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# taz.de -- Die Wahrheit: Bestes Haar, beste Unterhaltung
> Das Kopfgewöll muss nach dem Winter herunter. Wie schön, dass der Friseur
> Zeit hat und zudem eine Bühne für allerlei Dampfplaudereien bietet.
Bin gestern auf dem Weg zum Rewe an meinem Friseur vorbeigekommen und habe
beim Blick durch die Scheiben erkannt, dass die Gelegenheit nicht günstiger
sein könnte. Lediglich zwei Männer saßen auf dem Eckwartebänkchen gegenüber
der Kasse, während Halil, der Chef, einem dritten soeben den Nacken fertig
ausrasierte.
Zum einen bedeutete dies, dass ich rasch drankommen würde, was in diesen
Tagen, in denen sich eine jede Kreatur ihres Winterfells entledigen wollte
und die Friseursalons vollgestopft wie Ärztewartezimmer waren, bereits ein
Frühlingswunder an sich darstellte. Zum anderen würde ich nach langer Zeit
die Gelegenheit haben, vom Meister persönlich bedient zu werden, was
angesichts der Struppigkeit des Kopfgewölls, das sich mir in den
vergangenen Tagen im Spiegel gezeigt hatte, wahrscheinlich die beste aller
Lösungen war.
Ich also nichts wie rein, denn mein Friseurladen heißt „Best Hair“, mit
viel weniger würde ich mich üblicherweise auch nicht zufriedengeben. Musste
ich in der Vergangenheit allerdings gelegentlich, da der Salon ständig voll
ist, das Personal dort rege fluktuiert und der erzsympathische Chef, Garant
für die sichere Erfüllung des Claims, nur alle drei bis vier Besuche zur
Verfügung steht.
Dieses Mal lohnte sich die Mühe, den Lesezirkel-Spiegel beiseite zu legen
und mich unter seine Schere zu begeben, vollständig. Halil war blendender
Laune und tat gleich zu Beginn in scherzhafter Absicht so, als würde er
mich mit irgendeinem Lokalpolitiker verwechseln, was mir die Chance
eröffnete, aus einer mafiabossähnlichen Pose heraus gleichfalls scherzhafte
Reden zu schwingen, und einen weiteren Mann, der nach mir auf dem
Wartebänkchen Platz genommen hatte, dazu bewegte, einfach besinnungslos
mitzusprechen und zu -kichern, damit unser aller Gagfeuerwerk nicht
versiegte noch verpuffte.
Während Halil um mich herumtänzelte und meine Locken zu Fall brachte,
schnitt der wartende Mann auf der Bank ein heißes Thema quasi wie mit der
Brennschere an, nämlich die vielen Oberbürgermeisterwahlen, die unsere
Stadt jüngst gebeutelt, ja regelrecht gepiesackt hatten: von der
skandalbedingten Abwahl des einen schon vor Monaten bis zur gerade erst
erfolgten Stichwahl, die schließlich einen ganz anderen begünstigt hatte.
Der Friseur war klug genug, so zu tun, als hätte er von dem gesamten Thema
noch nie gehört, was dem dritten Mann die Möglichkeit verschaffte, als
Politikexperte zu brillieren, und mir die Gelegenheit, stillvergnügt in
mich hineinzuschmunzeln, während die Zeit wie im Flugsimulator an uns
vorbeiraste.
Leider verabsäumte ich dabei, hin und wieder in den Spiegel zu schauen,
sodass ich hinterher mit einer krassen Kurzhaarfrisur dastand, mit der ich
mich jetzt nicht mehr unter Leute traue. Aber die Unterhaltung war
exzellent; ich gehe gleich nächste Woche wieder hin, Spitzen nachschneiden.
4 Apr 2023
## AUTOREN
Mark-Stefan Tietze
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Haare
Frühling
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Jugend
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Essen
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