche Geschmackserlebnisse
zu bieten. Da mögen argwöhnische Stimmen noch so sehr munkeln, dass in
Wahrheit neumodische Gender-Ideologie und identitätspolitisches Täterätä
hinter dem gehypten Trend stecken!
Die bisherige Modelogik war jedenfalls die der größtmöglichen Kontraste:
Nach der artifiziellen Molekularküche der Nullerjahre kamen bald die
unverarbeiteten Früchte des Waldes; auf raffinierte Schäumchen, Gelees und
Essenzen folgten in den 2010er Jahren rohe Wildkräuter, pures Moos und
nackte Steine – möglichst schlammverkrustet und direkt aus der Natur. Dank
unserer Fernsehköche der vergangenen 30 Jahre ist Kulinarik inzwischen auch
ein allgegenwärtiges Thema: Keine Mittelschichts-Partygesellschaft geht
mehr auseinander, ohne dass ein paar aufregende Rezepte mit Rote Bete,
Ziegenkäse und Honig-Walnuss-Crunch ausgetauscht worden wären.
Vor allem haben die Stars der Fernsehküche dafür gesorgt, dass gebildete
Menschen nichts anderes mehr auf ihre Teller lassen als präzise auf den
Punkt zubereitete Steaks, Fische und Meeresfrüchte – höchstens noch
entsprechend gegartes Gemüse. Zwar war immer schon fraglich, woher
Menschen, die nie zuvor eine Jakobsmuschel aßen, plötzlich einzuschätzen
wussten, wo der spezifische Punkt dieser Muschel sein sollte. Immerhin aber
wurde mit der Rede vom „perfekten Punkt“, auf den hin gegart wurde, oft
erfolgreich Kennerschaft simuliert. So konnten in der alltäglichen
Konversation mit Unterschichtlern entscheidende Distinktionspunkte
eingefahren werden, auch wenn es nur um die „präzise“ auf den Punkt
gebratene Currywurst ging.
Außerdem hat die allmähliche Verbreitung des Wissens und Redens über den
idealen Garpunkt dazu geführt, dass lediglich noch die allergröbsten
Barbaren ihr Steak und ihren Lachs durchgebraten haben mochten.
„Durchgebraten, nach Art einer Schuhsohle, wollen in meinem Restaurant
wirklich nur die hirnverbranntesten Idioten ihr teures Steakfleisch“, sagt
Fernsehkoch Wilson Meyer lachend. Denn Krethi, Plethi und der Rest des
Mainstreams wissen inzwischen, dass „innen noch rosa“ für Qualität,
Saftigkeit und Geschmack steht und auch ein leicht blutiger Kern noch
niemandem geschadet hat – „außer natürlich dem Rind“, kichert Meyer und
verschwindet schnell in der Küche.
## Kulinarisches Geheimwissen
Dies schmerzt all jene, die gern am Stammtisch oder in Gastronomiekritiken
mit kulinarischem Geheimwissen protzen. Deshalb scheint die Zeit nun
tatsächlich reif für beinhart oder auch unüberschaubar weit am Punkt vorbei
Zubereitetes zu sein. Echte Könner der Kochkunst wie Wilson Meyer versuchen
dabei, möglichst nah am Punkt vorbei, gerade soeben über den Punkt hinaus
oder ganz knapp vor den Punkt zu garen oder zu braten. „Zwar ist der Punkt
oft ziemlich breit, zum Beispiel beim Schmorbraten vom alten Bison, dem
Hauptgang meines neuen Degustationsmenüs, doch wichtig ist, dass ich ihn um
Haaresbreite verfehle“, bekennt der Meister. „Andererseits: Meilenweit
vorbei ist auch vorbei! Das entscheide ich spontan.“
Während der Trend in immer mehr gehobenen Amateurküchen ebenfalls Raum
greift, zirkuliert allerdings in gewissen Kreisen der böse Verdacht, dass
es sich in Wirklichkeit um ein identitätspolitisches Manöver handelt. „Auf
dem zentralen Schlachtfeld zwischen Mann und Frau, in der Küche, soll die
dringend benötigte Eindeutigkeit abgeschafft werden“, schimpft
Männerrechtler Jochen Burgwall vom Verein „Hinterrücks hintergangene Männer
e. V.“ im baden-württembergischen Klüsingen. „Die Gendersternchen-Fans
wollen uns unser Essen verderben, um mit Gewalt ihr zentrales Ideologem in
unser Bewusstsein zu hämmern: nämlich dass es mehr als zwei Geschlechter
gibt!“
## Halbgares Gemüse
Was wiederum schon biologisch nicht stimme und sowieso unmöglich sei, wie
jede Grundschülerin wisse und auch in jeder rechtsgerichteten Tageszeitung
auf der Naturwissenschaftsseite stehe. So wie der ideale Garpunkt
neuerdings absichtlich in den Dreck getreten werde, missbrauchten
Feministinnen und andere Furien mit ihrem Gender-Wahnsinn eben auch die
bewährte deutsche Sprache unserer Väter. „Halbgares Gemüse, vollkommen
weichgekochtes Fleisch, gleichberechtigte Frauen: Das schmeckt mir alles
ganz und gar nicht“, schüttelt sich Burgwall vor Ekel.
„Roh oder auf den Punkt – mehr gibt es bei mir beim Kochen nicht!“,
bestätigt auch Hilda Waysrite, christliche Foodbloggerin aus Hannover.
„Alles andere ist transsexuelle Ideologie, die sämtliche Unterschiede
verwischen und unsere unschuldigen Kinder anfällig für geschlechtliche
Zwischentöne machen soll.“
Dass diese verquere Ideologie nichtsahnenden Menschen am Esstisch
verabreicht wird, ärgert Burgwall am meisten: „Wer als Halbwüchsiger diese
bittere Pille schluckt, akzeptiert als Erwachsener auch Homosexualität und
Transidentität. Im Übrigen gehört Steakfleisch auf den Punkt
durchgebraten!“
Der neueste Kochtrend kriegt also soeben jede Menge Kontra. Ob er sich aber
auf lange Sicht durchsetzen kann, wissen wir erst, wenn darüber auch einmal
bei „Hart aber fair“ diskutiert worden ist. „Hoffentlich sind dann nicht
wieder nur links-grüne Klimahysterikerinnen eingeladen“, hofft die
Foodbloggerin. Denn: „Gerechtigkeit kommt immer auf den Punkt.“
1 Mar 2023
## AUTOREN
Mark-Stefan Tietze
## TAGS
Essen
Ernährung
Trend
Kolumne Die Wahrheit
Jugend
IG
Nutella
Die Wahrheit
Brot
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Bestes Haar, beste Unterhaltung
Das Kopfgewöll muss nach dem Winter herunter. Wie schön, dass der Friseur
Zeit hat und zudem eine Bühne für allerlei Dampfplaudereien bietet.
Die Wahrheit: Hippe Omapraline für Klimaschlecker
Süßer Ungehorsam gegen alte weiße Männer: Die Klebe-Generation M
protestiert neuerdings gegen alles und jeden mit Retro-Schokokitsch.
Die Wahrheit: Amorphes Durcheinander
Labskaus, Saumagen, Matschepampe: Über das Abstoßende als die gültige
Konstante deutscher Nationalküche.
Die Wahrheit: Wird Nutella mit Butter verboten?
Streichfett unterfütterte Nuss-Nougat-Creme: Ein umstrittener
Doppelbrotaufstrich gerät ins Visier grüner Cancel Culture.
Die Wahrheit: Wer sie nicht mag, hat zero Taste
Verfemt, geliebt, gegrillt: Die Zucchini ist schon wieder zum Gemüse des
Jahres gewählt worden. Und das zu Recht!
Die Wahrheit: Zäher als sein Ruf
Deutsches Brot bekommt immer schlechtere Noten, besonders im eigentlich
brotaffinen Ausland. Ein schockierender Bericht aus dem Weltbackofen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.